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Ausgabe:

Dezember/1996

Spalte:

1183–1185

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Rachold, Jan [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Friedrich Schleiermacher –­ eine Briefauswahl

Verlag:

Frankfurt/M.-Berlin-Bern-New York-Paris-Wien: Lang 1995. XII, 435 S. 8° = Kontexte, 17. DM 98,-. ISBN 3-631-47931-X

Rezensent:

Hermann Peiter

Die Idee zu seiner Briefauswahl (96 Briefe von und an Schleiermacher von 1786-1834) entstand Mitte der achtziger Jahre in der ehemaligen DDR ­ unter Bedingungen, von denen Editoren, die sich der Unterstützung durch eine Herausgeber-Kommission und eine Akademie erfreuen, sich nur schwer eine Vorstellung machen können. Dem Verlag Peter Lang gebührt Dank ­ nicht zuletzt dafür, mit dieser Publikation daran erinnert zu haben, daß die Schleiermacher-Forschung selbst in den Jahren der deutschen Spaltung kein westdeutscher Lorbeerkranz, sondern ein gesamtdeutsches Anliegen war, und dafür, daß Racholds Edition nicht das Schicksal meiner zu DDR-Zeiten unter großen persönlichen Opfern entstandenen Ausgabe der Christlichen Sittenlehre Schleiermachers (im folgenden = S.s) zu teilen braucht.

R.s Textgrundlage bildet die Ausgabe von Jonas und Dilthey (1858 -1863), die er mit den Originalen und Abschriften verglichen hat, soweit dieselben im Berliner Akademie-Archiv noch zugänglich sind. An die 40 unvollständig mitgeteilte Briefe wurden vervollständigt; 28 nach 1800 geschriebene Briefe sind erstmals vollständig publiziert. Die Dokumente wurden bei Wahrung des Lautbestandes behutsam modernisiert. Da die Orthographie der Originale dieselben nicht unlesbar macht, empfiehlt sich m. E. für eine Neuauflage ein diplomatisch getreuer Abdruck (und die Beseitigung einer Reihe von Druckfehlern). Im Unterschied zu der Kritischen Schleiermacher-Gesamtausgabe, die nur von einem kleinen Kreis erworben und rezipiert werden kann, ist R.s Auswahl für ein größeres Publikum bestimmt, das auf einen textkritischen Apparat getrost verzichten kann. Immerhin hat R. anders als die Gesamtausgabe eine wenig schmeichelhafte Äußerung über Friedrich Wilhelm II. (unsre dike regierende Fleischmasse) wohl originalgetreu in griechischen Buchstaben (eine Vorsichtsmaßnahme S.s?) mitgeteilt und erläutert. Ein historischer Apparat mit Angaben zur Zeitgeschichte, zu Personen, zur Literatur usw. sowie ein Dokumentenanhang, eine Zeittafel, ein Nachwort und ein Personenregister erleichtern die Benutzung des spannenden Buches.

R. versucht, S. als einen homo politicus, als mutigen und streitbaren deutschen Frühliberalen zu präsentieren (VIlI). "Liberal" ist das Markenzeichen einer Partei, die u.a. fordert: "So wenig Staat wie möglich!" Gewiß bestreitet S. nachdrücklich eine absolute Zulänglichkeit des Staates zur Vollendung des menschlichen Daseins (389). S. betont aber auch, daß der rechte Staat sich als maximum hinstellt und daß die Regierung nicht ausgeschlossen werden kann von der Nationalökonomie (Auswahl Braun 2, S. 470 und 3, S. 615).

Das Glück, in einer Republik zu leben, kann trügerisch sein, solange unklar ist, in was für einer. Auch wenn S. politisch denkt, denkt er konkret ­ wenn er beispielsweise seinem Bruder Karl, einem mittellosen jungen Apotheker, eine Republik wünscht, "wo jedem tätigen Geist aus jedem Gewerbe die Teilnahme an den gemeinen Angelegenheiten offen steht" (57). Eine Republik, in der Leistungen weniger zählen als Herkunft und Beziehungen oder in der ein Heer von Arbeitslosen zwar nicht von den Wahlen, aber vom Erwerbsleben ausgeschlossen ist, hört auf, eine Empfehlung und ein weltanschauliches Aushängeschild zu sein. Wenn S. seinen Bruder nicht gern da wissen möchte, "wo eben eine Republik gemacht wird" (57), zeigt er Angst nicht nur um seinen Bruder, sondern auch um eine Republik (1797), die in demselben bestehen wird, wodurch sie entstanden ist, die also nicht bestehen wird, wenn ihre Anfänge sich nicht wiederholen lassen. Eine Revolution leistet nicht das, was ein reformatorisches Handeln leistet, das niemals am Ende ist, sondern immer weitergeht. Daß S., wie R. schreibt (378), seinen Bruder nicht in die Entstehung einer Republik verwickelt sehen möchte, heißt gerade nicht, nur ernten, aber nicht säen, also nur einfahren zu wollen, was andere gesät haben.

Liebe und Parteigeist sind zweierlei. Eph 4,15 ist nicht zu übersetzen mit "Laßt uns aber rechtschaffen sein in der Liebe" (289), sondern mit "Laßt uns vielmehr die Wahrheit in Liebe suchen" (sagen). Es ist weder ein republikanischer noch ein feudaler Parteigeist, aus dem heraus S. 1816 schrieb: "Es gibt niemand, der den Staat retten kann, als der echte alte höhere Adel, wenn er sich in wahrem Gemeinsinn, nicht zu Aufrechthaltung alter Vorurteile, vereinigt" (236). S. verschanzt sich nicht hinter einer Parteigrenze, wenn er auch aus den Reihen anderer gesellschaftlicher Gruppen, zu denen er sich selbst nicht zählt, echte Fortschritte, d.h. wenn er das Heil nicht nur von der eigenen Gruppe erwartet.

Ohne sein Ethos läßt ein homo politicus sich nicht verstehen. Deswegen sieht S. in seiner Theorie des Staates einen natürlichen Ausfluß seiner Ethik (209) und es wäre übrigens auch das Pferd vom Schwanz aufgezäumt, wollte man S.s Vorlesungen über Politik vor seinen Vorlesungen über die philosophische und die theologische Ethik editorisch bearbeiten. In der Ethik wird erkannt, daß die Vernunft die Schranken der Persönlichkeit durchbricht bzw. daß der Heilige Geist der Gemeingeist der christlichen Kirche ist. Von daher nimmt es nicht wunder, daß S. im November 1806 die Trennung des Einzelnen vom Staat und die der Gebildeten von der Masse für viel zu groß hielt, als daß der Staat und die Masse etwas sein könnten (179).

In seiner witzigen Art läßt S. die "Ritter" im Januar 1819 sich vornehmen, wenn am Montag die Revolution ausbräche, wollte (Ausgabe Meisner: wollten) sie sie tüchtig auf die Finger klopfen; sollte sie aber Dienstag noch nicht kommen, so wollten sie sie abends mit der Laterne suchen (256). Prinz Karl scheint indessen auch ohne Laterne fündig geworden zu sein; jedenfalls hatte Varnhagen von Ense (R. bezeichnet ihn als großen Chronisten jener Zeit) läuten hören: "Prinz Karl soll neulich gesagt haben, es gäbe vier Hauptumtrieber, Gneisenau, Grolmann, Schleiermacher und Savigny, Schleiermacher aber sei der ärgste" (398). S.s Selbstverständnis dürfte sich indessen kaum mit den Angstträumen gedeckt haben, die den ansonsten nicht gerade scharfsichtigen und eben deswegen lieber nicht in einen Kronzeugen umzufunktionierenden Prinzen Karl verfolgt zu haben schienen. S.s politischer Witz, von dem sich in R.s Auswahl weitere schöne, Mitte der achtziger Jahre in der ehemaligen DDR besonders beziehungsreiche Beispiele finden, ist ernster zu nehmen als der verbissene tierische Ernst derer, die um ihre ideologischen Positionen und Felle fürchteten.

Es zeugt von R.s Aufmerksamkeit und Eigenständigkeit, sowie seinem guten Geschmack, daß er bereits in den Zeiten des real existierenden Sozialismus, als nichtmarxistische Denker ein Schattendasein fristeten bzw. nur sozialistisch aufgetakelt gesellschaftsfähig waren, seine Liebe zu S. entdeckte. Als er 1984 auf S.s Briefe stieß, war er von ihrer Aussagekraft, von ihrem Stil und der sich hier offenbarenden Persönlichkeit tief ergriffen (XI). Den Lesern seiner Ausgabe bleibt zu wünschen, daß sie ähnliche Erfahrungen mit einem Mann machen, bei dem im Gegensatz zu seinem Zeitgenossen Fichte Philosophie und Leben nicht getrennt, sondern eins waren (87).