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Ausgabe:

Dezember/2009

Spalte:

1374–1377

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Dalferth, Ingolf U., u. Hans-Peter Großhans [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kritik der Religion. Zur Aktualität einer unerledigten philosophischen und theologischen Aufgabe.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2006. X, 420 S. gr.8° = Religion in Philosophy and Theology, 23. Kart. EUR 69,00. ISBN 978-3-16-149026-2.

Rezensent:

Michael Moxter

Religionskritik – wenn sie denn nicht im Raum der Weltanschauungen verbleibt, sondern methodisch diszipliniert auftritt – ist eine genuine Form der Religionsphilosophie. Deren Nachdenken über Religion muss nicht affirmativ werden, um Philosophie zu sein oder in der Theologie Gehör (und nicht nur Abwehr) zu finden. Der von Ingolf U. Dalferth und Hans-Peter Großhans herausgegebene Band mit philosophischen und theologischen Vorträgen einer Tübinger Tagung macht deutlich, dass der Dialog beider Disziplinen in dem Maße produktiv wird, in dem die Theologie ihre eigene ›Kritik der Religion‹ ausbildet.

Der zu Recht an den Anfang gestellte Beitrag von Josef Simon (Philosophie, Bonn) zeigt unter der Überschrift »Die Religion innerhalb und außerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft«, dass der gegen Kant gerichtete Standardvorwurf einer Auflösung der Religion in Moral nicht mehr überzeugt, wenn man die Kantische Anthropologie in den Blick nimmt. »Religion zu haben« ist eine »Pflicht des Menschen gegen sich selbst«, insofern dieser kein reines Vernunftwesen ist. Weil der aufgeklärte Mensch nicht nur um die Autonomie der Moral, sondern auch um seine eigene Endlichkeit weiß, bezieht er das Projekt einer ›Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft‹ auf ein Außerhalb: auf die gegebenen historischen Religionen. Gänzlich vernunftfremd erscheint eine Religionsgemeinschaft immer nur dem, der sie nicht teilt und der insofern einer anderen Religion bedarf. Vollständig in reine Moral auflösen ließe sich Religion nur, wenn die intellegible Bedeutung des absoluten Sollens sich ohne sinnliche Zeichen und Symbole verdeutlichen ließe. Weil dem nicht so ist, besteht ein Ergänzungsverhältnis zwischen Vernunftreligion einerseits und empirischem Kirchenglauben andererseits. Die Kritik der Religion wird unter dieser Voraussetzung zur unabschließbaren Aufgabe, im Ausgang von einer gegebenen Religion an deren vernünftigen Auslegung mitzuarbeiten. Das endliche rationale Subjekt könne nämlich nie wissen, ob es besser gewesen wäre, sich selbst eine Religion zu geben. An dieser Ungewissheit findet der Protest gegen Heteronomie seine Grenze. Simons Kantinterpretation darf man mit der Bemerkung zusammenfassen, dass sie Kant als ›Philosophen des Katholizismus‹ zu denken erlaubt.

Eine »Religionskritik zweiten Grades« fordert Christoph Türcke (Philosophie, Leipzig). Diese lässt den Anspruch der klassischen Religionskritik hinter sich, die Gottesvorstellung erledige sich restlos, sobald deren Projektionscharakter erkannt sei. Gerade die Einsicht in den Bedarf des Menschen an Illusionen entlarve nämlich auch den Wunsch, von aller Religion loszukommen. Auch dieser bleibt illusionär, weil unsere Endlichkeit, das Elend der Gesellschaft, vor allem aber der Schrecken der Natur seiner Erfüllung beständig entgegenwirken. Eine Religionskritik zweiten Grades muss die bleibende »Gottbedürftigkeit des Menschen« anerkennen und kann zugeben, dass die Anstrengung, Gott zu denken, dem »Denken überhaupt« eingeschrieben ist. Der Atheismus hat wenig Durchsetzungschancen, »solange das ›Seufzen der Kreatur‹ anhält« (328). Der genetischen Religionskritik wird also ein: ›Wie: nicht wünschen?‹ entgegengesetzt.

Elisabeth Heinrich (Philosophie, Siegen) zeigt, warum schon bei einem Klassiker wie David Hume die logisch-rationale Widerlegung natürlicher Theologie mit genetischer Religionskritik sich verbinden kann, ohne eine Hoffnung auf endgültige Überwindung der Religion zu nähren. Skeptische Vernunft nimmt in der Naturgeschichte der Religion nämlich auch die Ursachen (bzw. Gründe) wahr, die die Nachhaltigkeit der zurückgewiesenen Religionsgehalte befeuern. Diese selbstkritische Einsicht Humes sei in der Vereinseitigung des genetischen Paradigmas bei Feuerbach, Nietzsche und Freud verloren gegangen. Wenn Heinrich ihren Beitrag mit einem Katalog schließt, der »klare Kriterien für die Beurteilung von Religionen« formuliert (114) und den Maßstab politischer Korrektheit und sozialer Nützlichkeit verrät, wünschte man freilich noch mehr von Humes Skepsis.

Arne Grøn (Religionsphilosophie, Kopenhagen) wählt den Titel »Im Horizont des Unendlichen«, um zu zeigen, wie »Religionskritik nach Nietzsche« sich ausnimmt, nämlich eine Doppelbewegung von Abwehr und wesentlicher Beziehung auf Religion. Weil die Überwindung der Leibfeindlichkeit und Weltverneinung des Christentums als »Bewegung zurück ins Diesseits« inszeniert und beispielsweise der Selbst-Überstieg des Menschen gefordert werde (147), bediene sich Nietzsche immer auch der Transzendenzfiguren, gegen die er angeht. Nie ist Leben unmittelbar mit sich identisch, nur über Differenz kommt Subjektivität auf sich zurück, und deshalb bleibt reine Weltlichkeit unerreichbar. Es ist alles andere als leicht, über das Jenseits hinauszukommen. Auch wer, wie Nietzsche, Unendlichkeit als etwas Furchtbares begreift, bewegt sich in ihrem Horizont. Grøn demonstriert diese Dialektik auch am Moralphänomen, womit er eine nicht-moralische Kritik der Moral des Antimoralisten auf den Weg bringt, die sich von den üblichen Verwerfungsurteilen gegenüber Nietzsche abhebt.

Angesichts der sorgfältig interpretierten klassischen Positionen muss der eine der beiden englischen Texte des Bandes als Fremdkörper erscheinen: Dewi Z. Phillips und sein Schüler Patrick Horn (Religionsphilosophie, beide Claremont) führen ein Gespräch mit dem Titel »Religion and Cultural Completeness«, in dem zwar viel von Kierkegaard, Wittgenstein und Winch, von Verständigungsproblemen zwischen frommer Apologetik und öffentlicher Kultur sowie von Phillips’ eigener Religionsphilosophie die Rede ist, in dem sich aber für das Thema des Bandes nur wenig zu ergeben scheint. Der einzige Gesichtspunkt, den dieser Beitrag mit Fragen der Religionskritik verbindet, liegt in der ausführlich diskutierten Vorstellung, nur der könne verstehen, der auch einverstanden sei. Wären religiöse Sprachspiele in dem Sinne in sich geschlossen ( complete), dass sie nur der versteht, der sie mitspielt, wäre das Unternehmen einer radikalen Religionskritik von Haus aus un­möglich. Stets könnte man einem Religionskritiker vorhalten, er verstehe alle oder zumindest einige der von ihm kritisierten Aussagen anders als die Gläubigen und verfalle daher bloß äußerer Reflexion (356 f.). Die Lektüre dieses Beitrags lohnt sich für Phillips-Interpreten, die studieren können, wie sich der vor Kurzem verstorbene Religionsphilosoph gegen die Unterstellung wehrt, eine programmatisch auf Beschreibung ausgerichtete Philosophie lasse für Kritik keinen Raum.

Die im engeren Sinne theologischen Beiträgen haben trotz zahlreicher Unterschiede und Differenzen eines gemeinsam: Sie alle wollen Religionskritik nicht widerlegen, sondern integrieren bzw. überbieten. Theologie antwortet auf Religionskritik, indem sie selbst zu Religionskritik wird. Wie radikal und konsequent aber der Verdacht, Gott sei nichts anderes als menschliche Projektion, aufgenommen und wann er entkräftet wird – darüber gibt es keine Einigkeit. Auch lassen sich die bekannten theologischen Argumentationsmuster leichter als ›gegenwärtig aktuell‹ (Ch. Tietz, jetzt Mainz, zu Bonhoeffer) denn als in der Sache tragfähig und gut begründet zur Geltung zu bringen. Auffällig dürfte auch sein, welch zentrale Stellung der Deutungsbegriff erhält, wenn ambitioniertere Theorieansprüche erhoben werden.

Folkart Wittekind (Bochum) stellt einen frühen Text Karl Barths aus dem Jahr 1920 als religionstheoretisches Paradigma einer subjektivitäts- und erkenntnistheoretisch geleiteten Selbsterfassung vor, in der die Nicht-Objektivität Gottes (Gottes Anderssein) zum präzisen Ausdruck einer sich selbst durchsichtig gewordenen Reflexivität des religiösen Bewusstseins geworden sei. Weil Selbstbewusstsein je nur als aktualer und individueller Vollzug ›gegeben‹ ist, gehöre zu ihm die Ambivalenz, alle seine Gehalte als Resultate je eigener Produktivität durchschauen zu müssen und diese zugleich als genuinen Ausdruck einer unhintergehbaren Polarität von Identität und Andersheit begreifen zu dürfen. Das Selbstverhältnis wird nur um den Preis als Gottesverhältnis erlebbar, dass es mit der naiven Vorstellung eines substantiellen Ichs auch alle Vorstellungen eines realen Gegebenseins Gottes aufgibt oder abarbeitet. Ohne durchgeführte Religionskritik, ohne kreuzestheologische Negation jeder religiösen Affirmation, ist folglich auch keine spekulative Ergründung wahren Selbstbewusstseins möglich. Barth ist so gesehen (ein ›principle of charity‹ gehört zur Interpretationskunst) nicht auf dem Weg zu einer auf Offenbarung bezogenen Wort-Gottes-Theologie, sondern zu einer »prozessual angelegten Selbsterkenntnistheorie« (240). Wahre Religion lebt von vollbrachter Religionskritik, und evangelische Theologie wird folglich zu einem kulturell bedeutsamen Modell anspruchsvoller Selbstreflexion: Inmitten subjektiver Interpretationswelten, in denen der Mensch Wirklichkeit konstruiert, bildet sie »gleichsam das Paradigma für einen inhaltsbezogenen, selbstdeutungsoffenen Um­gang mit kulturellen Deutungen« (242). Religionskritik theologisch produktiv aufzunehmen heißt demnach: die Symbole der Religion als subjektive Deutungen zu interpretieren, ohne Abstriche am »Gewissheitserlebnis des Glaubens« (238) zuzulassen.

Eine vergleichbare Konstellation begegnet im Beitrag von Ch. Danz, und zwar in (wiederum verwandtem) Anschluss an Falk Wagners Formel: ›Religionsbegründung als Religionskritik‹.

Danz (Wien) verbindet Religionskritik mit der Frage nach einer positiven Würdigung fremder Religionen durch das Christentum (in Auseinandersetzung mit Pannenberg und Hick) und konzipiert insofern eine Theologie der Religionen im Modus der Religionskritik (vgl. 276 und 279 ff.). Diese lehnt eine »pauschale Anerkennung nichtchristlicher Religionen« ab (279) und weist auch die Vollständigkeitsunterstellung des Dreierschemas von exklusiven, inklusiven und pluralistischen Modellen zurück. Eine theologische Religionskritik gehe vielmehr von einer positiven Religion aus und reflektiere ihre eigene Standort­relativität, indem sie Kriterien formuliert, die es erlauben, Religionsformen zu plausibilisieren oder auch auszuschließen. Ein dabei in Kauf genommenes Moment von Willkür könne nur durch kritische Selbstreflexion temperiert, nicht aber prinzipiell vermieden werden. Pluralistisch wird die Religionstheorie also nicht durch Preisgabe normativer Ansprüche, sondern allein durch einen selbstkritischen Umgang mit ihnen. Maßstab ist dabei die Frage, ob und inwiefern religiöse Sinndeutungen »zum Aufbau eines sich selbst durchsichtigen Bewusstseins endlicher Freiheit beitragen« (283). Man darf von einer Variante pragmatischer Religionstheorie sprechen, die vor einer Überführung von Wahrheitsfragen in Nützlichkeitserwägungen nicht zurückschrecken muss, weil sie letztlich von der Wahrheit des Bewusstseins endlicher Freiheit ausgeht.

Um eine Kritik des in der Debatte omnipräsenten Deutungsbegriff bemüht sich der Beitrag von Tom Kleffmann (inzwischen Kassel) in der (m. E. irrigen) Annahme, dass der »Begriff der Deutung den religiösen Wahrheitsanspruch im Grunde unausweichlich negiert« (286). Die Kritik sucht ihre Begründung ausschließlich in Auseinandersetzung mit Ulrich Barth, nimmt aber den gegen ihn gerichteten Vorwurf des Reduktionismus und Transzendenz vergessenen Konstruktivismus als Einwand gegen den Deutungsbegriff überhaupt. Auch als Barthinterpretation scheint mir das nicht einzuleuchten, müsste man doch die Barthsche Korrelation von Deutung und Erfahrung (bzw. Erlebnis) zu seinen Gunsten auslegen. Kleffmann wirft aber zu Recht die Frage auf, ob und wie Deutung als responsorisches Tätigsein ausgezeichnet werden könne (297). Nur dann lasse sich der klassische Projektionseinwand ›alles nichts als Deutung?‹ zurückweisen.
Der wichtige Sammelband enthält auch Beiträge von J. Rohls (zu Hegel), M. D. Krüger (zu Schelling), J. Zovko (zu Fr. Schlegel), H. Schulz (zu Feuerbach), B. Boothe (zu Freud), T. Beyrich (zu Sloterdijk) sowie Studien von D. Hedley, R. Wimmer und M. Petzoldt zu allgemeineren Fragen. Zu viel des Guten, um hier explizit darauf eingehen zu können.