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Ausgabe:

Dezember/2009

Spalte:

1373–1374

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Dahnelt, Rainer

Titel/Untertitel:

Funktion und Gottesbegriff. Der Einfluss der Religionssoziologie auf die Theologie am Beispiel von Niklas Luhmann und Falk Wagner.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2009. VIII, 263 S. gr.8° = Marburger Theologische Studien, 104. Kart. EUR 24,00. ISBN 978-3-374-02659-3.

Rezensent:

Malte Dominik Krüger

Die Arbeit ist die überarbeitete Fassung einer 2007 in Frankfurt bei Hermann Deuser angefertigten systematisch-theologischen Dissertation. Ihr geht es um die Perspektive, aus der Religion wis­senschaftlich gedeutet wird: Religion kann aus einer Innenperspektive oder aus einer Außenperspektive betrachtet werden. Wie D. einleitend (1–9) mit dem Hinweis auf die Wort-Gottes-Theologie diagnostiziert, führt die prinzipielle Ablehnung der Außenperspektive zur Selbstisolation der Theologie. Deswegen ist eine Be­schäftigung mit der Außenperspektive sinnvoll. Dies geschieht bei D. in zwei Teilen, die sich den Theorien von Niklas Luhmann und Falk Wagner widmen.

Im ersten Teil (12–158) legt D. die Soziologie Luhmanns unter besonderer Beachtung ihrer Religionsdeutung aus. Grundsätzlich ist nach Luhmann ein soziales System nicht aus der Verfassung des Subjekts oder aus dem Handeln des Individuums abzuleiten. Vielmehr gewinnt ein System seine Identität durch die Bestimmung dessen, was zu ihm und was nicht zu ihm gehört. Mit Letzterem ist klar: Ein System kann nur thematisiert werden, wenn sein Außenbezug beziehungsweise seine Umwelt berücksichtigt wird. Der Sinn von einem System liegt darin, die mit diesem Außenbezug gegebene Komplexität durch die Steuerung von Umweltdaten rational zu reduzieren. Dadurch stabilisiert ein System seine Grenzen zur Umwelt und ist insofern selbstreferentiell: Die Differenz zwischen einem System und seiner Umwelt realisiert das System. Daher kann Luhmann den Begriff des Systems – im Anschluss an die binäre Unterscheidungstheorie von George Spencer Brown in der Mathematik und nach D. im Gegenzug zu Hegels Konzept der Einheit von Einheit und Differenz – auf den Begriff der Differenz zurückführen. Doch auch ein System selbst kann sich nach Luhmann verändern und unterliegt somit der Kontingenz. Dies gilt auch für die Religion. Im neuzeitlichen Zusammenhang der funktionalen Ausdifferenzierung erscheint Religion genauer gefasst als ein Teilsystem. Die Funktion dieses religiösen Teilsystems besteht nach Luhmann darin, Unbestimmtheit abzubauen und Bestimmtheit zu erzeugen. Dabei spielt D. zufolge für Luhmann der Gottesbegriff als Kontingenzformel eine wichtige Rolle: Mit »Gott« lässt sich das Immanente transzendent deuten. Die Frage nach dem Leid wird dabei im Christentum nach Luhmann insofern plausibel beantwortet, als das Leiden Jesu mit der radikalen Hingabe an die Kontingenz eine Selbstnegation Gottes einschließt. Dies macht für Luhmann die Vorstellung von der Auferstehung überflüssig, in der Luhmann nur ein Ausweichen der Theologie erkennt. An dieser Darstellung Luhmanns kritisiert D., dass Luhmann den christlichen Glauben auf den statischen Gottesbegriff des aufklärerischen Theismus festzulegen scheint. Auf Grund seiner binären Logik bleibt Luhmann nach D. das christliche Gottesverständnis der Trinität verschlossen, das es Luhmann erlaubt hätte, den Gedanken der Selbstnegation Gottes mit dem des Lebens zu verbinden. Grundsätzlich überzeugt D. an Luhmanns Theorie nicht, dass sie mit dem Begriff des Subjekts letztlich auch die Dimensionen der Verantwortung, Freiheit und Ethik eliminiert.

Diese Einsicht kann D. im zweiten Teil (160–241) zur Theologie Wagners führen, die nämlich am Ende den Gottesbegriff in der Logik wechselseitiger Anerkennungsverhältnisse verwirklicht weiß. Wagners frühe Theologie nimmt grundsätzlich die Außenperspektive der Religionskritik auf und wendet sich zugleich gegen deren Projektionsverdacht: Zwar bedingt das religiöse Bewusstsein Gott, indem es sich Gott vorstellt. Doch dieses Bedingtsein Gottes durch das religiöse Bewusstsein ist mit Hegel als die Selbstbedingung Gottes zu verstehen. Denn das wahrhaft Absolute enthält das Andere seiner selbst. Andernfalls würde das Andere des Absoluten nämlich zur Grenze des Absoluten, was für den Begriff des Absoluten widersinnig wäre – erst recht unter der Voraussetzung, dass dieses Andere das religiöse Bewusstsein ist. Diese spekulative Theorie des Absoluten wird von Wagner in seiner späten Theologie so nicht mehr aufrechterhalten: Wagner erscheint nun der christliche Gottesgedanke nicht mehr vernünftig begründbar. Prinzipiell stimmt Wagner nun Günter Dux’ radikal-genetischer Religionskritik zu, hält aber weiterhin an der Religion fest. So wird D. zu­folge aus Wagners Grundfigur der notwendigen Selbstexplikation des Absoluten im Anderen seiner selbst die Logik wechselseitiger Anerkennung im Zwischenmenschlichen. Der Gottesbegriff ist somit prädikativ und funktional. Dies kritisiert D.: Das Eingeständnis begründungstheoretisch uneinholbarer und religiös deut­barer Anerkennungsverhältnisse verweist auf eine Vorgegebenheit der Lebenspraxis, die in dem nicht-prädikativen und substantialen Gottesgedanken zum Ausdruck kommen kann.

D. hat eine gut lesbare, über Register leicht erschließbare und sehr anregende Arbeit vorgelegt, deren Ergebnis meines Erachtens plausibel ist. Der entscheidende Punkt der Arbeit scheint in der Beurteilung von Hegels Einsicht der grundlegenden Einheit von Einheit und Differenz zu liegen, wie besonders D.s letzter Einwand gegen den späten Wagner zeigt. Dabei lässt D. allerdings im theoretischen Zugriff die Fragen offen: Ist die Einheit symmetrischer Anerkennungslogik wirklich mit der irreduziblen Differenz von Vernunft und Faktizität verträglich? Kann die mit dieser irreduziblen Differenz einhergehende Alterität nicht freiheitstheoretisch so im Absoluten fundiert werden, dass das Eindimensionale wechselseitiger Symmetrie kreativ überwunden wird?