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Ausgabe:

Januar/2010

Spalte:

36-38

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Müller, Anna Karena

Titel/Untertitel:

Gottes Zukunft. Die Möglichkeit der Rettung am Tag JHWHs nach dem Joelbuch.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2008. X, 227 S. 8° = Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament, 119. Lw. EUR 34,90. ISBN 978-3-7887-2277-7.

Rezensent:

Burkard M. Zapff

Das Joelbuch gehört zu den Teilen des Zwölfprophetenbuches, dem in der neueren Diskussion zum Zwölfprophetenbuch eher weniger Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Dies hängt u. a. damit zusammen, dass – zumindest auf den ersten Blick – die Thematik des hereinbrechenden JHWH-Tages mit einem Ausblick auf das künftige Heil für Zion in Joel 4 in enger Parallele zu ähnlichen Konzepten in anderen Schriften des Zwölfprophetenbuches zu stehen scheint (vgl. z. B. Obadja oder Zefanja), demnach offenbar auch hier ein bekanntes Schema umgesetzt wird (vgl. 2). Bei näherem Hinsehen jedoch ergibt sich eine ganze Reihe von inhaltlichen Spannungen, die Zweifel an einer einheitlichen Konzeption nach tra­ditionellem Muster aufwerfen. Zu ihnen zählt z. B. der Zusam­menhang zwischen der Heuschreckenplage in Joel 1 und dem anrückenden Heer in Joel 2 oder das Verhältnis von Joel 3 und 4 zu den ersten beiden Kapiteln des Buches. Dabei bietet das Joelbuch – und dies ist inzwischen weitgehender Konsens in der Forschung – ein Musterbeispiel schriftgelehrter Prophetie (vgl. etwa S. Bergler, Joel als Schriftinterpret, Frankfurt 1988). Darunter ist eine von vornherein schriftlich verfasste prophetische Verkündigung zu verstehen, die auf dem Hintergrund und unter Bezug auf bereits vorliegende, als autoritativ verstandene prophetische Schriften formuliert ist und deren Ankündigungen – sei es in Form von Ge­richts-, sei es in Form von Heilsworten – als noch ausstehend aufgegriffen und neu akzentuiert werden. Ausgehend von diesem Konsens stellt sich die theologisch spannende, bisher nicht wirklich befriedigend gelöste Frage, mit welcher theologischen Zielsetzung das Joelbuch vorliegende alttestamentliche Texte aufgreift.
Bei ihrer Untersuchung geht M. von zwei grundsätzlichen An­nahmen aus. Entgegen einer verbreiteten Tendenz der neueren Forschung (z. B. Berger, Joel, und Zenger, Einleitung in das Alte Testament) sieht sie (z. B. mit R. Smend, Die Entstehung des Alten Testaments) das Joelbuch als eine sukzessiv gewachsene Größe, deren Grundbestand in Joel 1/2 zu suchen ist und die zunächst in Joel 4 und später in Joel 3 eine schriftgelehrte Fortschreibung erhalten hat (vgl. 19 ff.). Sie begründet diese These – durchaus überzeugend – mit den jeweils unterschiedlichen Konzeptionen des JHWH-Tages in Joel 1/2 und 3 bzw. 4, wobei letzteres Kapitel unbestreitbare inhaltliche Bezüge zu Joel 1/2 aufweise. Das Hauptinteresse ihrer Arbeit widmet sie demnach dem Grundbestand in Joel 1/2.
Hinsichtlich dessen, was unter Schriftauslegung im Joelbuch zu verstehen ist, möchte sie diese als »eine besondere Form der Traditionsgeschichte ansehen, insofern als hier durch die Texte, auf die Joel anspielt, eine Art zweite Ebene entsteht, auf der das Buch gelesen werden kann, und die der Tag JHWHs-Theologie ihre Tiefendimension gibt« (15). Diese zwei Ebenen definiert sie in folgender Weise: Auf der ersten Ebene wird der Tag JHWHs unter Aufnahme von Elementen aus der Tradition und in Anknüpfung an gegenwärtige Erfahrungen (z. B. eine Heuschreckenplage) verkündet. Dadurch wiederum ist der Tag JHWHs eine Größe, die in der Gegenwart bereits erfahrbar ist und für Israel Heil oder Vernichtung bedeuten kann. Die zweite Ebene entsteht dadurch, dass das, was auf der ersten Ebene mitgeteilt wird, mit anderen Texten so verknüpft wird, dass diese als Hintergrund präsent sind und damit Grundsätzliches zum Verständnis des Tag JHWHs beitragen (16).
Diese zunächst recht theoretisch klingende Grundthese veranschaulicht M. beispielsweise anhand des Bezugs von Joel 1 auf die Heuschreckenplage in Ex 10. Durch die auf Ex 10 verweisende Semantik in Joel 1,4 und 2,25 wird der Leser dahingehend gelenkt, auf weitere Entsprechungen zu achten (z. B. die Unvergleichlichkeit in Joel 1,2 f., vgl. dazu Ex 10,6 bzw. Joel 2,2, vgl. dazu Ex 10,14b, die Erzählaufforderung in Joel 1,2 und die Erkenntnisformel in Joel 2,27 vgl. dazu Ex 10,1b.2). Da die Heuschreckenplage in Ex 10 eine Ambivalenz aufweist – bedrohliches Zeichen für den Pharao, der JHWH nicht erkennt, für Israel hingegen positives rettendes Ereignis –, sei dies auch für Joel anzunehmen. Die Heuschreckenplage ist dort doppeldeutiges Zeichen: potentielles Gericht oder potentielles Heil für Israel. Wird bereits die Heuschreckenplage in Ex 10 als unvergleichlich apostrophiert, so steigert Joel 2,2 diese Aussage in Extreme: Die hereinbrechende Plage ist unvergleichlich sogar gegenüber der bereits un­vergleichlichen Heuschreckenplage des Exodusgeschehens. Ziel des Ganzen ist es, den Leser von der Oberfläche des sinnlich Wahrnehmbaren zu der diesem Erlebten gleichsam anhaftenden eigentlichen Bedeutung hinzuführen: »Die Heuschreckenplage ist eine Heuschreckenplage, aber sie ist auch und vor allem mehr« (50).
Bereits hier zeichnet sich eine der zentralen Aussagen des Joelbuches ab: Es geht um ein absolutes, unüberbietbares und eschatologisches Ereignis, das Israel schließlich zur Erkenntnis der auf Dauer angelegten und unverbrüchlichen heilvollen Gegenwart JHWHs inmitten seines Volkes führt (57). In ähnlicher Weise interpretiert M. auch die zahlreichen schriftgelehrten Bezüge des Tag JHWHs in Joel 2,1–11 zu Jes 13. Auch diese sollen die Unvergleichlichkeit und Endgültigkeit dieses Geschehens veranschaulichen. Der Tag JHWHs ist dabei nicht ein Ereignis, das JHWH herbeiführen wird, sondern das Kommen des Tages ist das Kommen JHWHs selbst (196). Dies erklärt etwa die Transzendierung des bereits in Jes 13 nicht mehr klar zu fassenden Feindes. Dabei ist dieser Tag universal, insofern er nicht mehr nur einzelne Völker berührt, sondern die gesamte Welt davon betroffen ist. Eine weitere Entgrenzung geschieht hinsichtlich des Aspektes der Zeit: So ist der Tag JHWHs zwar bereits in der Gegenwart erfahrbar, geht aber nicht in ihr auf (197). Dabei ist der Tag JHWHs nicht einfach Chiffre für einen strafenden Gerichtstag, sondern für Joel kommt der Tag als Erfüllung der Erwartungen und Ankündigungen früherer Prophetie, in der er einerseits die endgültige Gottesbegegnung erwartet, andererseits alle Hoffnungen auf die Bindung JHWHs an sein Volk und an seinen absoluten Heilswillen setzt (198). Dabei wird Gott schließlich selbst seine vernichtende Macht (in Gestalt des »Nördlichen«, vgl. Joel 2,20) entfernen, so dass die Gottesnähe ausschließlich zum heilvollen Nahsein JHWHs in Israel wird (199). Aus der Leserperspektive heraus wird dabei durch die Entgrenzung der Zeit die Zeit, in der sich die Jerusalemer Gemeinde im Buch befindet, zur Zeit des Lesers (vgl. dazu die Konzeption des dtr »Heute«, 200).
Die Arbeit endet mit einem kurzen Blick auf Joel 3 und 4, in denen wesentliche Aspekte der Konzeption des JHWH-Tages von Joel 1/2 zurückgenommen bzw. modifiziert werden (z. B. zeitliche Entgrenzung, Einführung der Zionbezogenheit, Umgestaltung des Gerichtstags zu einem Gerichtstag über die Völker).
Die anspruchsvolle, nicht immer einfach zu lesende Arbeit ist in ihren sehr genauen Beobachtungen ein Musterbeispiel für eine Untersuchung, die schriftgelehrten Bezügen in der späten Prophetie ihr besonderes Augenmerk widmet. Dabei versteht es M., die Besonderheit der Konzeption und Theologie Joels herauszuarbeiten, insofern hier mit der schriftgelehrten Bezugnahme nicht nur in herkömmlicher Weise der Spendertext zur Gestaltung und Autorisierung der (neuen) Aussage verwendet wird, sondern die Texte zugleich so ausgewählt werden, dass das besondere Anliegen des Joelbuches, nämlich das unbeschreibbare Hereinbrechen des un­vergleichlichen, mit JHWH selbst identifizierten Tags JHWHs, dennoch ins Wort gefasst wird. Gelegentlich allerdings erweckt M. den Eindruck einer Überinterpretation der Texte, was aber wohl grundsätzlich eine gewisse Gefahr der Nachzeichnung schriftgelehrter Bezugnahmen ist. Trotzdem dürfte der Ansatz dieser Arbeit durchaus ein Gewinn für die Zukunft der Joelexegese sein. Allenfalls ein wenig zu kurz kommt die Frage nach der Funktion des Joelbuches im Kontext des Dodekaprophetons. Hier wäre insbesondere die Frage zu stellen, inwiefern bereits der Grundtext des Joelbuches mit dieser »unvergleichlichen« Aussage einen Beitrag im entstehenden Zwölfprophetenbuch leistet. Hinsichtlich Joel 4 be­steht ja aufgrund verschiedener Bezüge zum nachfolgenden Buch Amos wohl kein Zweifel, dass hier buchübergreifend gearbeitet wurde.