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Ausgabe:

Dezember/2009

Spalte:

1389–1391

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Sturm, Stephan

Titel/Untertitel:

Sozialstaat und christlich-sozialer Gedanke.Johann Hinrich Wicherns Sozialtheologie und ihre neuere Rezeption in systemtheoretischer Perspektive.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2008. 318 S. gr.8° = Konfession und Gesellschaft, 23. Kart. EUR 32,00. ISBN 978-3-17-016879-4.

Rezensent:

Ralf Hoburg

Kurz vor dem Beginn des Jubiläumsjahres 2008 zum 200. Ge­burtstag des weithin als Gründervater der modernen Verbandsdiakonie im 19. Jh. geltenden Theologen Johann Hinrich Wichern erschien diese Arbeit, die als Dissertation bereits 1999 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster angenommen wurde. Sie geht auf Anregungen des Kirchengeschichtlers Martin Brecht zurück und wurde inhaltlich von dem Sozialethiker Karl-Wilhelm Dahm betreut.

Das Thema der Arbeit bezeichnet der Vf. selbst in seiner ausführlichen forschungsgeschichtlich orientierten Einleitung mit »Sozialtheologie«. Es geht im weitesten Sinne darum, in einer Neuinterpretation von Wicherns sozialen und politischen Ansichten den Verdacht des »Apolitischen« und des Konservativismus zu relativieren, der vor allem in der Deutung Günter Brakelmanns die Wichern-Forschung lange Zeit maßgeblich bestimmt hat. Dem Vf. liegt daran, das »Vorurteil« von Ungeschichtlichkeit und Kontextlosigkeit bei Wichern zu widerlegen. Seiner Auffassung nach gelingt es Wichern vielmehr, eine seiner Zeit gemäße und durchaus moderne Lösung des sozialen Problems zu liefern, indem er anknüpfend an die Vorstellungen der Zeit »Moral an Religion bindet« (258). Und so kommt der Vf. am Ende seiner Untersuchung zu dem Ergebnis: »Wicherns Modell der Verknüpfung karitativer und gesellschaftlicher Diakonie bietet damit eine modernitätsfähige Verbindung helfender Zuwendung und sozialpolitischer Verantwortungswahrnehmung …« (260).

Der Dissertation gebührt das für die Wichernforschung wichtige Verdienst, den Versuch einer in sich konsistenten Darstellung des Gesellschaftsmodells und der Sozialethik Wicherns vor dem Hintergrund moderner Analysen der politischen Theorie zum Sozialismus bzw. Marxismus präsentiert zu haben. Der Vf. berück­sichtigt auch die verschiedenen biographischen Phasen Wicherns, bewegt sich also zwischen historischer Rekonstruktion und soziologischer bzw. politologischer Analyse, die teilweise auch die ökonomische Theorie der Zeit mit hinzuzieht.

Nach der Lektüre der Arbeit stand für den Rezensenten ein Doppeltes fest: Wichern ist einerseits gesellschaftskritischer, andererseits in seinem theo­logischen Erneuerungsprogramm modernismusresistenter, als er bisher annahm. Die Ursache beider Aspekte liegt in Wicherns Verständnis der Gesellschaft und der Funktion, die er in diesem Gesellschaftsmodell dem Chris­­tentum zuweist. Damit geht der Vf. eigene Wege wissenschaftlicher Wicherninterpretation, die abseits von Günter Brakelmann und den noch älteren Arbeiten Johann Gerhardts liegen. Es könnte interessant sein, die hier begonnenen Linien einer Sozialtheologie Wicherns im Zusammenhang mit der aktuellen Notwendigkeit diakonisch-inhaltlicher Profilierung inmitten eines der Transformation be­dürftigen Sozialstaates weiterzudenken. Besonders die Ausführungen zur diakonischen Profilierung durch die Reich-Gottes-Theologie bei Wichern sind gewinnbringend zu lesen.

Gleichzeitig zeigt die Dissertation aber auch, dass der seinerzeit von Dierk Starnitzke unternommene Versuch, Diakonie und die Systemtheorie Niklas Luhmanns zusammenzubringen, durchaus überstrapaziert werden kann. Die streckenweise ermüdenden Luhmann-Erwägungen des Vf.s innerhalb des dritten Kapitels (191–209.213–239) fordern dem Leser unendliche Geduld ab – und das alles nur, so zeigt sich auf S. 259 der Erwägungen, um zu demonstrieren, dass Günter Brakelmann Unrecht hatte. Zudem wäre der Vf. gut beraten gewesen, sich im Genus des wissenschaftlichen Zuganges zwischen historischer Darstellung und soziologischer Argumentation zu entscheiden.


Im Kern geht es dem Vf. jedenfalls darum, den in der Forschung seit Brakelmann festgestellten konservativen Zug im Denken Wicherns mit Hilfe der Luhmann-Konstruktion als im Kontext der Zeit durchaus modern und anschlussfähig zu erweisen. Aber liegt hier nicht der Verdacht nahe, dass die Brakelmannsche ideologische Brille nur durch eine andere, nämlich die der systemtheoretischen Konstruktion, wonach Systeme auf »autopoiesis« und damit Selbsterhaltung aus sind, ersetzt wird? So beeindruckend geschlossen der Ansatz des Vf.s in sich auch ist, bleibt doch der Verdacht bestehen, dass hier wissenschaftlich zwei Bereiche ins Gespräch gebracht werden, die nicht so recht zueinander passen wollen.

Wenn denn die Widerlegung der von Günter Brakelmann in den 60er Jahren veröffentlichten Auffassung das »geheime« Ziel der Arbeit ist – was im Zuge neuer wissenschaftlicher Forschung durchaus gerechtfertigt erscheint –, so wäre der vom Vf. im Mittelteil der Arbeit erbrachte Beleg einer bei Wichern vorhandenen »antikapitalistischen Haltung« (so 107) und eines eigenen Sozialismus-Verständnisses in historischer Kontextualität weiterzuverfolgen gewesen – etwa durch einen Vergleich zu dem sich ebenfalls mit dem Sozialismus beschäftigenden Gerhard Uhlhorn. Ein vergleichender Zugang, der auf der Ebene historischer Rekonstruktion bleibt, wäre vielleicht geeigneter gewesen, Wicherns Position als »fortschrittlich«, aber dann eben aus ihrem Zeitkontext zu erweisen. Wicherns Position der »Inneren Mission« beruht auf seinem Ge­sellschaftsmodell, oder anders formuliert: Sein nicht wegzudiskutierender vormoderner Zug beruht auf theologischen Prämissen, die rückblickend als konservativ erscheinen. Dieser Wertkonservatismus aber, so interpretiere ich die Überlegungen des Vf.s, ist nicht Ausdruck einer Verweigerung der Moderne, sondern Programm eines dezidierten Gesellschaftsmodells. Aber es bleibt festzuhalten: Der auch vom Vf. bei Wichern erkannte Zusammenhang von »Sünde« als Ursache sozialer Not bzw. »mangelnder Sittlichkeit« (137) ist und bleibt nicht anschlussfähig an eine differenzierte sozialwissenschaftliche Erklärung von Armut und sozialer Verelendung. So liegt es nahe, dass der Vf. am Ende seiner Überlegungen konzediert: »Wichern ist eindeutig kein Vordenker sozialstaatlichen Denkens« (264).

Doch zurück zu den Kernüberlegungen der Arbeit. Im ersten Kapitel erfolgt zunächst die historisch-rekonstruktive Einordnung in die Sachproblematik des 19. Jh.s, die auf das Zentrum der sozialen Frage fokussiert wird. Das zweite Kapitel liefert nach einer historischen Umfeldanalyse eine Analyse der Sozialismus-Rezeption Wicherns. Hier kommt die Arbeit zu sehr guten Beobachtungen und schlüssigen Detailanalysen, weil Wicherns Denken sehr eng an der Textbasis von Wichernschriften erläutert wird. Dabei befasst sich der Vf. intensiv mit der Sozialismus-Konzeption, die Wichern in Auseinandersetzung mit Strömungen seiner Zeit entwickelt hat. Der Vf. kommt zu dem Ergebnis, dass Wichern christlichen und kommunistischen Sozialismus in einem direkten Konkurrenzverhältnis sieht (74). Beide haben die gesellschaftlichen Schäden erkannt und wollen sie nun durch unterschiedliche Strategien beseitigen. Die Innere Mission beansprucht sogar, den »wahren Sozialismus« (75) darzustellen. Die Innere Mission strebt die reformerische Regeneration der Gesellschaft an, während der Kommunismus die Grundlagen der Gesellschaft vernichtet, da er in sich areligiös ist und eine »atheistische Grundhaltung« (79) aufweist. Mit diesem Antagonismus ist bereits klar, auf welchen Wegen Wichern die Gesellschaftserneuerung versteht.

Trage ich an dieser Stelle wiederum meine Forderung eines zeitkontextuellen theologiegeschichtlichen Vergleiches etwa zu Uhlhorn ein, hätte deutlich werden können, dass das Manko Wichernscher Deutung gerade in der (aus seiner theologischen Genese heraus erklärbaren) Weigerung besteht, Sozialismus und Kommunismus als poltisch-gesellschaftliche Bewegungen aus ihrem eigenen Selbstverständnis heraus zu erklären. Die Veränderung der politischen Verhältnisse ist für Wichern aus seinem lutherischen Obrigkeitsverständnis heraus schlicht undenkbar. Aus theologischen Gründen musste er – anders als Uhlhorn – den Kommunismus falsch verstehen. Allerdings – so konstatiert der Vf. richti g– ist der Staat nach Wichern »grundsätzlich nicht in der Lage, die sozialen Fragen zu lösen« (83). Hier setzt dann die Lösung des auf der Vereinsbasis organisierten freien Liebeswerkes an. Was aus der historischen Perspektive durch den Vf. gut herausgearbeitet wird, ist die Tatsache der totalen Inkompatibilität der Ansätze: Wichern war ausschließlich an der Reorganisation der Gemeinschaft auf der Basis religiöser Grundlagen interessiert. Den Ansatzpunkt, dass die religiöse Auffassung Wicherns Gesellschaftsmodell prägt, teilt der Vf. durchaus mit Brakelmann. Ein deutlicher Unterschied zur älteren Wichernforschung besteht aber in dem Versuch, die Annahme zu widerlegen, dass der Zusammenhang, den Wichern zwischen Unglaube, Sünde und äußerem Elend herstellt, einer moralisierenden Sicht entspringt (96). Vielmehr – und hier greift dann eine religionssoziologische Kategorie – ist Wichern konkret von einer Kulturtheorie des Christentums geprägt. Das Christentum ist eine »Wohlstand schaffende soziale Größe« (96) und es geht ihm um zwei Ordnungskriterien: um die Integration der deklassierten Gesellschaftsschichten (99) in die bürgerliche Gesellschaft und um deren Stabilisierung. Wichern will die Bevölkerung »moralisch und ökonomisch ›heben‹« (136). Diese Argumentation des Vf.s ist überzeugend und schlüssig. Dennoch bleibt m. E. ein gewisser Wi­derspruch zwischen Wicherns Wertkonservatismus und seiner »grund­sätzliche[n] Offenheit gegenüber modernen politischen Formen« bestehen und wird auch nicht durch die Überlegungen evidenter, wonach Wicherns christentumspolitische Ideale »ein anwendungstheoretisches Modernisierungsprogramm auf ekklesiologischer und sozialethischer Ebene« sein wollen, was der Vf. im dritten Kapitel ausführlich zu begründen versucht.

Hier geht es um ein Modell »sozialer Praxisfähigkeit« (174), das mit der Inneren Mission begründet wird. Dabei rückt der Vf. Wichern nahe an Schleiermachers ethische Kulturtheorie heran, womit erneut der Einfluss Schleiermachers auf Wichern benannt wird. Gesellschaftsreform und Reform der Kirche wachsen somit durch die Innere Mission zu einer Gesamtreform zusammen und der Vf. nennt diesen Ansatz die »Funktionalisierung des Christentums innerhalb der modernen, säkularen Kultur«.

Die Arbeit ist ein diskussionswürdiger Beitrag zur Wichernforschung, dessen Argumentationen und Impulse im Forschungs­diskurs erörtert werden müssen. Die Lektüre war vielfach ge­winnbringend. Dem Vf. gebührt das Verdienst, einen lange existierenden Forschungskonsens kritisch angefragt und überprüft zu haben. Ob das vorgetragene Gesamtkonzept trägt, bleibt in offener Diskussion zu klären.