Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2010

Spalte:

19-21

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Frey, Jörg, Popkes, Enno Edzard, u. Jens Schröter [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Das Thomasevangelium. Entstehung – Rezeption – Theologie. Hrsg. unter Mitarbeit v. Ch. Jacobi.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2008. IX, 545 S. gr.8° = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche, 157. Lw. EUR 98,00. ISBN 978-3-11-020246-5.

Rezensent:

Dieter Lührmann

Grundlage des Bandes ist eine internationale Tagung zum Thomasevangelium, die 2006 in Eisenach stattfand. Über die dort ge­haltenen 14 Referate hinaus sind, wenn ich das Vorwort so verstehen darf, fünf weitere Aufsätze aufgenommen worden. Damit ergibt sich ein weites Spektrum nicht so sehr an prononcierten Meinungen, sondern an detaillierten Fragestellungen, alten wie neuen, mit denen das EvThom unter verschiedenen Blickwinkeln be­trachtet wird. Nicht alle erweisen sich gleichmäßig als ertragreich, aber auch die Fehlanzeige bei einer Perspektive kann ja gelegentlich für die Interpretation Bedeutung haben. Gemeinsam ist allen, das EvThom gegen etwaige Frühdatierungen und ohne das pauschale Etikett »gnostisch« als »eine eigenständige Neuinterpretation der Jesusüberlieferung auf mythologisch-philosophischer Grundlage im zweiten Jahrhundert« (15) zu sehen.
Am Anfang steht eine genaue Beschreibung der drei Oxyrhynchus-Papyri (1, 654.655) mit griechischem Text aus dem EvThom durch Larry Hurtado (19–32), wie auch durchgehend in anderen Beiträgen das Verhältnis zwischen griechischer und koptischer Fassung bei einzelnen Logien immer wieder einmal als Problem angesprochen wird. Stephen Emmel (33–50) hingegen fragt mit einigen überraschenden Beobachtungen nach der Bedeutung der koptischen Sprache für die Überlieferung gnostischer Texte. Nicholas Perrin (50–59) überprüft Indizien für eine eventuelle, immer einmal wieder behauptete aramäische oder auch syrische Grundlage des EvThom – mit insgesamt negativem Ergebnis. Uwe-Karsten Plisch (60–71) erörtert linguistische Probleme des EvThom unterschiedlicher Art. Beziehungen zur paulinischen Literatur sind auch weiterhin allenfalls in den Logien 53 und 17 zu finden (Simon Ga­thercole, 72–94), was eine Vertrautheit mit den Paulusbriefen insgesamt un­wahrscheinlich macht. Gregory E. Sterling (95–121) un­tersucht die drei Fassungen des Gleichnisses vom großen Abendmahl in Mt, Lk und EvThom als je eigenständige Überlieferungen. Den Rahmen sprengt ein wenig der überlange Beitrag von Jörg Frey (122–180) mit einem ersten – streckenweise recht polemisch gegenüber James M. Robinson und Helmut Köster sowie letztlich Rudolf Bultmann gehaltenen – forschungsgeschichtlichen Teil zur Frage einer et­waigen Priorität gegenüber den kanonischen Evangelien (122–147). In einer darauffolgenden Studie nimmt er die Logien 36 und 37 verglichen mit Q 12,22–32 (die Sorge um die Kleidung) als Testfall, der jedenfalls an dieser Stelle zu Ungunsten des EvThom ausgeht. Dieser Text war ja vor Jahren Gegenstand einer Kontroverse zwischen Robinson und anderen über methodologische Fragen der Q-Forschung gewesen. Stephen J. Patterson (181–205) sieht das EvThom als – möglicherweise erstes – Zeugnis einer Verbindung christlicher Theologie mit dem (mittleren) Platonismus. April D. DeConick (206–221) hingegen findet den religionsgeschichtlichen Hintergrund in der Mystik syrischer Prägung. Zur Frage der hier und anderswo angesprochenen eventuellen Rezeption des EvThom im syrischen Bereich könnte m. E. eine Einbeziehung der Makarius/ Simeon-Literatur (in griechischer Sprache) aus dem 4. Jh., die wahrscheinlich im Hinterland von Antiochien beheimat ist, neues Material erbringen (zu Logion 113 u. a.). Mar­tina­ Janzen (222–248) sieht auch im EvThom Thomas aufgrund seines »sprechenden« Namens als Zwilling Jesu vorgestellt. Jutta Leonhardt-Balzer (251–271) untersucht mögliche Verbindungen des EvThom zum Apokryphon des Johannes, dessen eine Fassung ihm in dem entsprechenden Nag-Hammadi-Codex II vorausgeht, kommt jedoch zu keinen eindeutigen Ergebnissen. Die immer wieder einmal vermuteten Beziehungen zu manichäischen Schriften entfaltet mit großer Kenntnis und unter verschiedenen Aspekten Peter Nagel (272–293), ohne dass sich mehr als ein marginaler Gebrauch des EvThom nachweisen lässt. Umso wertvoller ist dann eine deutliche Anspielung auf Logion 3 (279 f.), da das – verglichen mit Lk 17,21 – überschießende »und außerhalb« als ursprünglich gesichert wird, während der griechische Text von POxy 654 an dieser Stelle eine Lücke hat. Dies ist im Übrigen, wenn ich richtig sehe, der einzige Beitrag, in dem überhaupt nach Zitaten aus dem EvThom gefragt wird; offenbar sind sie insgesamt sehr rar. Taka­shi Onuki (294–317) problematisiert von Logion 77 her die Behauptung eines einheitlichen gnostischen Hintergrundes. Das EvThom mit den Augen des Epiphanius von Salamis zu lesen, wie es Jürgen Dummer tut (318–325), führt nicht sehr weit, allenfalls zu neuen Fragen. Christian Tornau hingegen bezieht die neuplatonische, insbesondere Plotins Kritik an den Gnostikern speziell auf das EvThom. Unter dem zunächst irritierenden Titel »Jesus und die Tora als ethische Norm nach dem Thomas-Evangelium« (363–379) interpretiert Hermut Löhr sehr differenziert einschlägige Logien und kann zeigen, dass Motive aus diesem Umkreis durchaus vorhanden sind, erweitert noch um die Frage der Beschneidung (Logion 53), aber natürlich nicht dominieren. Offen lässt er die Frage, ob sich im EvThom eine innerchristliche Debatte um das »neue Gesetz« nachweisen lässt (377 f.). In einer minutiösen Untersuchung zu Logion 3 weist Wilfried Eisele (380–415) nach, dass im Unterschied zum koptischen Text im griechischen nicht »Anführer« gemeint sind, sondern »die euch zu überzeugen versuchen«. Enno Edzard Popkes (417–434) fasst anhand der Logien 83 und 84 Ergebnisse seiner Arbeit zur Anthropologie des EvThom zusammen. Jens Schröter schließlich nimmt das EvThom als Herausforderung für eine theologische Interpretation, be­sonders in dem Versuch einer Verbindung der Jesusüberlieferung mit zeitgenössischer Philosophie (435–459). Ein Literaturverzeichnis (461–503) und umfangreiche Register (509–545) erschließen den Band für weitergehende Forschungen, die nicht zuletzt von den vielen Einzelbeobachtungen profitieren können.
So haben wir alles in allem einen sorgfältig gearbeiteten und ebenso redigierten Band vor uns mit Beiträgen auf gleichmäßig hohem Niveau. Er wird der weiteren Arbeit viele Impulse geben. Aber: Wann erfährt der nirgends in einem der Aufsätze (außer 129 zum Hebräerevangelium?) erwähnte Didymus von Alexandrien die ihm gebührende Beachtung? Sein Name fehlt jedenfalls unter den Textausgaben wie im Sachregister. Dieser Zeitgenosse des Athanasius nennt in einem – auch für die Kanonsgeschichte insgesamt wichtigen – Zusammenhang das Thomas- und das Petrusevangelium (EcclT I 8,3–5) als Beispiele für gefälschte Evangelien. Damit gehört er, und wohl auch Makarius/Simeon (s. o.), in die – in vielen der Beiträge wiederholte – Kette der Zeugen neben Hippolyt, Origenes, Euseb und Cyrill. Darüber hinaus beweisen die beiden – anonymen – Zitate der Logien 7 (PsT V 315,23–316,4) und 82 (PG 39, 1488D), dass im griechischen Ägypten des 4. Jh.s Inhalte aus dem EvThom nicht nur bei Häretikern tradiert wurden, sondern auch in großkirchlichen Kreisen zum allgemeinen Bildungsgut gehören konnten.