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Ausgabe:

Januar/2010

Spalte:

24-26

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Schramm, Christian

Titel/Untertitel:

Alltagsexegesen. Sinnkonstruktion und Textverstehen in alltäglichen Kontexten.

Verlag:

Stuttgart: Katholisches Bibelwerk 2008. 544 S. m. Abb. u. 1 Textbeilage. 8° = Stuttgarter Biblische Beiträge, 61. Kart. EUR 52,00. ISBN 978-3-460-00611-9.

Rezensent:

Detlef Dieckmann

»Raus aus dem exegetisch-universitären Elfenbeinturm« (492), rein in die »hermeneutischen Labors« (20) der Alltagsexegesen! So lässt sich die Botschaft zusammenfassen, die Christian Schramm in dieser auf seiner Dissertation basierenden Monographie an die exegetische Wissenschaft richtet. Das Einleitungskapitel mit der Überschrift »EinBlick« (13–28) geht dabei von der These aus, die exege­tische Fachwissenschaft befinde sich in einer Sackgasse, weil sie kein Interesse an der »Alltagsexegese« habe, die S. als »Bibelauslegung in alltäglichen Zusammenhängen« (29) definiert. Um dieses Problem zu bearbeiten, schlägt S. vor, in Zukunft stets zu fragen: »Wie versteht ihr, was ihr lest?« (21) Ihm geht es darum, »die eigene Studierstube ... zu verlassen und sich in die alltägliche Welt des (Bibel-) Lesens und des (Bibel-)Verstehens zu begeben« (23).
Der knappe Forschungsüberblick zeigt, dass S. mit seiner Studie auf dem Gebiet der neutestamentlichen Exegese Pionierarbeit leis­tet. Die Tatsache, dass rezeptionsorientierte und empirische Literaturwissenschaftler wie Stanley Fish, Siegfried J. Schmidt und andere keine Erwähnung finden, lässt bereits vermuten, dass S. eher an die Soziologie als an die Literaturwissenschaft anschließt.
Im ersten der drei Hauptteile beschreibt S. das »Methodisch-theoretische Fundament« (29–131), auf dem seine Forschungen gründen. Dabei geht er von dem Terminus und der Theorie des konjunktiven Erfahrungsraumes des Soziologen K. Mannheimer (1893–1947) aus.
Für die Arbeit mit Gruppen statt mit Einzelpersonen entscheidet sich S. nicht nur, weil er sich für diese konjunktiven Erfahrungsräume interessiert, die hinter den »Orientierungsrahmen« der Gruppen stehen, sondern auch deswegen, weil Bibeltexte S.s An­sicht nach weit häufiger in Gruppenzusammenhängen rezipiert werden. Zudem erhofft sich S. durch die Gruppendiskussionen »ein deutlich breiteres Spektrum von Meinungen/Auffassungen/Deutungen« und vermutet, dass »extreme Einzelmeinungen innerhalb der Gruppe relativiert und korrigiert werden«, so dass sich »die Gefahr reduziert, Extrempositionen als repräsentativ auszugeben« (36). Für seine Untersuchungen hat S. zwölf bereits vor der Studie bestehende (»Real«-)Gruppen ausgewählt, die er nach den wich­tigs­ten soziodemographischen Parametern beschreibt. Mit dem ermittelnden Gruppendiskussionsverfahren hat S. eine Methode der Datenerhebung gewählt, die nicht auf quantifizierbare, repräsentative Ergebnisse, sondern auf eine qualitative Auswertung abzielt. Durchgeführt hat S. dieses Verfahren in Gruppensitzungen, die von einem externen Leiter (wahrscheinlich von ihm selbst) moderiert wurden. Dieser Moderator hat, nach der Selbstvorstellung der »Teilnehmerinnen« – S. benutzt durchgängig das gene­rische Femininum – und nach der Vorstellung der Gruppe durch einzelne Teilnehmerinnen, spontane Assoziationen zum Thema »Bibel« abgefragt und ein Zitat ins Gespräch gebracht, das als zentral für den danach jeweils schriftlich ausgeteilten Bibeltext be­zeichnet wurde: zunächst Mt 5,38–48 und dann Mk 5,24b–34. Bei der Gruppendiskussion lag S. an der Selbstläufigkeit und an einer passiv-rezeptiven Diskussionsleitung. Das schloss allerdings nicht aus, dass der Moderator dann lenkend eingriff, wenn »das (eigentliche) Thema völlig verlassen wurde und man sich auf einen as­soziativen Streifzug« begab (60). Die Gruppengespräche wurden akus­tisch aufgezeichnet und nach einem einfachen Verfahren transkribiert, bei dem überlappende Äußerungen in mehreren Spalten dargestellt wurden. Für die in jeder Gruppe unterschiedliche Rekonstruktion eines Textes prägt S. den Begriff »Hypertext«. Dieser Hypertext existiert gleichsam virtuell, er entsteht durch die Rezeption der schriftlich vorliegenden Textbasis.
Weiterhin will S. den Textverstehens- und Sinnproduktions-Prozess daraufhin untersuchen, ob die Gruppen ›methodisch‹ oder sogar ›methodisch reflektiert‹ vorgehen. Dabei macht er das me­thodische Verfahren daran fest, ob solche Verfahrensweisen ge­braucht werden, die in der Fachwissenschaft geläufig synchron oder diachron genannt werden. Die synchronen Methoden be­zeichnet S. als »textintern«, die diachronen als »textextern« (88).
In soziologischer Hinsicht geht es S. darum, den Orientierungsrahmen der Gruppe zu rekonstruieren und ihn mit dem methodischen Vorgehen, der Textwahrnehmung und -ausblendung, mit der Positionierung zum Text und mit den Strategien der Sinnkonstruktion in Verbindung zu bringen. In Vorbereitung der Gruppendiskussionen wirft S. auf nicht mehr als je vier Seiten einen Blick auf die beiden ausgewählten Texte, zu deren deutscher Übersetzung er anmerkt: »Ein synoptischer Vergleich zwischen dem griechischen Text einerseits, den gebräuchlichen deutschen Bibelübersetzungen Einheitsübersetzung und revidierte Lutherübersetzung andererseits zeigt, dass mit Blick auf die interessierenden Stellen Mt 5,38–48 und Mk 5,24b–34 keine großen Differenzen vorliegen. Entsprechend wird mit einer am griechischen Text überprüften und auf dieser Basis leicht korrigierten deutschen Fassung gearbeitet, die weitgehend an die beiden geläufigen deutschen Bibelübersetzungen erinnert.« (68) Diese Übersetzung, die nicht weiter erläutert oder begründet wird, druckt S. in segmentierter Form ab, um dann einige ihm aufgefallene Strukturmerkmale und »Details« (126) zu nennen. »Textexterne«, also diachrone Verfahrensweisen kommen nicht zum Zuge, für eine Darstellung oder Auseinandersetzung der reichhaltigen exegetischen Diskussion zu diesen Texten oder für die Beschäftigung mit ihrer immensen Wirkungs- und Forschungsgeschichte (Bergpredigt, »Antithesen«) ist kein Raum.
Im zweiten Hauptteil (135–472) präsentiert S. die Auswertung der Gruppenstudien in vier Untersuchungsgängen (A bis D):
(A) Nach einer kurzen Beschreibung jeder Gruppe untersucht er ihr Vorgehen daraufhin, ob es un-methodisch verfährt, ob es als methodisch bezeichnet werden kann oder ob es sogar eine methodische Reflexion erkennen lässt.
(B) Danach rekonstruiert S. die Textwahrnehmung und Hypertext-Rekonstruktion. Hier kommt es gelegentlich vor, dass er eine Lektüre als »schon etwas eigenwillig« (145) bewertet oder in der Hyptertext-Rekonstruktion einen »Unterschied zum Bibeltext« (146) feststellt.
(C) Im dritten Untersuchungsgang stellt S. dar, wie sich die einzelnen Gruppen durch Identifikation oder Kritik zu den gelesenen Texten positionieren.
(D) Abschließend werden die Strategien der Sinnkonstruktion und des Textverstehens zusammengefasst. Hier wird deutlich ge­macht, auf welchem Wege es den Gruppen gelingt, »den vorgelegten Texten selbst einen für sie akzeptablen Sinn abzuringen« (261).
Am Ende von Teil II systematisiert S. seine Beobachtungen in drei Gesamtstrategien: Erstens geschieht in vielen Gruppen ein implizit-selbstverständliches oder problematisierendes Übersetzen, womit S. das Über-Setzen des Textes in die Lebenswelt meint. Zweitens kritisieren Gruppen entweder die Welt, den Alltag, die Ge­sellschaft mithilfe des Bibeltextes oder aber umgekehrt den Bibeltext aus der Sicht der heutigen Welt bzw. des eigenen Alltags. Und drittens selektieren nach S.s Analyse Gruppen, indem sie sich entweder auf die als positiv empfundenen Elemente oder auf die als negativ, weil störend erlebten Gesichtspunkte konzentrieren.
Als Erkenntnisse und Resultate (473–507) hält S. fest, »dass trotz identischer schriftlicher Textvorlage jede Diskussionsgruppe im Grunde einen anderen, eigenen Text auslegt und diskutiert« (475). Das geschieht durch Textwahrnehmung, Ausblendung/Ignorierung, Umformulierungen und durch Neukombinationen/Um­stel­lungen sowie Verlinkung/Einspielung zusätzlichen Materials (476).
Ursächlich für die verschiedenen Hypertext-Rekonstruktionen ist der spezifische Orientierungsrahmen jeder Gruppen, der zu einer unterschiedlichen Text- und Sinnkonstruktion und zu divergenten Positionierungen führt. Dabei ist der methodische Werkzeugkasten alltagsexegetischer Gruppen »prall gefüllt« (481), was nicht nur für die »Profis«, d. h.: studierte Theologinnen, sondern auch für die »Laien« gilt. Somit zeichnet sich die fachwissenschaftliche Exegese nicht durch eine exklusive Methodizität aus, sondern eher durch einen weitergehenden Anspruch, durch einen reflektierten Methodengebrauch und einen Vorsprung an Wissen, Kenntnis und Erfahrung. Daraus erwächst der wissenschaftlichen Exegese die Aufgabe, eine Anwaltschaft des Textes wahrzunehmen.
Abschließend macht S. für sich geltend, »jenseits aller historischen oder idealisierten (Re-)Konstruktionen ... auf empirischem Wege den wirklichen, konkreten, greifbaren, heutigen Leserinnen nachgespürt« zu haben (474). Dies verbindet S. im abschließenden »AusBlick« (508–523) mit einem leidenschaftlichen Plädoyer für einen Systemwechsel der exegetischen Fachwissenschaft zu einer Diskussionskultur, in der es nicht mehr darum geht, in Gutachten und auf Tagungen andere wie Gegner zu behandeln, gegen die man sich durchzusetzen hat.
Mit dieser Arbeit hat S. einen umfänglichen, fundierten und engagierten Beitrag zu einem in der Bibelwissenschaft neuen und innovativen Feld geleistet, das man »Empirische Bibelforschung« nennen kann. Mit den Begriffen der »Alltagesexegese« und des »Hy­pertextes« macht S. zwei terminologische Vorschläge, die weitere bibelempirische Studien meines Erachtens nicht mehr diskussionslos übergehen können. Aus der exegetischen Perspektive des Rezensenten könnte es jedoch ratsam erscheinen, etwas länger in der Studierstube zu verweilen, als S. dies tut. Denn: Stellte ein Forscher zunächst eingehend und umfassend seinen ›Hypertext‹ dar, dann würde dies sicher die Anschlussfähigkeit der empirischen Studien an die exegetisch-universitäre Wissenschaft erhöhen. Gleichzeitig bliebe stets der Bezugspunkt deutlich, vor dem fremde Hypertext-Konstruktionen als eigenwillig oder abweichend bezeichnet werden. Als jemand, der selbst umfangreiche empirische Einzel-Studien zur Lektüre biblischer Texte aus den Büchern Genesis und Kohelet durchgeführt hat, frage ich mich, welche Unterschiede zwischen einer von Forscherinnen und Forschern möglichst unbeeinflussten Rezeption und einer Gruppenstudie bestehen mögen, bei der der Gruppe vorgegeben wird, was der zentrale Vers eines Textes und das eigentliche Thema der Diskussion ist, und bei der extreme Positionen in den Gruppenkonsens zurückgeholt werden. Wie extrem, wie wild und anarchisch sind Lektüren möglicherweise, wenn niemand sie moderiert?
Doch insgesamt zeigt sich: S. macht Lust darauf, seinem Appell zu folgen und in ein konstruktives Gespräch einzutreten, bei dem Fachwissenschaftler und Alltagsexegeten sich untereinander und gegenseitig befruchten.