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Ausgabe:

Januar/2010

Spalte:

29-32

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Flury-Schölch, André

Titel/Untertitel:

Abrahams Segen und die Völker. Synchrone und diachrone Untersuchungen zu Gen 12,1–3 unter besonderer Berücksichtigung der intertextuellen Beziehungen zu Gen 18; 22; 26; 28; Sir 44; Jer 4 und Ps 72.

Verlag:

Würzburg: Echter 2007. XII, 376 S. gr.8° = Forschung zur Bibel, 115. Kart. EUR 36,00. ISBN 978-3-429-02738-4.

Rezensent:

Benjamin Ziemer

Sollen sich die Völker nur segnen wie Abraham, oder werden sie ge­segnet durch Abraham? Die angemessene Übersetzung des letzten Halbverses der Gottesrede, welche Abram zum Aufbruch in das Land der Verheißung auffordert, ist das zentrale Thema in diesem Buch. Die Eingangsfrage ist nicht nur philologischer Natur, sondern insofern von »ökumenischem« Interesse, als seit den Paulusbriefen immer wieder versucht worden ist, das Verhältnis von Christentum und Judentum durch die Exegese der Abrahamgeschichte zu klären. Erhard Blum war es, der mit seinem Diktum, dass es »einen ›Segen für andere‹ in den Verheißungen der Genesis nicht gibt«, mit der vereinnahmenden Tradition christlicher Exegese gebrochen hat. Wenn es in Gen 12,3 um das paradigmatische Gesegnetsein Abrahams bzw. Israels geht (Blum, Die Komposition der Vätergeschichte, Neukirchen-Vluyn 1984, 352), ist einer christlichen Überbewertung des abraha­mischen Völkersegnens ein Riegel vorgeschoben. Doch André Flury-Schölch stellt in seiner 2003 in Luzern angenommenen Dissertation, deren für den Druck überarbeitete Fassung hier rezensiert wird, die These Blums wieder auf den Prüfstein. Dafür unterzieht er Gen 12,3 und die sechs weiteren alttestamentlichen Belege von ךרב im hitp. oder ni. mit Völkern oder Sippen als Subjekt einer eingehenden Analyse, die ihn nach ausführlicher Abwägung aller bis dato in der Forschung vorgebrachten Argumente zu dem Ergebnis führt, dass die hitp.-Belege Gen 22,18; 26,4; Jer 4,2; Ps 72,17 reflexiv (»sich segnen mit«), die ni.-Belege Gen 12,3; 18,18; 28,14 aber passivisch zu verstehen sind.
Letzteres bedeutet die Antwort des Vf.s auf die eingangs gestellte Frage, die, lange vor dem »vorläufigen Fazit« (116), das erste Mal implizit in der Übersetzung von Gen 12,3b auf S. 1 deutlich wird. Der Vf. übersetzt bei allen drei ni.-Belegen konsequent passivisch mit »gesegnet werden durch«. Wie wichtig ihm diese konsistente Übersetzung ist, mag man daran ermessen, dass das nachgestellte, in Gen 12,3 und 28,14 gleichlautende Subjekt »המדאה תחפשמ לכ« meist mit »alle Sippen der Erde« (1), dann aber auch mit »alle Sippen des Erdboden« (z. B. in den Überschriften 90 und 122) und schließlich mit »alle Völker der Erde« (176) übersetzt wird.
Dass auch Keith N. Grüneberg in seinem von der Themenstellung nahezu identischen Buch (Abraham, Blessing and the Na­tions. A Philological and Exegetical Study of Genesis 12:3 in its Narrative Context, Berlin-New York 2003; vgl. die Rezension von H. Seebass in ThLZ 130 [2005], 258), auf das der Vf. erst in der Druckfassung eingehen konnte, eine passivische Bedeutung von ךרב ni. herausarbeitet, verschafft der Hauptthese des Vf.s zusätzliches Gewicht. Im Unterschied zu Grüneberg stellt er sich aber auch der diachronen Fragestellung. Um zirkulärer Argumentation innerhalb der Genesisstellen möglichst vorzubeugen, wird dabei Ps 72,17 und Jer 4,2 eine Schlüsselrolle zugestanden.
Dementsprechend ist die Arbeit aufgebaut. Nach einer Einleitung (I.) und verschiedenen Bemerkungen zu Text, Kontext und syntaktischer Struktur von Gen 12,1–3 und der Semantik der Wurzel ךרב (II.) gibt es drei im Umfang etwa gleich große Hauptteile: die (synchrone) »Versauslegung von Gen 12,1–3« (III., 45–125), die (ebenfalls synchrone) Behandlung der »Parallelstellen zu Gen 12,3b« (IV., 127–223) sowie, als letzten Hauptteil, »Gen 12,1–3 in diachroner Hinsicht« (V., 225–318).
Die folgende Zusammenfassung (VI. »Ergebnisse«, 319–333) gliedert sich dann in »Beobachtungen auf synchroner Ebene« und »Ergebnisse und Thesen in diachroner Hinsicht« – insofern irreführend, als die vielleicht wichtigsten Ergebnisse auf synchroner Ebene liegen – und einen davon abgesetzten Schlussabschnitt in »biblisch-theologischer Hinsicht«. Ein über 1000 Titel beinhaltendes Literaturverzeichnis (335–372), ein Abkürzungsverzeichnis sowie ein knappes Bibelstellenregister (374–376) beschließen den Band.
In diachroner Hinsicht kommt der Vf. zu dem sich nahelegenden Schluss, in den ni.-Belegen, also Gen 12,3; 18,18; 28,14, ein eigenes motivgeschichtliches und letztlich auch literargeschichtliches Stadium zu sehen. Auch die These, dass Gen 12,1–3 die »in diachroner Hinsicht womöglich letzte Gottesrede an Abraham« sei (331), vermag nicht wirklich zu überraschen. Denn jeder Exeget, der synchrone und diachrone Analyse zu verknüpfen sucht, kennt die Versuchung, gerade diejenigen Texte, deren synchrones Beziehungsgefüge er am intensivsten analysiert hat, als diachron jüngste Schicht aufzufassen, weil so und nur so die synchronen Beobachtungen zu diachronen Ergebnissen führen, die für den Gegenstand der Untersuchung, in diesem Falle also Gen 12,1–3, nicht nur wirkungsgeschichtlich, sondern exegetisch unmittelbar relevant sind.
Die Argumentation des Vf.s für seine insbesondere durch die diachrone Verortung von Gen 22,14–18 vor Gen 12,1–3 den meisten gängigen Modellen widersprechende Hypothese verdient dennoch Beachtung. Der motivgeschichtliche Ausgangspunkt lag demnach in altorientalischer Königsideologie, wie sie in Ps 72,17 zum Ausdruck kommt: Hier wünschen sich andere Nationen Segen, »wie der König ihn hat« (233). Diese Königsideologie sei auf JHWH und das Volk Israel übertragen worden, wobei die erstmalige Übertragung auf Abraham in Gen 22,1–19 ihre Begründung darin habe, den Dtn 13 geforderten Gehorsam, »wo nötig, auch denjenigen Menschen zu ›opfern‹, der einem am liebsten ist«, zu »legitimieren« (265). Hierher gehöre auch Gen 26,4. Erstmals nicht mehr von diesem »Herrschaftssegen« geprägt sei der Beleg Jer 4,2, der damit den Weg bereite für die nachexilische Transformation hin zum sich in Gen 12,1–3; 18,18; 28,14 äußernden theologischen »Selbstanspruch«, nach dem Abraham und Jakob gerufen sind, »für andere Nationen zum Segen zu werden, d. h. Segen aktiv zu vermitteln« (233).
Der Versuch, aus der relativen Frühdatierung von Gen 22 gegenüber Gen 12 ein literargeschichtliches Entstehungsmodell der Abrahamgeschichte, ja der Genesis abzuleiten, wird allerdings kaum Nachfolger finden, auch wenn dem Rezensenten die Würdigung von Gen 14,1 als einem ursprünglichen Buchanfang (314 f.) sympathisch ist. Gen 11–13* ist doch zu disparat, um als Einheit einer zuvor aus Gen 14–25* bestehenden Abrahamgeschichte vorangesetzt zu werden. Und in einer mit Gen 14 f. beginnenden Abrahamgeschichte wäre die Klage Abrams über seine Kinderlosigkeit Gen 15,2 f. ebenso unverständlich wie der Rückverweis auf eine Herausführung aus Ur-Kasdim in Gen 15,7 usw. Auch das Verhältnis zu den »priesterlichen« Texten wäre noch genauer unter die Lupe zu nehmen. Dass »P« »für seine Segensvorstellungen auf Mehrungsverheißung und Landverheißung aus den Erzvätererzählungen zurückgreife« (44, mit Bezug auf Gerhard Wehmeier, Der Segen im Alten Testament. Eine semasiologische Untersuchung der Wurzel brk, Basel 1970), ist auch vor dem Hintergrund einer »veränderten Situation in der Pentateuchforschung« (ebd.) noch aktuell. Da die Gabe der Fruchtbarkeit und Mehrung unter Einbeziehung der priesterlichen Schicht bereits im Schöpfungssegen für die ganze Menschheit präsent ist, der nicht zuletzt in der Segensverheißung für Ismael in Gen 17,20 mit den »Segensvorstellungen« der Erzelternerzählungen verbunden wird, Bezüge von Gen 12,1–3 auf Gen 1 oder 9,1–17 aber nicht erkennbar sind, dürfte die »priesterliche« Verbindung von Ur- und Erzelterngeschichte dem Verfasser von Gen 12,1–3 wohl noch nicht vorgelegen haben.
Im allerletzten Schlusswort des Buches drängt sich »in biblisch-theologischer Hinsicht« noch einmal der leise Verdacht auf, dass der Vf. sich von dem Wunsch hat leiten lassen, die in Gen 12,1–3 entfaltete Segensperspektive für die Völker möge das letzte Wort in der Abrahamgeschichte sein. Wenn Gen 22 als erzählerische Legitimation von Texten wie Dtn 13 verstanden wird, die »von einer religiösen Unfähigkeit, auch bei Andersgläubigen Gottesfurcht zu er­kennen« zeugen (332), ein solches Ergebnis aber zugleich als »nicht erfreulich« qualifiziert wird (ebd.), erscheint die »Ouvertüre« Gen 12,1–3, die weder von den anderen Völkern die Erfüllung bestimmter Voraussetzungen noch von Abraham die Erfüllung bestimmter Vorschriften verlangt (333), natürlich viel angenehmer.
So erscheint Gen 12,1–3 auch wieder als Anfang, obwohl doch (308) Gen 11,28–13,18* (»ohne die ›P‹-Verse 12,4b–5; 13,6.11b–12abα«) zu derselben »literarischen Einheit« gehören sollen und diese Einheit zugleich die literarische Verbindung zwischen Urgeschichte und beginnender Völkergeschichte (308 differenziert in Gen 1[sic!]–9 und 10 f.; 331: Gen 2[sic!]–11) auf der einen und der Erzelterngeschichte (308 und 331: Gen 14 ff.; 308 einmal: Gen 15–50*) auf der anderen Seite »voraussetzt oder … selber schafft« (308, vgl. 331).
Die Lesbarkeit des Buches ist in einigen Passagen leider durch stehengebliebene grammatische Fehler beeinträchtigt. So lautet das letzte Fazit zu dem einzigen der im Untertitel genannten Texte, der ךרב nicht im ni. oder hitp., sondern im pi. mit den Völkern als Objekt verbindet (185): »Für die sprachlichen Probleme von ךרב Nif/Hit ergibt [sic!] sich von Sir 44,21b keine weitergehenden Hinweise [sic!]. In inhaltlicher Hinsicht belegt Sir 44,21b für eine Zeit um 190–180v. die Vorstellung eines durch Abrahams Samen vermittelten Segen [sic!] Gottes für andere Nationen.« Für diejenigen, welche ein Buch lieber von hinten nach vorn lesen, sei vermerkt, dass auf S. 314 nicht, wie vom Register her zu vermuten, Esra 51,2 zitiert wird, sondern Deuterojesaja, weil wohl aus Es = Esaias versehentlich Esr geworden ist, und dass sich der hilfreiche schematische Überblick über die motivgeschichtliche These nicht, wie nach dem Verweis auf S. 327 zu erwarten, auf S. 209, sondern auf S. 233 befindet. Weitere die Lektüre erleichternde Übersichten finden sich u. a. auf den Seiten 127–134; positiv hervorzuheben ist auch, dass die analysierten hebräischen Texte zusammen mit der Übersetzung des Vf.s in lesefreundlicher Anordnung der jeweiligen Exegese vorangestellt sind.
Ein wichtiges gemeinsames Ergebnis der Arbeiten von Grüneberg und dem Vf. besteht darin, dass ein »Gesegnetwerden durch Abraham« wieder in den Bereich des exegetisch Vertretbaren gerückt ist. Darüber hinaus gibt dieses Buch wichtige Denkanstöße in motivgeschichtlicher Hinsicht, insbesondere durch die Einbeziehung von Ps 72 und Jer 4. In der Frage der relativen Chronologie der behandelten Genesisstellen ist dagegen auch nach diesem Beitrag ein Ende der kontroversen Debatten nicht in Sicht.