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Ausgabe:

Januar/2010

Spalte:

43-45

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Balder, Holger

Titel/Untertitel:

Glauben ist Wissen. Soteriologie bei Paulus und Barth in der Perspektive der Wissenstheorie von Alfred Schütz.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2007. XVI, 615 S. 8°. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-7887-2213-5.

Rezensent:

Christof Landmesser

Theologie bedarf des Wissens. Und Theologie erfordert einen re­flektierten Umgang mit diesem Wissen. So ist es willkommen, wenn in dieser an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth vorgelegten und von Wolfgang Schoberth begleiteten Dissertation die Beschreibung und Verarbeitung von theo­logischem Wissen vor dem Hintergrund lebensweltlicher Erfahrungen und dort aufzuweisender Repräsentationsmuster genau diskutiert wird.
Appräsentation ist für Holger Balder das entscheidende Stichwort, womit eine Art der lebensweltlichen Vergegenwärtigung von theologischem Wissensvorrat gemeint ist, die über eine bloße Er­innerungsleistung hinausgeht, die vielmehr wirklichkeitskonstitutiven Charakter hat. Er schließt sich dabei an den Juristen und Soziologen Alfred Schütz (1899–1959) an, der vor dem Hintergrund der Phänomenologie Husserls sowie im Gespräch mit Bergson und Weber eine handlungsorientierte Soziologie entwickelte.
B. untersucht das im Glauben verankerte Wissen im Anschluss an Paulus und Karl Barth. Das theoretische Paradigma, um die gegenwärtig relevanten soteriologischen Themen bei Paulus und Barth angemessen beschreiben zu können, liefert für B. Alfred Schütz. Dies geschieht in einer höchst ausführlichen Weise, die nicht frei ist von Wiederholungen.
Im ersten Kapitel (»Ein wissenschaftstheoretisches Verständnis theologischer Theoriebildung«; 21–74) erörtert B. die theoretischen Grundlagen. Er geht davon aus, dass die lebensweltlichen Erfahrungen zur Intersubjektivität tendieren (24). Mit Schütz will B. von der Lebenswelt weitere »Wirklichkeitsbereiche/Subuniversen« un­terscheiden (35). Zur »Verbindung zwischen den Konzepten der Lebenswelt und der multiplen Realitäten« diene das Schützsche »Konzept der Appräsentation« (37), das ein »Modell der Wissenskonstitution zur Beschreibung theologischer Traditionsbildung« liefere (41). Mittels Appräsentation beziehe sich die Theologie in sprachlicher Form auf Erfahrungen, die ausdrücklich von der Theologie zu unterscheiden seien.
Im zweiten Kapitel untersucht B. die Soteriologie des Paulus vor dem Hintergrund der vorgelegten wissenstheoretischen Skizze (»Die Deutung des Todes Jesu bei Paulus in wissenstheoretischer Perspektive«; 75–258). Dabei erörtert er zuerst das vorpaulinische Formelgut, das für Paulus einen Teil seines Wissensvorrates bilde. Auch die Jesustradition kommt ausführlich zur Sprache. Die aktuelle exegetische Diskussion kommt allenfalls am Rande zur Geltung.
Bereits bei Jesus, dann im in den Paulusbriefen zu findenden christologischen Formelgut und bei Paulus selbst werde immer wieder dieselbe Struktur der Wissensadaption erkennbar. Es werde auf einen vorhandenen Wissensvorrat zurückgegriffen, der in pragmatischen, also lebensweltlichen Situationen aufgegriffen und »weiterentwickelt« (165) worden sei. So könne etwa die Aufnahme alttestamentlicher Tradition in der Jesustradition plausibel gemacht werden wie auch die Bezugnahme des Paulus auf das aus seiner Perspektive bereits sedimentierte frühchristliche Formelgut. Wie B. etwa am Christustitel aufzuweisen versucht, werde dabei nicht nur alttestamentliches Gut erinnert, sondern durch das Christusgeschehen selbst neu interpretiert. So entstünden neue Wissenssedimente, die für spätere Appräsentationen zur Verfügung stünden. Auch in der Soteriologie des Paulus geschehe aufgrund des Christusgeschehens »die grundlegende Umstrukturierung des Wissensvorrates der jüdischen Tradition … durch das vorpaulinische Formelgut unter bestimmten Relevanzbedingungen« (239). Die Besonderheit der paulinischen Appräsentation gegen­über dem als Wissensvorrat relevanten Formelgut sei die größere Vollständigkeit und Systematisierung aufgrund der spezifischen Relevanzbedingungen, die für Paulus gelten (241). Gerade die sich verändernden Relevanzbedingungen machten eine interpretierende Rezeption des so geschaffenen Wissensvorrats in einer neuen Gegenwart geradezu notwendig (248).
Im dritten Kapitel wendet sich B. der Soteriologie Barths zu (»Die Soteriologie in Karl Barths ›Der Römerbrief‹ [1922]; 259–509). B. wählt diesen Entwurf, weil es sich dabei um »ein neues Kapitel in der Theologiegeschichte der Neuzeit« handle (259). In der Struktur der Darstellung wiederholt B. sein Vorgehen aus dem vorangehenden Kapitel. Er rekonstruiert die Appräsentation der Soteriologie mit Blick auf die pragmatischen Gegebenheiten, »die situativen Relevanzen und den zuhandenen Wissensvorrat« (260), die sich für Barth selbstverständlich anders darstellten, als dies für Paulus der Fall gewesen sei. In diesem umfänglichsten Kapitel der Arbeit beschreibt B. – besonders unter den Stichworten ›Relevanzbedingungen‹ und ›Wissensvorrat‹ – mit vielen Details die Voraussetzungen der Entwicklung der Theologie Barths (274–325). Die ›liberaltheologische Soteriologie‹ (329–378) bilde den Hintergrund für die Darstellung von Barths mit seinem ersten Römerbriefkommentar dokumentierten soteriologischen Neuansatz (378–407). All dies und weitere Rückgriffe auf die philosophische und theologische Tradition bilden nach B. »die soteriologisch relevanten Typen des zuhandenen Wissensvorrates« (437), auf den Barth transformierend zurückgreife. In dem die Barth-Interpretation abschließenden Unterkapitel »Barths Soteriologische [sic!] Typenkonstruktion« (440–500) behandelt B. ausführlich das im Römerbriefkommentar Barths von 1922 erkennbare soteriologische Konzept. Insgesamt erweise sich Barths Theologie und auch die von ihm im Römerbriefkommentar entfaltete Soteriologie als »wesentlich in neuzeitliche Zusammenhänge eingebunden« (504), womit deren – wie schon bei Paulus – appräsentativer Charakter aufgewiesen sei.
Im letzten Kapitel (»Ein wissenstheoretischer Beitrag zur Systematisierung soteriologischer Traditionen«; 510–578) bringt B. unter Verwendung der von ihm adaptierten Schützschen Terminologie die Soteriologie des Paulus und Barths in systematisierender Absicht ins Gespräch. Dabei hebt B. nochmals hervor: »Wissenssysteme sind Deutungssysteme« (513). So können nach B. auch die Soteriologien des Paulus und Barths als theologische Wissenssysteme wahrgenommen werden im Sinne von »Deutungen der Erfahrung eines appräsentativen Verweisungszusammenhangs« (ebd.). So könne gezeigt werden, dass die »Christuserfahrung« nicht nur erinnerte Vergangenheit sei (ebd.), womit sich B. gegen eine vordergründige Rezeption des Assmannschen Erinnerungsmotivs wendet, die eine Gegenwartsrelevanz nicht hinreichend eröffne. Vielmehr sei die Christuserfahrung eine wirksame Appräsentation ebendieser Chris­tuserfahrung wie auch des zukünftigen Heils (ebd.). Letztlich sieht B. die Soteriologie Barths »als eine sachgerechte Fortschreibung bib­lischer Appräsentationsbedingungen in einer gegenüber den paulinischen Bedingungen veränderten Relevanzsituation« (534). Damit ist eine Perspektive beschrieben, die neue Möglichkeiten für eine Deutung sowohl der biblischen als auch etwa der Barthschen Soteriologie unter den je gegenwärtigen lebensweltlichen Bedingtheiten eröffnet.
Dieses Buch sollte sicher nicht als hinreichende Rekonstruktion der Soteriologie des Paulus gelesen werden, dazu ist es zu weit entfernt von den ganz aktuellen Diskussionen um die paulinische Theologie. Die gründliche Beschreibung der Soteriologie Karl Barths im Anschluss an den Römerbrief ist in sich konsequent. Eine intensivere exegetische Überprüfung des Barthschen Kommentars hätte gerade im Gespräch mit Paulus manche weitere spannende Einsicht verschafft. Hermeneutisch macht dieses Buch tatsächlich auf eine stets in lebensweltlich geprägten Kontexten reflektierte Wahrnehmung und Interpretation des je gegenwärtigen Wissensvorrats aufmerksam.