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Ausgabe:

Januar/2010

Spalte:

47-49

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Baum, Armin D.

Titel/Untertitel:

Der mündliche Faktor und seine Bedeutung für die synoptische Frage. Analogien aus der antiken Literatur, der Experimentalpsychologie, der Oral Poetry-Forschung und dem rabbinischen Traditionswesen.

Verlag:

Tübingen: Francke 2008. XVII, 526 S. 8° = Texte und Arbeiten zum Neutestamentlichen Zeitalter, 49. Kart. EUR 78,00. ISBN 978-3-7720-8266-5.

Rezensent:

Werner Kahl

Armin D. Baum, Dozent für Neues Testament an der Freien Theologischen Hochschule Gießen, informiert im Vorwort darüber, dass das vorliegende Werk als Habilitationsschrift an der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg abgelehnt worden ist. Einige Kapitel des Buches sind bereits in leicht veränderter Form anderweitig publiziert worden.
B. widmet sich der Aufgabe, die Übereinstimmungen und Un­terschiede zwischen den synoptischen Evangelien durch die Wirkung mündlicher Überlieferungsprozesse plausibel zu machen.
In Kapitel A (7–84) bietet B. zunächst eine statistische Bestandsaufnahme des synoptischen Materials in verschiedenster Hinsicht, wobei er sich im Wesentlichen an die Analysen hält, wie sie in R. Morgenthalers Statistische(r) Synopse von 1971 vorliegen. In absoluten Zahlen sowie prozentual erfasst B. synoptische Übereinstimmungen in der Stoffauswahl, der Stofffolge und im Wortlaut sowie Unterschiede in der Wortlautidentität und er schließt mit Beobachtungen zur Stilistik und zur Paraphrasentechnik. Aufgrund dieser Analysen ergibt sich ihm eine Reihe von Fragen, die zugleich Anfragen an die Zweiquellentheorie sind und die den weiteren Verlauf der Untersuchung strukturieren, u. a.: Wenn die durchschnittliche synoptische Wortlautidentität (Tripel- und Doppeltraditionen) bei 43 % liegt, so stelle sich die Frage danach, warum bei Annahme eines literarischen Benutzungsverhältnisses die Evangelisten den Wortlaut ihrer Vorlagen in so geringem Umfang reproduziert haben. Wie sind die sog. positiven Minor Agreements – B. setzt mit A. M. Honoré eine Anzahl von 637 voraus – zu erklären? Wie kommt es zu der erheblichen Streuung der Einzelwerte für die Wortlautidentität des synoptischen Parallelstoffs, also dazu, dass die Synoptiker ihre Vorlagen äußerst uneinheitlich (10–90 %) übernommen haben? Warum liegt die Wortlautidentität bezüglich der Reden Jesu höher als im Erzählstoff, aber niedriger als 80 %?
Die darauffolgende Übersicht über die von B. im weiteren Verlauf bemühten Analogien (56–78) ermangelt einer methodologischen Reflexion. In einem Exkurs deutet B. den Lukasprolog (Lk 1,1–4) im Sinne seiner Intention, wenn er sehr einseitig und ohne Auseinandersetzung mit der relevanten exegetischen Forschungslage behauptet, dass Lukas ausschließlich »die Überlieferung der Augenzeugen (1,2) als seine Quelle bezeichnet« (83). Diese unausgewogene und geradezu unkritische Vorgehensweise ist symptomatisch für das Hauptkorpus der Untersuchung, in dem sich B. auf Analogien zum synoptischen Befund bzw. auf Erkenntnisse aus den folgenden Bereichen bezieht: Antike Literatur (Kapitel B: 87–159), Gedächtnispsychologie (Kapitel C: 162–258), Experimentalpsychologie und Oral Poetry-Forschung (Kapitel D: 259–304) sowie Rabbinische Überlieferung (Kapitel E: 305–361).
Ein Vergleich der Wortlautidentität des Chronisten in Bezug auf die Königsbücher (bis zu 80 %) und von Josephus in Bezug auf seine Vorlagen (10–30 %: zurückgeführt auf sein Stilideal) mit den Synoptikern ergibt, dass es in der jüdischen Literatur der Antike ein breites Spektrum von Möglichkeiten des Umgangs mit Quellenschriften gab. Aus der griechischen Literaturgeschichte führt B. zwei Rezensionen zum Alexanderroman an, deren Vorlage freilich nicht zur Verfügung steht. Aus der Beobachtung, dass die Rezension β den Wortlaut ihrer angenommenen Vorlage zu mehr als 55 % beibehalten und sie insgesamt relativ einheitlich überarbeitet hätte, ergibt sich für B. die Frage nach dem Grund für die Uneinheitlichkeit der synoptischen Bearbeitung des Markusevangeliums im Allgemeinen und für den Befund, dass die Reden Jesu um rund 20 % wörtlicher als die Erzählstoffe wiedergegeben sind, im Besonderen. Auf diesem Hintergrund problematisiert B. synoptische Dokumentenhypothesen, die eine literarische Beziehung voraussetzen, denn – so schlussfolgert B. – »[w]enn die Evangelisten einerseits nicht dem Stilideal eines Josephus verpflichtet waren und andererseits ihren Jesusworten (und -geschichten) eine ganz andere religiöse Qualität zumaßen als die Rezensenten des Alexanderromans ihrem Stoff« (157, im Original kursiv), dann hätten sie eigentlich dem Wortlaut ihrer Vorlage ähnlich treu folgen müssen wie die alttestamentlichen Geschichtsschreiber. Aus diesen Gründen würde sich bereits nahelegen, für die synoptischen Evangelien eher mündliche Quellen anzunehmen.
Diese Schlussfolgerung ist in mindestens zweifacher Hinsicht problematisch: 1. Die Annahme einer quasi heiligen und deshalb unveränderlichen Jesustradition ist durch nichts gestützt. Der Lukasprolog, das Johannesevangelium samt Epilog sowie die Tatsache, dass Papias von Hierapolis das Markusevangelium gegen Vorwürfe von Unzuverlässigkeit in Schutz nimmt, sind deutliche Hinweise darauf, dass für das Frühchristentum das Gegenteil des von B. Vorausgesetzten zutrifft. 2. Es liegt uns aus der Antike sowohl jüdischer als auch nicht-jüdischer Provenienz eine große Anzahl von Texten vor, anhand derer die Vielfalt und die Individualität des Umgangs mit heiligen und nicht-heiligen Quellen hätte studiert werden können, mit der weiteren Erkenntnis, dass keine Gesetzmäßigkeiten des antiken Umgangs mit Vorlagen zu postulieren sind.
Unter Rekurs auf die Gedächtnispsychologie, deren Darstellung mit allerlei Anekdoten zu außergewöhnlichen Gedächtnisleistungen in Vergangenheit und Gegenwart durchsetzt ist, versucht B. plausibel zu machen, dass es für die im Auswendiglernen der jüdischen Schriften geübten Jünger Jesu vergleichsweise eine Kleinigkeit gewesen wäre, zumindest große Teile des synoptischen Stoffs zu memorieren. Seiner Lektüre des Neuen Testaments erschließt sich, dass »Jesus seinen Jüngerkreis zwei bis drei Jahre geschult [hätte]. In diesen Jahren bestand ausreichend Zeit, um ihnen den gesamten Redestoff der synoptischen Evangelien einzuprägen« (178). Diese Inszenierung des jesuanischen Lehrbetriebs aufgrund der Konflation johanneischer und synoptischer Traditionen halte ich für – gelinde gesagt – exegetisch gewagt.
Aus der Experimentalpsychologie und der Oral Poetry-Forschung herangezogene Erkenntnisse lassen es B. dann zur Gewissheit werden, dass die intersynoptische Variabilität auf rein orale Überlieferungsprozesse zurückzuführen sei. Methodisch ist der hier vorgelegte Vergleich der synoptischen Evangelien mit poetischem, rhythmisch geprägtem Stoff aus Jugoslawien und Westafrika problematisch: Die Jesustradition ist weder in weiten Teilen poetisch oder rhythmisch geprägt noch wurde sie gesungen; es geht nicht an, die Synoptiker in ihrer Originalsprache und Gänze statistisch zu analysieren, die Vergleichstexte aber nur in Übersetzung und ausschnittsweise wahrzunehmen. Diese Kritik trifft auch die Heranziehung palästinischer Targumim, die schon aufgrund ihrer spezifischen Funktion als Analogien zu den Synoptikern kaum taugen, sowie die Vergleichung zweier Versionen des Traktats Avot de Rabbi Natan, deren Überlieferungsgeschichte völlig im Dunkeln liegt, die aber für B. aufgrund von Wortlautidentitäten die engste Analogie zum synoptischen Befund darstellen. Damit ist auch die Relevanz dieser angeblichen Analogien für die Erhellung der Minor Agreements (Kapitel F: 366–381) invalidiert.
B. bringt das Ergebnis der Untersuchung in einer abschließenden Zusammenfassung (Kapitel G: 387–402; engl. Übersetzung in Kapitel H: 403–417) auf den Punkt: »Matthäus und Lukas schrieben nicht das Markusevangelium ab, sondern schöpften unabhängig von Markus und voneinander aus derselben mündlichen Tradition wie jener. … Die drei Synoptiker fixierten jeder für sich drei verschiedene Vorträge der mündlichen Markustradition« (402). In Form eines Anhangs werden Tabellen zu statistischen Erhebungen, Diagramme, Texte und Grafiken zu synoptischen Erklärungsmodellen geboten (Kapitel J: 419–470). Ein Abkürzungsverzeichnis, eine differenzierte Bibliographie sowie Stellen-, Autoren- und Sachregister (471–526) schließen den Band ab.