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Ausgabe:

Dezember/2009

Spalte:

1403–1404

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Kyrill, Patriarch von Moskau und der ganzen Rus’

Titel/Untertitel:

Freiheit und Verantwortung im Einklang. Zeugnisse für den Aufbruch zu einer neuen Weltgemeinschaft. Aus d. Russischen übers. v. X. Werner. Hrsg. v. B. Hallensleben, G. Vergauwen, K. Wyrwoll. M. e. Geleitwort d. Herausgeber.

Verlag:

Freiburg (Schweiz): Institut für Ökumenische Studien der Universität Freiburg Schweiz 2009. 10, XIV, 239 S. m. 1 Porträt. gr.8° = Epiphania, 1. Lw. EUR 19,90. ISBN 978-2-9700643-0-5.

Rezensent:

Joachim Willems

Seit Beginn des Jahres 2009 ist Kyrill (Gundjajew) Patriarch der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK). Bereits als Leiter des Kirchlichen Außenamtes der ROK (1989–2009) war der damalige Metropolit der im In- und Ausland öffentlich am stärksten beachtete Theologe Russlands, der nicht nur maßgeblich die Kontakte der ROK zu an­deren Kirchen und Religionsgemeinschaften prägte, sondern auch die Zusammenarbeit von Kirche und Staat. Vor diesem Hintergrund ist es überaus verdienstvoll, dass das (katholisch-theologische) Institut für Ökumenische Studien der Universität Freiburg (Schweiz) nun eine Reihe von Kyrills Aufsätzen und von Dokumenten, an deren Entstehung Kyrill maßgeblich beteiligt war, in deutscher Sprache herausgibt.

Der erste Teil des Buches (»Persönliche Begegnungen«) enthält Kyrills Ansprache bei seiner Bischofsernennung 1976 und ein Gespräch, das der damalige Igumen Ilarion (Alfejew) (heute Erzbischof von Wolokolamsk) im Jahre 2001 mit Kyrill geführt hat. Dieses Gespräch bietet einen Einblick in die (Kirchen-)Geschichte Russlands im 20. Jh. und über Kyrills Herkunft: Kyrill, geboren 1946, ist Sohn eines Priester, der, weil er in einem Kirchenchor sang, mehr als drei Jahre in Haft und Verbannung verbringen musste, und Enkel eines Priesters, der über 30 Jahre in Gefangenschaft verbrachte. 1965 trat Kyrill ins Theologische Seminar im damaligen Leningrad ein. Dann folgte eine steile kirchliche Karriere: nach einem halben Jahr Studium bereits, neben dem Studium, Mitarbeiter und später persönlicher Sekretär von Metropolit Nikodim, mit 24 Jahren nach Genf zum ÖRK entsandt, mit 28 Jahren Rektor der Leningrader Geistlichen Hochschulen, zehn Jahre später Bischof von Smolensk, ab 1989 Leiter des Kirchlichen Außenamts der ROK.

Der zweite Teil des Buches, »Aufmerksam für die Zeichen der Zeit«, beinhaltet 18 Artikel und Vorträge, die sich vorrangig (und immer wieder mit denselben Argumenten und Beispielen) mit dem Verhältnis von Freiheit und Verantwortung sowie den Themen Liberalismus und Menschenrechte beschäftigen. Dasselbe Themenfeld steht auch im dritten und vierten Teil des Buches im Zentrum, wo es um »Zeugnisse gemeinschaftlicher Aufbrüche« geht (vorrangig finden sich hier Kommuniqués interkonfessioneller und interreligiöser Dialogtreffen) und »Grundlegende Dokumente« abgedruckt werden (Stellungnahmen des Bischofskonzils der ROK zu den Beziehungen zu Andersgläubigen und zu Menschenrechten).
Die Herausgeber beabsichtigen, wie sie im Geleitwort darlegen, die ihrer Meinung nach im Westen bestehenden Missverständnisse zentraler Positionen der ROK auszuräumen. Die Übersetzung von Texten Kyrills ermöglicht nun, ihre Einschätzung zu überprüfen, dass Kyrill keinesfalls antiwestlich und illiberal argumentiere.

Das Ergebnis einer solchen Überprüfung ist gleichwohl ernüchternd: Ansatz der Kritik an der ›westlichen‹ Menschenrechtskonzeption und am ›Liberalismus‹ überhaupt ist, dass beide eine Wahlfreiheit implizierten, die eben auch die Freiheit zur Sünde eröffne. Davor meint Kyrill die russländische Gesellschaft schützen zu müssen. Deshalb lehnt er ab, dass das ›westliche‹ politisch liberale System, das nicht zur ›orthodoxen Kultur‹ passe, auf Russland übertragen wird. Konstruiert wird ein neuer Gegensatz von historischer Dimension: »Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus … steht die Menschheit vor dem Schrecken neuer Kon­flikte, deren Kern eine Machtfrage und eine Wertefrage bilden. In diesem Konflikt stoßen zwei Systeme aufeinander: das sä­kular-humanistische und das religiös-traditionsbezogene, liberale An­sichten zu Person und Gesellschaft und Ansichten, die in den traditionsbezogenen Kulturen und Religionen verankert sind.« (64) Das liberale Wertesystem erhebe den Anspruch, universal zu sein, und werde mit Druck bis hin zur Gewalt weltweit durchzusetzen versucht. Demgegenüber wünscht Kyrill, dass »die Abhängigkeit vom sittlichen Gesetz mit den persönlichen und bürgerlichen Freiheiten harmonisch vereint« werde. Dazu müsse »die religiöse Lebensform überall als selbstverständlicher und unbedingter Wert anerkannt« werden (43).

Teilweise können die Ausführungen von Kyrill so verstanden werden, dass er für die allgemeine Anerkennung einer religiös begründeten Moral plädiert, wobei die ROK als zivilgesellschaftlicher Akteur im politischen Meinungsbildungsprozess auftritt. Teilweise aber erhebt Kyrill den Anspruch, dass bestimmte Gesetze erlassen oder verhindert werden müssten, weil sie dem ›göttlichen‹ Gesetz widersprächen (z. B. 83). Dann tritt die ROK in die Rolle der Erzieherin, die, zusammen mit allen »gesunden Kräften unserer Gesellschaft, die Rußland lieben und ihm aufrichtig Gutes wünschen«, den Menschen dabei hilft, »die Tradition als normbildenden Faktor zu begreifen, der das Wertesystem bestimmt, und sowohl dem einzelnen als auch der Gesellschaft eine kulturelle, geistige und moralische Orientierung zu vermitteln« (42). Deutlich wird dieser Anspruch – und das zu Grunde gelegte Zerrbild vom ›Westen‹ – in der Behandlung des Themas Homosexualität: Im ›Westen‹ herrsche keine wahre Freiheit, da jemand, der Homosexualität als Sünde bezeichne, kein öffentliches Amt übernehmen dürfe. ›Belegt‹ wird dies mit dem Fall Rocco Buttiglione, der nicht EU-Kommissar für Justiz und innere Angelegenheiten werden konnte (78). Daraus leitet Kyrill ab, dass die Religion im Westen »fast noch erfolgreicher in den Raum des Privatlebens verdrängt [wird] als bei uns unter der Sowjetmacht« (83). Suggestiv fragt er, ob die Kontrollmaßnahmen, die zur Unterbindung von illegaler Migration, Kriminalität und Terrorismus eingesetzt werden, »eines schönen Tages« zur Anwendung kämen, »um die Erfüllung dieser [liberalen] Normen zu überprüfen« (79).

Die Unterstellung, nur wer der ›liberalistischen‹ Philosophie folge, könne sich im Westen politisch betätigen, übersieht u. a., dass auch ein überzeugter Laizist in Deutschland, wenn er Kultusminister wird, die Regelungen zum Religionsunterricht nach Art. 7.3 Grundgesetz umzusetzen hat. Daraus eine grundsätzliche Diskriminierung und ein Politikverbot für Laizisten abzuleiten, wäre abenteuerlich. Fast noch ärgerlicher als die Ausführungen Kyrills ist, wie die Herausgeber sich auf Kyrill beziehen, um auch von katholischer Seite aus an der antiliberalen katholisch-orthodoxen Allianz zu schmieden. – Die Übersetzung ist, trotz unüblicher Transliteration aus dem Kyrillischen, sehr gelungen bis auf wenige Ausnahmen (warum wird der Ökumenische Rat der Kirchen durchgehend »Weltrat der Kirchen« genannt?).