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Ausgabe:

Dezember/1996

Spalte:

1185 f

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Scholl, Hans [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Karl Barth und Johannes Calvin. Karl Barths Göttinger Calvin-Vorlesung von 1922. Mit Beitr. von J. Fangmeier u.a.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1995. IX, 189 S. 8°. Kart. DM 58,-. ISBN 3-7887-1551-0

Rezensent:

Joachim Rogge

Seit 1993 liegt im Rahmen der Karl-Barth-Gesamtausgabe (Abt. II: Akademische Werke, Bd. 11. Zürich: Theologischer Verlag) die Vorlesung über die Theologie Calvins, hrsg. von H. Scholl, vor. Barth hat sie zu Beginn seines akademischen Lehramtes in Göttingen gehalten. Wer Calvin und die Frühtheologie Barths kennenlernen will, hat hier einen hervorragenden Einstieg. Wer darüber hinaus eine erläuternde Nacharbeit in dankbar-kritischer Akzeptanz dieses großartigen Kollegs haben will, der greife zu der jetzt anzuzeigenden Veröffentlichung, deren Herausgabe wiederum Sch. initiiert hat. Er selbst ist auch mit zwei Beiträgen vertreten.

Der ganze Band geht auf ein Symposion zurück, das vor wie nach der Veranstaltung ein großes Interesse auslöste und vom 23. bis 25. Juni 1994 an der Kirchlichen Hochschule in Wuppertal, der Wirkungsstätte Scholls, stattfand (VII). Die neun auf dem Titelblatt Genannten hielten in sich selbständige Vorträge bzw. Berichte (1-171); ein abschließendes und z.T. summierendes Rundgespräch (Barth und Calvin heute, 172-186) in Gestalt protokollarischer Wiedergabe schließt den Band ab.

Der Hg. gibt im Vorwort präzise Auskunft über das Vorhaben der Hochschultagung und seinen literarischen Niederschlag: "Die Vorträge bilden natürlich das Hauptgewicht des Bandes. Dabei sind die Arbeiten von A. Ganoczy, H. Stoevesandt und meine Beiträge als direkte Kommentare und Auseinandersetzungen mit der Barth-Calvin-Vorlesung 1922 gedacht. Die übrigen Vorträge und die Seminarberichte knüpfen teilweise an die Calvin-Vorlesung an und führen die Thematik Barth-Calvin weiter in theologiegeschichtliche und systematische Fragestellungen der Gegenwart hinein. Wir glauben, daß der vorliegende Band dadurch ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen historischen und systematischen Aspekten des Symposionthemas gefunden hat." (VIII). In der Tat, so findet der Leser es vor: Es wird nicht nur der in seinem Kolleg sich vorstellende Barth vor Augen gebracht; die Beiträger evaluieren buchstäblich Calvin und Barth im Blick auf reformierte Theologie heute.

Es geht wohl nicht anders: Die Themen der Vorträge müssen exakt auch in einer Rezension wiedergegeben werden, damit potentielle Leser, die man dem Band in großer Zahl wünschen möchte, wissen, was sie hier suchen dürfen. Die Reihenfolge innerhalb des Symposions ist eingehalten, ohne systematische Ordnung. Letztere ist auch nicht dringend geboten, weil jeder Beitrag eine in sich geschlossene Leistung ist. Diese Tatsache schließt auch aus, für die hier anzuzeigende Publikation eine flächige Gesamteinschätzung zu geben. Eine absolute Akzentegleichheit bezüglich der Beurteilung Calvins und Barths ist hier nicht vorhanden, und dieses in mehrfacher Hinsicht. Was trägt Calvin heute theologisch aus, wie verhält sich Barth zu dem historisch aufzuarbeitenden Calvin, wie sieht der katholische Theologe A. Ganoczy den Genfer Reformator? All dieses und noch viel mehr wird in dem interessanten Band reflektiert, so daß historische Information und systematisch-theologische Weiterführung ineinandergreifen.

Im einzelnen findet der Leser folgende Themenkomplexe: "Themen und Tendenzen der Barth-Calvinvorlesung 1922 im Kontext der neueren Calvinforschung" (H. Scholl, 1-21), "Der Horizont der Pneumatologie bei Calvin und Karl Barth" (C. Link, 22-45), "Die Rezeption der Theologie Calvins in Karl Barths Kirchlicher Dogmatik. Einige vorläufige Überlegungen zu Barth als Schüler Calvins" (B. Klappert, 46-73), "Calvinismus und Kapitalismus. Anmerkungen zur Prädestinationslehre Calvins" (D. Schellong, 74-101), "Signa praedestinationis. Anhang zu Dieter Schellongs ´Calvinismus und Kapitalismus´" (M. Schulze, 102-106), "Karl Barths Calvinvorlesung als Station seiner theologischen Biographie" (H. Stoevesandt, 107-124), "Wilhelm Niesels Calvin-Sicht und Karl Barths Calvin-Vorlesung. Seminarbericht" (J. Fangmeier, 125-132), "Die Deutung des Mittelalters in Barths Calvin-Vorlesung. Seminarbericht (M. Schulze, 133-139), "Kirche und Sakramente bei Calvin in der Sicht der Calvin-Vorlesung Barths" (A. Ganoczy, 140-154), "Karl Barth als Interpret der Psychopannychia Calvins" (H. Scholl, 155-171). Erwähnung verdient weiterhin die Rundgesprächseinleitung von A. Grözinger mit der interessanten Trias von Leitbegriffen: Globalisierung, Individualisierung, Multikulturalismus (172-174).

Jeder Votierende trägt verständlicherweise via Calvin und Barth auch eigene theologische Einsicht vor, die dem Vorredner bisweilen nicht in allen Fällen folgt. Das macht die Lektüre spannend, gerade auch was die unterschiedliche Aufnahme theologischer Potenzen in der Vergangenheit von Luthers Rechtfertigungsverständnis (20) bis zu Max Webers These zur protestantischen Ethik in Relation zum Geist des Kapitalismus (74) angeht. Es wäre die Quadratur des Zirkels, auch nur die wichtigsten Linienführungen in einer kurzen Rezension aufzuzeigen. "Nimm und lies" ist auch hier nicht nur ein historisches Dictum.

Immerhin: Manches liest mancher vielleicht nicht so gern. Ausgerechnet auf einer Seite, auf der auch einige technische Fehler stehengeblieben sind, findet sich der Satz: "Die Reformation konnte, das wurde spätestens nach der Confessio Augustana klar, nicht einfach mit dem schönen Rechtfertigungsglauben Luthers selig lallend dahinträumen. Sie mußte mit diesem Glauben auch hellwach leben. Sie mußte diesen großen Glauben in die kleine Münze glaubwürdigen reformatorischen Alltags umgießen. Daß das Calvins Werk und Bedeutung im Reformationsjahrhundert war, das hat Barth in aller Schärfe und mit der ganzen Kraft seiner theologischen Aussage deutlich gemacht." (20) Hinter solcher Diktion müßte man den Wittenberger Reformatoren fast eine relative Schlafmützigkeit oder Traumtänzerei bescheinigen ­ ein etwas abstruser Gedanke. Glücklicherweise steht an anderer Stelle anderes. H. Stoevesandt zitiert aus der Lutherpassage in der Calvin-Vorlesung Barths (a.a.O.): "´Ein guter Reformierter´, heißt es einmal, ´muß seine Sache immer damit anfangen, daß er Luthers einzigartige Stellung in der Reformation glatt anerkennt und von Luther sich auch dadurch nicht abdrängen läßt oder selber löst, daß er sich, den Winken Zwinglis und Calvins folgend, genötigt sieht, einen Schritt über Luther hinaus zu tun, sondern, indem er das ganz bewußt tut, immer wieder auf Luthers Ansatz zurückkommt.´" (121)

Wohl alle wichtigen Sachverhalte, die mit reformierter Theologie und der Calvininterpretation generell zu tun haben, sind hier aufgenommen, vom Extra Calvinisticum (21) bis zur ausführlichen Neuinterpretation der 1534 verfaßten "Psychopannychia", die H. Scholl rundheraus als eine reformatorische Schrift sieht. (171) Summa: Das Buch mit seinem viel Arbeitsaufwand zeigenden Vorlauf bekommt sicher einen beachtlichen Platz in der zu aktualisierenden Theologie der Reformation für heutiges Denken. Das ist vornehmlich dem Hg. zu danken.