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Ausgabe:

Dezember/2009

Spalte:

1395–1396

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Lindner, Konstantin

Titel/Untertitel:

In Kirchengeschichte verstrickt. Zur Bedeutung biographischer Zugänge für die Thematisierung kirchengeschichtlicher Inhalte im Religionsunterricht.

Verlag:

Göttingen: V & R unipress 2007. 355 S. gr.8° = Arbeiten zur Religionspädagogik, 31. Geb. EUR 49,90. ISBN 978-3-89971-371-8.

Rezensent:

Reinhold Mokrosch

Biographien von Gestalten der Kirchengeschichte erleichtern Kindern und Jugendlichen den Zugang zur Kirchengeschichte. Das steht außer Frage und ist unstrittig. Strittig ist jedoch, welche Kinder und Jugendliche sich von welchen Biographien aus welchen kirchengeschichtlichen Epochen warum faszinieren bzw. nicht faszinieren lassen. Auf diese strittigen Fragen hätte ich in dieser religionspädagogischen Dissertation Lindners an der katholisch-theologischen Fakultät Regensburg bei dem Kollegen G. Hilger Antwort erwartet. Aber der Vf. schafft es, auf 325 Seiten diese konkreten Fragen nicht einmal zu stellen, geschweige denn zu beantworten.

Ausführlich und äußerst gelehrt differenziert er zwischen Biographik, Biographie und Biographischem, beschreibt ausführlich die Entwicklung vom Struktur- zum Biographieboom, analysiert das wachsende Interesse Jugendlicher an Biographien, referiert Vorbild-, Modell- und Biographie-Lernen, diskutiert die Relevanz der Kirchengeschichte im Religionsunterricht angesichts des sinkenden historischen Interesses Jugendlicher, bespricht die postmoderne Rezeption von Geschichte bei Lyotard und Baudillard und in den Theologien von J. P. Metz und Schillebeeckx und referiert Kirchengeschichtsunterrichts-Konzeptionen seit 1970. Hervorragend! Aber kein einziges Wort über eine konkrete Biographie aus einer konkreten Kirchengeschichtsepoche und deren didaktische Rezeptionen bei Kindern und Jugendlichen verschiedener Schulstufen und Schularten! Das hätte didaktisch interessiert! Wie kommen z. B. die Confessiones von Augustin, die Vita Caroli Magni von Einhart, die Heiligenlegenden des Hoch- und Spätmittelalters, das Leben Luthers, Zwinglis, Calvins, der Weg Gandhis und Dietrich Bonhoeffers u. a. bei welchen Jugendlichen warum oder warum nicht an?

Gut, es handelt sich um keine empirische Arbeit. Aber es gibt reichlich Untersuchungen (A. Bucher), die der Vf. hätte heranziehen können und müssen. Eine religionsdidaktische Arbeit ohne Praxisbezug ist wie Weihnachten ohne Krippe. Hätte der Vf. doch wenigs­tens im Anhang an Stelle seiner »Übersicht über kirchengeschicht­liche Themen in Lehrplänen von fünf Bundesländern« (auf die er im Text mit keinem einzigen Wort zu sprechen kommt!) einen »Überblick über kirchengeschichtliche Biographien in Lehrplänen« ge­bracht, dann wäre er wenigstens etwas an seiner Thematik dran gewesen. Aber nein, er schreibt nur theoretisch, abstrakt und allgemein. Zwar redet er viel von »kirchengeschichtsdidaktischer Dringlichkeit« und nimmt Englerts Begriff des »pünktlichen Lernens« auf. Aber er bringt kein einziges Beispiel »pünktlichen Lernens«. Das Buch könnte auch jemand geschrieben haben, der sich in der Kirchengeschichte überhaupt nicht auskennt. Deshalb ist es für Religionslehrkräfte wohl eine theoretische, aber keine praktische Hilfe.

Meiner Enttäuschung und Kritik möchte ich aber auch Anerkennung und Lob hinzufügen, denn viele der theoretische Teile können, wie gesagt, Religionslehrkräften Theorie-Hilfe leisten: Ausführlich setzt sich der Vf. z. B. mit der Frage auseinander, ob Biographien eventuell ein personalisierendes Geschichtsverständnis ohne sozial- und strukturpolitische Aspekte fördern; ob biographische Geschichtsschreibung wirklich die Wechselwirkung zwischen Individuum, Sozial- und Strukturgeschichte erfasst; wie sich Hagiographie, Biographie und Autobiographie unterscheiden u. Ä. Religionslehrkräfte können sich mit diesen Fragen zu den Nach- und Vorteilen einer Personengeschichte hier bestens informieren. Aber da die Theorien nicht an der Praxis überprüft werden, sind sie eben nicht stabil und zuverlässig. Dafür führt der Vf. intensiv und gekonnt in die Differenzen zwischen Vorbild-, Modell- und Biographie-Lernen ein. Und er referiert alle einschlägigen Untersuchungen zum historischen Interesse und Bewusstsein Jugendlicher. Beides ist für Religionslehrkräfte wichtig.

Die Streifzüge des Vf.s durch die postmoderne Rezeption von Geschichte bei Lyotard und Baudillard ist wie Kirchengeschichte in den Theologien von Metz und Schillebeeckx zwar ein Spezialthema, aber enorm nützlich – was ebenso für die neueren Konzeptionen des Kirchengeschichtsunterrichts zutrifft. Aber man hätte alle diese Themen eben gern auf dem Prüfstand kirchengeschichtlicher Beispiele gestellt. Welche Chance haben oder hätten religiöse Dilemmata in den Konzeptionen von Thierfelder, Mendl, Englert und Lämmermann? Welche Chance haben oder hätten »Local Heroes«, »Local Chris­tians« und »Oral History«? Fragen, die nicht beantwortet werden. Das könnte in einer neuen Untersuchung zur Rezeption biographischer Zugänge zur Kirchengeschichte seitens von Kindern und Jugendlichen im Religionsunterricht abgehandelt werden. In einer Habilitationsschrift dieses hochgelehrten Theologen K. Lindner? Sein Buch wäre eine sehr gute systematisch-theologische Vorarbeit dafür!