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Ausgabe:

Januar/2010

Spalte:

26-28

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Scopello, Madeleine [Ed.]

Titel/Untertitel:

The Gospel of Judas in Context. Proceedings of the First International Conference on the Gospel of Judas. Paris, Sorbonne, October 27th–28th, 2006.

Verlag:

Leiden-Boston: Brill 2008. XV, 404 S. gr.8° = Nag Hammadi and Manichaean Studies, 62. Geb. EUR 99,00. ISBN 978-90-04-16721-6.

Rezensent:

Gesine Schenke Robinson

Dieser von Madeleine Scopello besorgte Sammelband enthält die auf der Ersten Internationalen Konferenz zum Judasevangelium (L’Évangile de Judas. Le contexte historique et littéraire d’un nouvel apocryphe) vorgelegten Beiträge. Die Herausgeberin hatte die Ta­gung, die vom 26. bis 27. Oktober 2006 in Paris stattfand, mit dem erklärten Ziel organisiert, ein paar Monate nach dem Erscheinen der ersten Publizierungen zum Judasevangelium Spezialisten auf dem Gebiet der Gnosisforschung die Möglichkeit zu geben, diesen neuen apokryphen Text zu diskutieren (Preface, XI).
In ihrem Vorwort nennt sie einige der brennenden Fragen, de­nen sich die Teilnehmer der Tagung zu widmen trachteten (XII): Welchen Stellenwert hat der Text im gesamten Codex Tchacos, in dem er sich als dritte Schrift findet? Inwieweit kannte sein Verfasser die kanonischen Evangelien? Ist das Judasevangelium das Manifest abtrünniger Christen in Ägypten? Inwiefern erhält die Existenz einer sethianischen Gnosis neue Beweiskraft durch die sethianische Mythologie und die Erwähnung Seths in diesem Text? Gehen die Anspielungen auf Astrologie und Tierkreiszeichen im Judasevangelium auf jüdisch-christliche Traditionen, griechische Spekulationen oder iranische Überlieferungen zurück? Verschafft die die ganze Schrift durchziehende jüdische Mystik, besonders im Hinblick auf die Engellehre und die Visionen, eine Möglichkeit, das Milieu der Komposition zu ermitteln? Gehörte der Verfasser der Schrift zu einer ganz bestimmten gnostischen Schule? Welche Gruppen benutzten diesen Text und an welche Hörer- oder Leserschaft wendet er sich? Gemessen an der sensationsheischenden ersten Interpretation dieses wiederentdeckten Zeugen antiorthodoxer Strömungen im Frühchristentum versprachen derartige Leitgedanken die in Gang gekommene Debatte auf eine neue Stufe zu heben und die besonders von den Medien aufgegriffene und weiter verbreitete Sicht durch detaillierte Forschungsergebnisse zu korrigieren. Dem tragen denn auch die hier vorliegenden Abhandlungen Rechnung, bei denen die 2007 erschienene kritische Edition des Codex Tchacos bereits miteinbezogen wurde.
Unterteilt ist das Buch in fünf Sektionen, angefangen mit Fragen zur sprachlichen und literarischen Gestaltung des Textes (Textual and Literary Issues), denen Untersuchungen seiner Quellen und Einflüsse (Sources and Influences) folgen. Im dritten Abschnitt finden sich traditionsgeschichtliche und historisch-kritische Analysen zur Judasgestalt (Judas: Traditions and History), während der vierte die Beurteilung der Judasfigur selbst in den Vordergrund rückt (Judas: Hero or Villain?). Der letzte Teil bietet Beiträge mit unterschiedlichen Themen (Thematical Approaches). Bibliographie und Indizes schließen den Band ab.
Im Einzelnen handelt es sich um zehn französische und elf englische Artikel, die die verschiedensten Aspekte dieser vielschichtigen antiken Schrift beleuchten, die zweifellos geeignet ist, unser Bild von den diversen gnostischen Richtungen der ersten nachchristlichen Jahrhunderte zu erhellen. Den Reigen eröffnend wendet sich Nathalie Bosson vornehmlich linguistischen und stilis­tischen Problemen des Judasevangeliums zu, dem sie eine sehr eigene, individuelle Sprache bescheinigt. Nach Jean-Pierre Mahé, der die dramatische Gestaltung des Judasevangeliums analysiert, spielt sich vor unseren Augen ein Drama ab, in dem »le Judas de notre texte, qui détient effectivement une gnose du monde supérieur, n’en demeure pas moins un réprouvé« (32). Stephen Emmel ist besonders beeindruckt von der Schlussszene, die ihn erwägen lässt, ob es bei der Schrift nicht letztlich um den Tod geht und ihre eigentliche Botschaft darin besteht, »that the reader need not to be afraid of death, just as Jesus is ... not in the least concerned about the coming sacrifice of ›the man who bears‹ him« (39). Marvin Meyer wiederholt im Wesentlichen seine in der Erstausgabe des Judasevangeliums vertretene Position, die er allerdings angesichts zahlreicher Einwände und notwendiger Textkorrekturen in modifizierter Form präsentiert.
In der nächsten Sektion beschäftigen sich zwei Beiträge mit dem Phänomen des »lachenden Erlösers« in der Schrift. So sieht James Robinson die engsten Parallelen zu diesem Konzept in Basilides, während Glenn Most im Vergleich mit Demokrit und Hera­klit den lachenden Jesus dem bekümmerten Judas gegenüberstellt. Bernard Pouderon fragt nach Archetypen unter den Jüngern Jesu und versteht Judas, ebenso wie Thomas, als Gegenpol zu Jakobus, Petrus und Paulus. Ebenfalls im Dialog mit den kanonischen Evangelien widmet sich Cécile Dogniez dem Motiv der 30 Silberlinge, das bezeichnenderweise im gnostischen Judasevangelium fehlt.
Majella Franzmann geht jüdischen Einflüssen im Text nach und sieht in Judas eine Figur, die wie Abraham eine neue Generation anführt und bereit ist, einen Menschen zu opfern, doch steht Judas unter dem negativen Einfluss seines Sterns, so dass die »new children of Abraham have for their father one whom they detest, who sacrifices Jesus« (121). In Madeleine Scopellos Beitrag werden besonders Elemente der jüdischen Mystik im Judasevangelium beleuchtet, mit denen sich auch Simon Mimouni auseinandersetzt, der den historischen, literarischen und theologischen Aspekt der Judasgestalt untersucht. Jean-Daniel Dubois nähert sich dem Verständnis der Schrift in detaillierter Gegenüberstellung mit der Tradition des Basilides und seiner Schule, »avant d’essayer de lui appliquer les étiquettes des hérésiologues antiques« (154).
Der nächste Abschnitt präsentiert Interpretationen des Judasevangeliums, die sich kritisch mit der Erstausgabe auseinander­setzen.
Einar Thomassen hinterfragt die offenbar voreilig auf eine Re­habilitierung der Judasfigur abzielenden Argumente und kommt zu einer unterschiedlichen Auslegung des Textes. In die gleiche Richtung geht Louis Painchaud, der sich den provokativen Aspekten in Gottesbild, Christologie und Eucharistieauslegung der Schrift mit dem Ergebnis zuwendet, sie »uses the demonized figure of Judas in order to serve its own polemical agenda« (184). Auch John Turner bietet nach eingehendem Vergleich des Judasevangeliums mit sethianischen Schriften eine differenzierte Gegendarstellung und fragt an­gesichts der einschlägigen Irenäusnotiz, ob »the Gospel of Judas we now possess is in fact a Sethian rewriting of a yet earlier Gospel of Judas in which Judas’s handing over of Jesus was portrayed in an unambiguously positive light« (229). Am stärksten geht April DeConick mit der ursprünglichen Textinterpretation ins Gericht. Für sie ist Judas kein menschliches Wesen, sondern ein Dämon, identifiziert mit Jal­dabaoth selbst, der Jesu Vernichtung plant und eine entscheidende Rolle im archontischen Gefecht spielt.
Im letzten Teil nehmen José Montserrat-Torrents zur Kosmologie, Ezio Albrile zu persischen Elementen, Seonyoung Kim zum astrologischen Konzept, Anna Van den Kerchove zur Polemik und Fernando Bermejo Rubio zum Lachen im Judasevangelium Stellung.
An der Vielseitigkeit der Themen wird bereits die ernsthafte und weitreichende Bemühung um diese faszinierende Schrift und ihre ambivalente Hauptfigur deutlich. Die Erforschung des Judasevangeliums steckt immer noch in den Kinderschuhen und braucht daher die besonnene und fachkundige Auseinandersetzung, die seine Bedeutung nicht unterminiert, aber auch nicht sensationalisiert. Sachverständige, am Text orientierte Diskussionen können dieser Entwicklung nur förderlich sein, auch wenn sie konkurrierende Interpretationen hervorbringen, bis sich vielleicht einmal ein Konsensus darüber abzeichnet, was dieser Text wirklich sagen will, von welcher gnostischen Richtung oder Gruppe er getragen und für welchen Zweck er benutzt wurde. Wer mit der auf Schlagzeilen bedachten anfänglichen Auslegung nicht glücklich war, wird das Erscheinen dieser Anthologie mit den vielfältigen Versuchen einer weiterführenden Erhellung der Schrift und ihrer spezifischen Probleme vorbehaltlos begrüßen.