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Ausgabe:

Januar/2010

Spalte:

41-43

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Zehnder, Markus

Titel/Untertitel:

Umgang mit Fremden in Israel und Assyrien. Ein Beitrag zur Anthropologie des »Fremden« im Licht antiker Quellen.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2005. 614 S. gr. 8° = Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament, 168. Kart. EUR 45,00. ISBN 978-3-17-018997-3.

Rezensent:

Christoph Bultmann

Die Komplexität der Frage nach Fremden in Israel und an den Grenzen von Israel zeigt sich schon darin, dass von diesen »Fremden« oft zunächst nur in Anführungszeichen gesprochen wird. So auch in der Einleitung von Z.s Basler Habilitationsschrift von 2003, in der Z. indessen sogleich erläutert, es gehe in seiner Studie »primär um Fremde im ethnischen Sinn« (9). Nach einer Einführung zu »Methodik und Ziel der Untersuchung« (9–16) wird das Thema in zwei Abschnitten »Philosophische und anthropologische Dimensionen des ›Fremden‹« (17–20) und »Ethnische Fremdheit in soziologischer Sicht« (21–47) weiter vorgestellt.
Das Buch bietet zwei Hauptteile »Zum Umgang mit Fremden in Assyrien« (48–278) und »Zum Umgang mit Fremden im biblischen Israel« (279–541), bevor es mit einem Vergleich in 49 Paragraphen (542–554) schließt. In der Disposition fällt besonders das 5. Kapitel von Teil 2 auf, für das unter der Überschrift »Der Umgang mit Fremden: Berichte über den praktischen Vollzug« die Abschnitte »5.1 Binnenverhältnisse« und »5.2 Aussenverhältnisse« jeweils mit der Untergliederung: 1. Vorstaatliche Zei t/2. Königszeit/3. Nach­exi­lische Zeit, angezeigt werden (402–481, dazu »5.3 Kanaanäer« mit den Epochen 1. und 2.: 482–498). Für die Seite Israels soll das Thema des Fremden danach in einer geschichtlichen Tiefe von ca. 1000 Jahren ausgelotet werden – im narrativen Modus. Vorangestellt sind Untersuchungen zum Begriff gēr und zur Identität Israels (279–310) sowie ein Kapitel über »Bestimmungen der Gesetzessammlungen« (311–401), es folgt ein Kapitel über »Prophetische Zukunftsentwürfe« (499–541).
Der Teil zu Assyrien hat nach quellenkundlichen und kulturgeschichtlichen Einführungen (48–99) seinen Fokus auf dem »praktischen Vollzug« des »Umgangs mit Fremden« und dabei in erster Linie auf der Eroberung und Verwaltung fremder Territorien einschließlich der Frage der Deportationen (120–191) und der Religionspolitik gegenüber unterworfenen Völkern (246–266); ein Abschnitt ist »freiwillig in Assyrien lebenden Fremden«, darunter Flüchtlinge und entlaufene Sklaven, gewidmet (227–234). Da die Judäer, anders als in Dtn 11,23–25 imaginiert, die Region vom Euphrat bis zum Mittelmeer ihrerseits nie erobert haben, wird der Vergleich zwischen dem Umgang mit Fremden in Israel und Assyrien ein weites Feld überwölben.
Für eine wissenschaftliche Einschätzung des Teils zu Assyrien muss auf die entsprechenden Fachrezensionen verwiesen werden. Z.s Buch vereinigt alle Stärken und Schwächen einer klar geordneten und schön geschriebenen Erzählung geschichtlicher Verhältnisse in ihren Ausprägungen über die Jahrhunderte; dabei entsteht ein durch Verweise auf Sekundärliteratur wie Quel­lentexte belegter Motivkatalog assyrischer imperialer Rhetorik. Tagungsbände wie H.-J. Nissen und J. Renger (Hrsg.), Mesopotamien und seine Nachbarn (1982), oder D. Charpin und F. Joannès (Hrsg.), La circulatation des biens, des personnes et des idées dans le Proche Orient ancien (1992), sind ebenso genutzt wie R. Lamprichs, Die Westexpansion des neuassyrischen Reiches (1995), und zahlreiche weitere Titel, über die Z. offenkundig gut orientiert ist. Ob die kursorische Interpretation der Quellenbeispiele, zumeist aus Königsinschriften, und der flüssige Begriffsgebrauch in allen Fällen befriedigend sind, mag man fragen; gelegentlich scheint eine größere Schärfe der Wahrnehmung möglich. Doch stellt Z. durchaus Spannungen heraus wie etwa zwischen einer »imperialistische[n] Weltsicht mit ihrer ethnozentrischen Abwertung anderer Kulturen« und einem »gewisse[n] Interesse an ethnographischen Einzelheiten« (74 f.), oder er betont den religiösen Orientierungsrahmen der Herrscher, die das Herrschaftsgebiet des Gottes Aššur erweitern wollen, um zu ergänzen, dass die Quellen »eine eindeutige Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Ideologie und pragmatischen Erwägungen nicht [zu]lassen« (98).
Auf Z.s Schilderung der Kriegspraxis samt Deportation von Menschen und Transfer von Götterbildern ist hier nicht weiter einzugehen, wichtiger ist die Frage nach der rechtlichen Stellung der Deportierten (180–191), für die Z. die Grenzen der Quellenlage betont, auch wenn er nach B. Oded, Mass Deportations and Deportees in the Neo-Assyrian Empire (1979), etwas vage urteilt, dass »die Annahme unvermeidlich [scheine], dass im Laufe der Zeit tatsächlich bei der Mehrzahl der Deportierten mit einem rechtlichen und faktischen Zuwachs an Freiheit und Unabhängigkeit zu rechnen ist« (189). Auch gebe es »Hinweise darauf, dass sowohl Fremde im Allgemeinen wie auch Deportierte im Speziellen keine eigene Schicht bilden« (185). Das Gesamtbild verbreitert sich durch die Vorstellung von politischen Heiraten, Delegationen (mit Tribut), fremden Händlern, Facharbeitern (z. B. ägyptische Schreiber bei Weinlisten), Söldnern, Flüchtlingen als »freiwillig in Assyrien lebenden Fremden« (227–234). Die Kompilation von Einzelinfor­mationen aus den Quellen mündet mit einem Kapitel über die »Errichtung einer neuen Gesellschaftsordnung« in eine Zusam­men­schau, bei der nun doch allzu sehr eine aktualisierende Terminologie die Feder geführt hat (234–246).
Von diesem Panorama von Gesellschaft 1° geht es zu Gesellschaft 2°: Israel. In philologischen Vorbemerkungen zitiert Z. zum Begriff zār D. J. A. Clines mit der methodischen Anweisung: »The exact meaning of ›stranger‹ has to be established by the milieu, whether it is the family, the nation, the company of priests or the circle of the devout« (284), ohne sich für die Frage nach der Bedeutung des Begriffs ge-r dieses Prinzip zu eigen zu machen. Der ge-r , der »in deinen Toren« ist (Dtn 5,14 usw.), wird deshalb wieder von Abraham (aus Ur in Chaldäa), der ein gēr bei den Hethitern in Kanaan ist (Gen 23,4 bzw. 2), und ähnlichen Beispielen her erklärt, demgegenüber wird der Vorschlag des Rezensenten in seiner Dissertation Der Fremde im antiken Juda (1992), den Begriff gēr als einen »sozialen Typenbegriff« für Personen zu verstehen, die im jüdäischen lokalen Milieu an ihren jeweiligen Orten nur insofern fremd sind, als sie ohne Grundbesitz und ohne Anbindung als Sklaven an eine grundbesitzende Familie leben, abgelehnt (285). Grund für die Kritik ist offenbar zweitens, dass so, wie beim Gebrauch des Verbs gûr fürden Fall eines Israeliten in Israel (oder Judäers in Juda), z. B. des Leviten (Dtn 18,6), die nicht-externe Herkunft explizit ausgesprochen sei, sie auch beim Gebrauch des Nomens ausgesprochen sein müsse (aber wie?) (285). Als dritter Grund wird geltend gemacht, dass »im unmittelbaren kanonischen Kontext des Dtn«, gemeint ist Lev-Num, »eine Verwendung von gēr mit eindeutig ethnisch-religiöser Konnotation« vorliege (286) – doch was folgt daraus (sowie aus Jes 14,1; 1Chr 22,2; 2Chr 2,16 f.) für den gēr »in deinen Toren« nach Dtn 5,14 usw.? Das Kapitel 4 über den »Umgang mit Fremden« in Israel baut dann auf der Annahme auf, »dass sowohl ethnische wie auch religiöse Fremdheit in aller Regel [?!] zu den Bedeutungselementen des Nomens gēr gehören« (286); vgl. dann konkret etwa Z.s Erklärung von Dtn 24,14 f. (362 f.368 f.). Man wird Z. für die Vorstellung einer Alternative zum Erklärungsmodell des Rezensenten dankbar sein, wäre aber auch für eine stärkere Begründung dankbar.
Z.s weit ausholende Durchsicht der für das Thema des Fremden in allen Facetten relevanten Belege in den Gesetzessammlungen, den historischen (narra­tiven) Texten und den prophetischen Worten kann hier nur knapp als er­gänzende Lektüre zu den üblichen Kommentaren empfohlen werden. Als Probebeispiel sei das sog. Gemeindegesetz in Dtn 23,2–9 über Ammoniter, Moabiter, Edomiter und Ägypter im qehal Jhwh (dazu 373–380) aufgegriffen, das der Rezensent bestenfalls tentativ versteht. Trotz reicher Literaturberichte folgt Z.s Deutung im Wesentlichen den Kommentaren von G. von Rad (1964) und J. Tigay (1996); qāhāl als die »vor Gott versammelte Gesamtgemeinde Israels« ist auch »für die Ausführung der im Auftrag Jhwhs zu vollziehenden militärischen Unternehmungen verantwortlich« und ist auch »die für den politischen Bereich massgebliche Instanz« – Letzteres nach Jos 22,12; Ri 20,1 f.; 21,5.8 und ohne Frage nach dem Königshof, sei es in Samaria, sei es in Jerusalem (374). Was die vier genannten Völker angehe, so sei das Konnubium – eine Frau von außen oder eine Tochter nach außen – frei, auch der Aufenthalt »im Lande Israel«, doch treffe mit dem Gesetz über den qāhāl die »rezipierende Gesellschaft« differenzierte Bestimmungen darüber, wer »in eine enge Beziehung zu Israel« eintreten dürfe. So werde »das Modell einer Gesellschaft entworfen, in der auch auf längere Sicht verschiedene Klassen von unterschiedlich integrierten Landesbewohnern nebeneinander leben« (375–379). Außer einem Referat über Datierungsvorschläge in der Sekundärliteratur (373, Anm. 4) gibt es für die Deutung eine zeitliche Ansetzung nur durch die »Vermutung«, der Text entstamme einer »früheren Epoche« als derjenigen der Polemik gegen die Edomiter nach 587 v. Chr. (379; ob sich in dieser Epoche bei den Edomitern und Moabitern schon der Schock über ihre »strenge« Behandlung durch David nach 1Kön 11,15 f. bzw. 2Sam 8,2 gelegt hatte, wird nicht gefragt; vgl. 457 f.). Dtn 23,2–9 harrt weiter der Erklärung.
Die Kritik am Detail soll nicht verdecken, dass Z. sozusagen ein diachrones Panorama in einer synchronen Studie gelungen ist, bei der auch die Erzähltexte, z. B. 2Kön 21,2 (463), als Spiegel der Ge­schichte zur Geltung kommen sollen. Die Vergegenwärtigung des reichhaltigen Motivrepertoires des Alten Testaments zu Fremden in Israel oder am Zion bietet einen möglichen Einstieg in ein wichtiges Thema der alttestamentlichen Theologie. Es steht jedem Leser des anregenden, aber in seiner Quellenbehandlung irritierenden Buches frei, etwa auf dem Weg von B. Levinson, Deuteronomy and the Hermeneutics of Legal Innovation (1997), mehr Tiefenschärfe zu suchen.