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Ausgabe:

Dezember/2009

Spalte:

1385–1386

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Demmer, Klaus

Titel/Untertitel:

Gott denken – sittlich handeln. Fährten ethischer Theologie.

Verlag:

Fribourg: Academic Press Fribourg; Freiburg i. Br.-Wien: Herder 2008. 287 S. gr.8° = Studien zur theologischen Ethik, 120. Kart. EUR 34,00. ISBN 978-3-7278-1609-3 (Academic Press Fribourg); 978-3-451-29817-2 (Herder).

Rezensent:

Sibylle Rolf

»Gott denken als Lebensgrund christlicher Sittlichkeit« (11) – die Überschrift des ersten Abschnittes gibt die beiden Stoßrichtungen des anspruchsvollen Werks von Klaus Demmer an, einem der be­kanntesten und bedeutendsten katholischen Moraltheologen des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jh.s: Gott denken und damit die unter anderem 2006 von Papst Benedikt XVI. ins Gedächtnis gerufene Verhältnisbestimmung von Glaube und Vernunft (1), und die Grundlagen christlicher Sittlichkeit (2), die D. anhand ausgewählter beispielhafter Problemfelder entfaltet. Dabei begibt sich das Buch auf »Fährten ethischer Theologie«, nicht, wie meist üblich, in den Diskussionszusammenhang »theologischer Ethik«.

Von dieser unerwarteten Akzentuierung her ist es konsequent, zunächst die Vernünftigkeit des Glaubens zu erweisen, denn »Gott denken zu können ist die höchste Auszeichnung des menschlichen Geistes« (11). In diesem Zusammenhang wird ein kontextloses, abstraktes Modell menschlicher Vernünftigkeit unter der Prämisse abgelehnt, dass die geschichtliche Selbstoffenbarung Gottes in Je-sus Christus eine gleichsam geschichtslose Vernunft, bei der ein Mensch von sich selbst absieht, nicht kennt (15). Auf Grund des Geschichtshandelns Gottes, das im Geschehen von Kreuz und Auferstehung seine Spitze und zugleich seinen tiefsten Punkt findet, hat die Vernunfttätigkeit sich selbst als geschichtlich zu verstehen, ja, theologische Ethik (oder ethische Theologie, wie D. sich ausdrückt) findet an der Geschichtlichkeit der Offenbarung ihr Maß. Diese strukturelle Fundierung von Moraltheologie wird wiederum vom inhaltlichen Kriterium des göttlichen Gnadenhandelns be­stimmt.

Eine solcherart durch den Glauben geprägte und geformte Vernunft erhält darum ihre eigenständige Ausrichtung in Blick auf Sittlichkeit und Moral (25). Sie darf sich keinesfalls vom Glauben (und der dogmatischen Reflexion, wie D. zu Recht konstatiert) lösen: »Wenn Gott alle Wirklichkeit bestimmt, dann gibt es keinen Wirklichkeitsbereich, der sich diesem Anspruch in seiner ethischen Vermittlung entziehen könnte.« (28) Die Vernunft erhält sogar durch den Glauben einen Zuwachs an Klarheit und Freiheit. Freilich ist die Vernunft in ihrer Denk- und Wahrnehmungskompetenz (35) als vorläufig und fragmentarisch zu kennzeichnen, denn sie spielt sich innerhalb derjenigen Grenzen ab, die ihr vorgegeben sind, ist darin aber auch als freie Vernunft zu kennzeichnen. »Der Mensch wächst frei in seine Möglichkeiten hinein: In der Ge­schichtstheologie ist, so gesehen, der Kernbestand einer Handlungstheologie angelegt.« (38)

Diese nicht eben leicht zu lesenden theologischen Prämissen werden in einem zweiten Kapitel anhand der Frage nach dem Verhältnis von Glaube und Vernunft mit der Philosophie ins Gespräch gebracht: »Auf der Suche nach dem philosophischen Partner« (57ff.). Die Annahme des denkenden Glaubens wird mit der Annahme verbunden, Denken sei kein kontextloses Denken: »Erkennen ist ... in eine vorgegebene Denkwelt eingelassen, an der es selber weiterarbeitet.« (69) Aus diesem Grund sucht D. das Gespräch mit der Transzendentalphilosophie und vor allem der Hermeneutik, wenn er schreibt: »Erkennen ist ursprünglich Sinnverstehen: Der Verstehende sieht ein und ordnet ein, das eine bleibt auf das andere bezogen.« (69) In dieser hermeneutischen Verständigungs- und Er­kennt­nisleistung liegt denn auch das Erleben von Freiheit im je individuellen Daseinsvollzug und im gesellschaftlichen Pluralismus, der prinzipiell und strukturell eine Vielzahl von unterschiedlichen Deutungs- und Verständigungsmodellen der Wirklichkeit und eine Vielzahl von ethischen Handlungsanweisungen zur Verfügung stellt. »Wie lassen sich Absolutheit und Partikularität zusammenführen? Die Zusammenführung gelingt über die Freiheit des einzelnen. Sie ist der entscheidende Schlüssel.« (101) In der Freiheit des Individuums liegt zugleich die Befähigung, vom Geschehen von Kreuz und Auferstehung her abstraktes und an der Wirklichkeit vorbeizielendes Systemdenken in Frage zu stellen und somit aufzubrechen. »Tragik und Scheitern werden in ihrer vollen Dramatik aufgedeckt und in der Auferstehung versöhnt. In diesem Aufbruch liegt jene Freiheit gegründet, die der Theologe mit dem Wort Gnade bezeichnet.« (102)

Auf dieser theoretischen Grundlage wendet sich D. vier ausgewählten Problemfeldern zu, von denen drei der bioethischen Debatte (Reproduktionsmedizin, das Problemfeld des Sterbens sowie die im weiteren Sinne bioethische Frage nach vorehelicher Geschlechtlichkeit) und eines eher der sozialethischen Debatte zuzuordnen ist (demokratische Mitverantwortung und Mitwirkung). Das verbindende Moment aller exemplarischen Bereiche ist die Freiheit des Individuums und das Ernstnehmen der konkreten geschichtlichen Situation, in der Entscheidungen getroffen werden müssen. Es würde zu weit führen, die Argumentation zu den Problemfeldern im Einzelnen nachzuzeichnen, positiv zu würdigen ist aber der moraltheologische Rekurs sowohl auf die Dogmatik als auch auf die konkrete geschichtliche Situation, der eine differenzierte Be­schreibung des jeweiligen ethischen Konfliktfalls aus der Sicht katholischer Moraltheologie erlaubt und darüber hinaus einen normativen Anspruch – gegründet auf die zuvor erarbeiteten Grundlagen – vertritt. Beim Beispiel der Forschung an Embryonen wird in diesem Zusammenhang etwa auf die Problematik der Instrumentalisierung von Leben hingewiesen, der eine unbekümmerte Konsumentenhaltung entspreche (145 ff.), eine gesellschaftlich verbreitete Gedankenlosigkeit wird im Umgang mit Ge­schlechtlichkeit diagnostiziert, der eine gelingende Beziehungs- und Gesprächskultur entgegengesetzt wird, die herausfordernde Funktion der christlichen Theologie innerhalb demokratischer Meinungsbildungsprozesse wird betont und ein dialogfähiger Um­gang mit dem Ende des Lebens festgehalten. Exemplarisch lassen sich D.s Ausführungen zusammenfassen: »Die denkerische Mitverantwortung des Christen in Politik und Gesellschaft pendelt sich ... nicht auf ein konstruiertes säkulares oder humanistisches Ethos ein. Sie lässt sich von den Vorgaben der Gegenseite zwar herausfordern, aber nicht festlegen.« (243 f.) Eine besondere Herausforderung an theologische Ethik liegt im Umgang mit dem Sterben. Hier kommt das Paradigma der Freiheit an seine Grenzen, und zugleich hat die konkrete Situation unmittelbare Konsequenzen für Handlungsentscheidungen. Von hier her stellt D. zu Recht das gern zitierte Autonomieprinzip in Frage (270–272) – ein Einspruch, der nicht engagiert genug vorgetragen werden kann.

In dem äußerst anregenden Impuls, sowohl auf dogmatische als auch situativ-hermeneutische Reflexion für die ethische Urteilsbildung zu rekurrieren, liegt die unbestreitbare Stärke des Buches. Denn dieser Rekurs erlaubt es, nicht lediglich zeitlose Normativität autoritativ zu behaupten, sondern Normativität im Gespräch mit anderen Wissenschaften zu finden und zugleich theologisch zu be­gründen. Das macht den Ansatz zwar angreifbar, aber gleichzeitig kommunikabel, was in der gegenwärtigen pluralistischen ethischen Landschaft nicht hoch genug zu würdigen ist. Eine Schwierigkeit stellt die nicht eben leicht zugängliche, streckenweise poetische, aber auch kryptisch anmutenden Sprache dar, was noch durch die nicht im­mer explizierte Systematik des Buch-Aufbaus verstärkt wird. Diese Hürde zu nehmen, ist um der Sache willen aber in jedem Fall lohnenswert.