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Ausgabe:

Dezember/2009

Spalte:

1370–1372

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Rigo, Antonio [Ed.]

Titel/Untertitel:

Mistici bizantini. Prefazione di E. Bianchi.

Verlag:

Turin: Einaudi 2008. CVIII, 803 S. m. 14 Tfn. = I millenni. Kart. EUR 85,00. ISBN 978-88-0619388-1.

Rezensent:

Peter Schreiner

Antonio Rigo, Professor für byzantinische Philologie an der Universität Cà Foscari in Venedig, legt nach langen Vorbereitungen, die von zahlreichen einschlägigen Einzelarbeiten begleitet waren, ein monumentales Opus vor, das Darstellung und Übersetzungsanthologie zugleich ist. Wie der Titel sagt, handelt es sich nicht um eine theoretische Abhandlung zur byzantinischen Mystik, sondern um eine Präsentation von Texten in historischer Abfolge, die die Strömungen in ihrer Entwicklung und gegenseitigen Beeinflussung verständlich macht. Die Arbeit gliedert sich in zwei Darstellungsebenen: Einer 100 Seiten umfassenden »Einführung« folgen umfangreiche, von Anmerkungen begleitete Übersetzungen der relevanten Texte.

Der erste Teil verdient nur formal die Bezeichnung »Einführung«, denn er enthält nichts weniger als die erste monographische Synthese zu dieser Thematik im Rahmen der byzantinistischen Literatur. Alle größeren Zusammenfassungen und Überblicke in Lexika und Handbüchern (darunter hervorzuheben das Kapitel »Theologie der Askese und Mystik« in: »Kirche und theologische Literatur im Byzantinischen Reich« von Hans-Georg Beck, München 1959, 344–368) liegen nicht nur bereits Jahrzehnte zurück, sondern beschränken sich großenteils auf die Wiedergabe von Meinungen in der Sekundärliteratur. Die umfangreiche, von R. zusam­mengestellte Bibliographie (XCVIII–CVI) zeigt, dass bisher fast ausschließlich Einzelautoren und ihr Umkreis (»Schule«) behandelt wurden. R. geht in der ausführlichen Anmerkung 181 (XCII) auf Vorgänger ein (besonders Irenée Hausherr) und würdigt kritisch die Sichtweise ihrer Darstellung. Es zeigt sich, dass bisher der Schwerpunkt auf der Behandlung einzelner zweifelsfrei bedeutender Persönlichkeiten lag (Maximos, Johannes Klimax, Symeon der Neue Theologe, Gregorios Sinaites und besonders Gregorios Palamas). Zudem befand sich die Beschäftigung mit dieser Thematik, jedenfalls was die inhaltliche Auswertung der Texte anbelangt, überwiegend in der Hand von Theologen. Wie genau sie die Texte gelesen haben oder wegen der Schwierigkeit des lexikalischen Zugangs dazu in der Lage waren, ist eine offene Frage, deren Beantwortung nach der Lektüre dieses Buches in nicht wenigen Fällen nicht zu positiv ausfallen dürfte.

Der prinzipielle Neuansatz dieser Darstellung besteht darin, dass der Herausgeber (neben einer profunden Kenntnis der theologischen Strömungen) zunächst und in erster Linie die Methode der philologischen Erschließung seinen Interpretationen zu Grunde legt. Er hat die Texte, vielfach in den verschiedenen handschriftlichen Varianten, im Original gelesen und davon eine reiche Auswahl im Hauptteil übersetzt. Jeder Philologe weiß, dass sich erst durch die eigene Übersetzung der Inhalt für die Interpretation erschließt, bei der jede Bedeutungsnuance eines Terminus von großer Bedeutung ist. Interpretation beginnt beim Wort, nicht bei der Phantasie. Wir besitzen für eine Bearbeitung auch heute – etwa im Thesaurus Linguae Graecae – weitaus bessere Zugangsmöglichkeiten als noch vor Jahrzehnten. Nicht zu vergessen sind auch gute neue Ausgaben (Symeon der Neue Theologe, Gregorios Pa­lamas und verschiedene Autoren aus deren Umkreis). Alle diese Fakten haben zur soliden Basis dieses Opus entscheidend beige­tragen.

R. betitelte sein Buch Mistici bizantini und setzt daher mit Symeon dem Neuen Theologen (2. Hälfte 10. Jh.) ein. In der »Einführung« bezeichnet er den ersten Höhepunkt der christlich-griechischen Mystik am Ende des patristischen Zeitalters der byzantinischen theologischen Literatur (Maximos d. Bekenner, Johannes Klimax u. a.) als »formative Periode«. Im 8. Jh. konnte auch R. keine selbständigen Schriften finden, ein Faktum, das er zu Recht mit der besonderen Situation des Mönchtums während des Bilderstreites in Verbindung bringt. Erst mit Theodoros Studites setzt wieder ein Aufschwung ein, der auch in der Würdigung von elf Autoren in der »Bibliothek« des Photios zum Ausdruck kommt. Eine besondere Rolle beim Neuanfang spielt das asketisch-mystische Schrifttum im Savvas-Kloster bei Jerusalem, das durch seine geographische Lage und eine »internationale« Klostergemeinschaft auch die orientalische Tradition in sich schloss und durch Übersetzungen der griechischen Welt zugänglich machte. Damit ist auch der An­schluss zu Symeon dem Neuen Theologen und den »byzantinischen Mystikern« hergestellt.

Hier analysiert nun R. in der Folge jeden einzelnen Autor, von denen die meisten im Hauptteil ausschnittweise auch übersetzt werden. Diese Analysen, in denen besonderer Wert auf das jeweils Neue bei gleichzeitiger Fortführung traditioneller Sichtweisen, aber auch immer wiederkehrender Praktiken (Tränen, Zucken Stöhnen) gelegt wird, sind häufig von längeren übersetzten Originalzitaten begleitet, die bei einer so komplexen Materie besser als jede Paraphrase das eigentliche Anliegen wiedergeben. So wird es auch vermieden, dass etwa eine bestimmte Interpretationsrichtung des Herausgebers den Leser zu sehr lenken und beeinflussen könnte. Es wird aber damit zudem der Nuancenreichtum der Ausdrucksweise (auch in der Übersetzung) sichtbar. Vom Klischeebild eines ewigen Hesychasmus in verschiedenen Variationen muss man endgültig Abschied nehmen.

Der Hauptteil, die eigentliche Anthologie, ist, beginnend mit den Hymnen des Symeon, den verschiedenen mystischen Schriften in chronologischer Abfolge gewidmet. Sie sind aber innerhalb dieses chronologischen Gesamtrahmens auch noch geographisch nach der Provenienz oder Hauptwirkungsstätte der Autoren ge­ordnet: Konstantinopel und Umgebung (Symeon bis Petros Damaskenos, 10. bis 2. Hälfte 12. Jh., und Konstantinopel – Athos – Balkanländer, 13. bis 15. Jh.. Diese Gliederung ist zwar wirkungsgeschichtlich interessant , zumal sie auch in diesem Bereich im­mer wieder die Ausstrahlungskraft der Hauptstadt zeigt (wobei man doch eher die »Einsamkeit« der Provinz erwarten würde), aber eigentlich unnötig, da Traditionen und neue Entwicklungen ein zeitlicher und nur bedingt ein topographischer Faktor sind. Jeder Autor wird in einem Einleitungskapitel vorgestellt, und seine Schriften, aus denen die folgenden Übersetzungen ausgewählt sind, werden in die Entwick­lung der mystischen Theologie eingereiht. Die Übersetzungen basieren in der Mehrheit auf gedruckten Ausgaben, doch hat auch hier der Herausgeber, wenn nötig und möglich, handschriftliche Vergleiche angestellt und Abweichungen in die Übersetzung eingebracht. In einigen Fällen (Theodulos 351, Johannes von Chalkedon 595, Abbas Isaias 607) liegt nur die Handschrift zu Grunde. Die Übersetzungen enthalten einen Quellenapparat (wie er sonst nur bei originalen Editionen üblich ist) und bisweilen erläuternde Anmerkungen. R. beschränkte, auch in der Einleitung, die Anmerkungen immer auf ein Mindestmaß und hat auf diese Weise das Buch nicht mit Informationen aufgebläht.

Der Rezensent hat die Übersetzungen nicht im Einzelnen an der griechischen Vorlage nachgeprüft. Wer sich von der theologischen Seite her mit diesen Texten beschäftigt, muss ohnehin das Original zumindest prüfend mit heranziehen. Die Übersetzungen machen in ihrer flüssigen, nicht ausgefallen literarischen, aber gepflegten Lexik die im Original vielfach schwer zugängliche Sprache zu einer angenehmen und wegen der vielen literarischen Formen (Hymnen, Sinnsprüche, Ermahnungen) abwechslungsreichen Lektüre, welche die Mentalität eines Großteils des byzantinischen Mönchtums unmittelbar erschließt.

Das Buch lässt nur wenige kleine Wünsche offen. Als Philologe hätte man gern ein terminologisches Glossar gehabt, vielleicht überhaupt einige Bemerkungen zu Sprache und Sprachebenen, auch vor dem Hintergrund, dass diese Texte Mönchen aus allen Kreisen zugänglich sein sollten. Auch einige Schlussfolgerungen (abgesehen vom Schnellkurs in der Zusammenfassung, XCII–XCVI) wären den nicht spezialisierten Lesern hilfreich gewesen, so: die Entstehung und Verbreitung mystischer Literatur fast ausschließlich im Mönchtum (im Gegensatz zum lateinischen Westen), das bereits erwähnte Phänomen einer Konzentrierung auf Hauptstadt und Umgebung bis an die Schwelle des 13. Jh.s und vielleicht auch die Frage, wie (und ob) man byzantinische Mystik gegenüber anderen Formen christlicher Mystik abgrenzen kann – theologisch, literarisch und sozialgeschichtlich. Aber es versteht sich, dass nach 900 Seiten auch einmal ein Abschluss erreicht sein muss.

Das bestens lektorierte und mit 14 hochqualitativen Farbtafeln (aus einer Turiner Handschrift mit Märtyrerviten) ausgestattete Buch schließt nicht nur eine empfindliche Lücke in der byzantinischen Literaturgeschichte, sondern stellt gleichzeitig einen wichtigen Baustein im Rahmen einer zusammenfassenden Sicht der Mystik innerhalb der Weltregionen dar.