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Ausgabe:

Januar/2010

Spalte:

34-36

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Maier, Christl M.

Titel/Untertitel:

Daughter Zion, Mother Zion. Gender, Space, and the Sacred in Ancient Israel.

Verlag:

Minneapolis: Fortress Press 2008. X, 285 S. m. Abb. gr.8°. Kart. US$ 21,00. ISBN 978-0-8006-6241-7.

Rezensent:

Thomas Staubli

Städte sind weiblich und so vielfältig wie die Rollen, die Frauen ausüben können. Der jüdische Schriftsteller Yoram Kaniuk sagte kürzlich in einem Interview: »Tel Aviv ist immer ein Ort, wohin man flüchten kann. Hier nimmt man das Leben leicht. Tel Aviv verhält sich wie eine Geliebte, nicht wie eine Ehefrau« (Der Bund, 11.4.2009, 7). Christl Maiers Studie beschäftigt sich zum ersten Mal in dieser Form mit dem Verhältnis zwischen Zion als Raum (space) und als weibliche Figur. Zu diesem Zweck werden ausgewählte Passagen der Hebräischen Bibel auf ihre Rhetorik, ihren theologischen Standpunkt und ihren soziohistorischen Hintergrund hin durchleuchtet, nicht zuletzt in der ausdrücklichen Hoffnung, etwas zur Diskussion über den Status des heutigen Jerusalem beizutragen. »My thesis is that the female personification of the city creates a new image of Zion by intertwining spatial and gendered perspectives. In the course of Jerusalem’s turbulent political his­tory, this new characterization is intensified until, finally, Zion emerges as a religious symbol of salvation« (4).
Als analytisches Werkzeug verwendet M., wie sie in Kapitel 1 darlegt, die Raumtheorie des französischen Soziologen Henri Lefebvre (1901–1991; La production de l’espace, Paris 1974; eine deutsche Übersetzung existiert nicht, vgl. aber Schmid, Christian, Stadt, Raum und Gesellschaft. Henri Lefebvre und die Theorie der Produktion des Raumes, Sozialgeographische Bibliothek 1, München 2005). Lefebvre versteht Raum als gesellschaftliches Produkt. Er unterscheidet l’espace perçu, den Wahrnehmungsraum (Schmid: »die räumliche Praxis«), l’espace conçu (Schmid: »die Repräsentation des Raumes«), den Vorstellungsraum, der sich in Karten und Zeichnungen, aber auch in sprachlichen Metaphern niederschlägt, der ein Zeichensystem darstellt, und schließlich l’espace vécu (Schmid: »Räume der Repräsentation«), den Lebens- und Erfahrungsraum, sc. den Raum, wie er via Vorstellungsraum von Menschen konkret erfüllt und subjektiv erlebt wird.
Kapitel 2 widmet sich der vorexilischen Zionstheologie bzw. der Jerusalemer Kulttradition mit Bemerkungen zu Gen 14,13–24 (Legitimation des Unterhalts der kanaanäischen Priesterschaft) und 2Sam 5,6–10 (Gründungslegende des israelitischen Jerusalem) so­wie Auslegungen der Psalmen 48 (Lobpreis auf Zion als Stadt; Gottes Stadt auf dem Heiligen Berg) und 46 (Lobpreis auf Gott, den Chaosbezwinger; Gottes Stadt als Symbol der geordneten Welt); Jes6,1–8 (Der auf Zion thronende Gott); Mi 3,9–12 (Zurückweisung der Heiligkeit Zions).
In Kapitel 3 geht es um die Feminisierung des Raumes als Tochter Zion. Gegenüber dem in den Texten von Kapitel 2 evozierten Image einer uneinnehmbaren Stadt steht hier die Verletzbarkeit Jerusalems im Vordergrund: Jes 1,7–9 (Angriff auf Tochter Zion), 10,32 und 16,1 (Der Berg der Tochter Zion), 37,22 (Tochter Zion verachtet den Feind), Jer 4,29–31 (Tochter Zion in Geburtswehen), 6,1–8 (Angriffe von außen, Unterdrückung im Innern), 6,22–26 (Die von Terror umgebene Stadt), Jer 4,19–21 (Tochter Zion beweint ihr Schicksal). Personifikation ist für M. ein Spezialfall der Metapher, bei dem es zu Wechselwirkungen zwischen zwei semantischen Feldern, in diesem Fall Raum und Frau, kommt. Das wichtige, mit neun Abbildungen illustrierte Kapitel bietet vorab einen Abriss über das weibliche, grammatische Geschlecht von Städten und altorientalische Konzepte von Stadtpersonifikationen.
Das längste, 4. Kapitel thematisiert das Huren Jerusalems nach den ausführlichen prophetischen Texten: Hos 1–3 (Heirat, Bund und Hurerei), Jes 1,21–26 (Jerusalem als rebellische Hure), Jer 2,2–4,2 (Kaputte Ehe), Jer 3,14–18 (Wiederhergestelltes Jerusalem als Heiliger Raum), Jer 13,20–27 (Bestrafung der Hure), Ez 16 (Biographie der Hure), Ez 23 (Samaria und Jerusalem als hurende Schwestern). M. fasst die in den letzten Jahren intensive Erforschung des Themas brillant zusammen. Sie klärt Schlüsselworte wie zōnā und bǝrīt und arbeitet die Textprofile heraus. Mit Gerlinde Baumann insis­tiert sie auf der sorgfältigen Unterscheidung zwischen der Erklärung der Metapher in ihrem soziohistorischen Kontext und ihrer Interpretation aus heutiger Perspektive. Sie warnt davor, aus den Texten Rückschlüsse auf Frauen und Geschlechterbeziehungen in der Antike zu ziehen. Der Wahrnehmungsraum Jerusalem werde in diesen Texten als zerrüttet, kriminell und religiös promisk dargestellt, der Vorstellungsraum entwerfe ein Gegenbild zum traditionellen Bild der Stadt als heiligem, von der Gottheit beschütztem Raum.
Kapitel 5 beschäftigt sich mit dem verwundeten Körper der Tochter Zion in den als Überlebensliteratur charakterisierten Klageliedern: 1,1–11a.17 (Die Ruinenstadt als gedemütigte Frau) und 1,11b–16 (Tochter Zions geschundener und vergewaltigter Körper). In diesem Kapitel bewährt sich die von M. konsequent verfolgte Betrachtungsweise Jerusalems als Raum und nicht nur als Volksgemeinschaft ganz besonders, da sich in den Texten der Zustand der Stadt und der seiner Bewohner gegenseitig interpretieren, was die Klage verstärkt. Jerusalem ist »site and sign« zugleich (152).
In Kapitel 6 geht es um den Wiederaufbau Jerusalems bei Deuterojesaja, im Besonderen um 49,14–21 (Vollständige Schicksalswende für die Stadt in Trümmern), 51,17–52,2 (Zions Befreiung aus der Gefangenschaft), 54,1–17 und 62,1–5 (Jerusalem als Königin und kostbare Krone), 57,6–13 (Wiederaufnahme der Hurenmetapher). M. vermutet, dass die Autoren dieser Texte auf die Zionsmetaphorik zurückgreifen mussten, wenn sie dem traumatisierten Volk Hoffnung machen wollten.
In Kapitel 7 wird schließlich Zion als Mutter und Pilgerstadt zum Thema, ganz besonders Jes 49,22 f. und 60 (Die Rückkehr von Zions Kindern), Jes 2,1–4 (Zion als Pilgerstadt), Jes 66,7–14 (Die Verbindung zwischen Zions und JHWHs Mutterschaft) und Ps 87 (Zion als Mutter der Völker), ein Gebet, das den exklusiven JHWH-Kult definitiv hinter sich lässt. Während M. diesen einzigartigen Text als I-Punkt auf ihre Arbeit setzt, warnt sie zugleich davor, die Mutter-Metapher unkritisch zu überhöhen und zu isolieren. Vielmehr gehe es darum, »to detect the power relations in texts and to interpret the ancient texts in a way that refrains from reiterating nationalism, gender hierarchy, and the distinction of an ›other‹« (210).
Kapitel 8 präsentiert die Quintessenz des Buches. M. betont die diachrone Entwicklung der Idee von Zion als heiligem Raum und weiblicher Stadt, die von Tochter Zion in den ältesten, vorexilischen Texten zu Mutter Zion in den jüngsten, nachexilischen Texten führt. Sie unterstreicht noch einmal, dass »the female personification of the city acknowledges that humans have bodies and build place relations through their bodies«, und verleiht ihrer Hoffnung Ausdruck, dass der Reichtum des vielgestaltigen Themas dazu anregen möge, die Beziehungen von Geschlecht, Topographie und Ideologie bei der Raumproduktion in der Gegenwart zu überdenken.
M. hat nach ihrer Dissertation zur »Fremden Frau« (OBO 144) ein weiteres Grundlagenwerk zu einem wichtigen, weiblich konnotierten Metaphernkomplex in der Bibel vorgelegt. Das Buch ist eine materialreiche, mit bestem Sachverstand geschriebene, souverän aufgebaute Auslegeordnung der Themen rund um die Personifikation Jerusalems als Frau in der Bibel, das mithilfe klug eingesetzter soziologischer und feministischer Kategorien zu eigenständigem Nachdenken und Nachforschen anregt.
Die Personifizierung Jerusalems beruht nach M. auf der Affinität weiblicher Rollen – Tochter, Geliebte, Gattin, Mutter – und auf der Beziehung im Dreieck Stadt, Herrscher (bzw. Gott!), Einwohner (73). Nachzufragen wäre etwa – nicht zuletzt auf der Basis des von Elke Seifert (Tochter und Vater im Alten Testament) zusammengetragenen Materials –, wie die inzestuöse Doppelrolle JHWHs gegenüber Jerusalem als Vater und Gatte zu verstehen ist. Nimmt man nämlich die von M. mehrfach betonte, bewusste redaktionelle Wiederaufnahme der Thematik über Generationen hinweg ernst, so lässt sich der Tochter- und der Ehefrau/Hurendiskurs nicht separieren. Einiges an Profilierung der untersuchten Passagen wäre wohl auch noch durch Vergleich mit Texten zu gewinnen, in welchen der Raum Babel als Frau charakterisiert wird. Rückblickend fällt auf, dass der Geliebten kein eigenes Kapitel gewidmet wurde. Wechselwirkungen mit dem Hohenlied werden nur in einem Fall erwogen, wo es um den mütterlichen Aspekt geht (Hld 3,11). Vielleicht wäre in diese Richtung nachzuforschen – oder sollte für das antike Jerusalem schon gelten, was Kaniuk dem modernen unterstellt: dass es eine in komplizierte Muster von Ehre und Schande verstrickte Tochter oder eine vergrämte, tragische Ehefrau ist, vor der man am besten so schnell wie möglich zur Geliebten Tel Aviv flieht, liege dieses nun am Mittelmeer oder an den Flüssen Babels?