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Ausgabe:

Dezember/2009

Spalte:

1368–1370

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Kühn, Rolf, u. Sébastien Laoureux [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Meister Eckhart – Erkenntnis und Mystik des Lebens. Forschungsbeiträge der Lebensphänomenologie.

Verlag:

Freiburg-München: Alber 2008. 451 S. 8° = Seele, Existenz und Leben, 6. Kart. EUR 32,00. ISBN 978-3-495-48288-9.

Rezensent:

Marco A. Sorace

Wiederholt wurde in der Vergangenheit von deutschen Eckhart-Forschern darauf hingewiesen, dass man hierzulande die Eckhart-Rezeption in Frankreich – vor allem die seitens der französischen Gegenwartsphilosophie – noch nicht ausreichend wahrgenommen habe. Grund für ein solches Manko ist in den breiteren Forschungskreisen nicht selten der Mangel an geeigneten Übersetzungen. Genau hier liegt das unzweifelhafte Verdienst des vorliegenden Bandes, welcher im ersten Teil – neben kommentierenden und weiterführenden Beiträgen in zwei daran anschließenden Teilen – eine Übersetzung der philosophischen Untersuchungen des be­deutenden französischen Denkers Michel Henry (1922–2002) zum Werk Meister Eckharts enthält. Übersetzer ist der Philosoph Rolf Kühn, der sich bereits durch (allesamt ebenfalls im Verlag Karl Alber erschienene) qualitativ sehr gute deutsche Herausgaben der späten Werke Henrys hervorgetan hat.

Obwohl Bernhard Waldenfels die Henrysche sog. »Radikale Lebensphänomenologie« bereits im Jahr 1983 (in seinem Standardwerk »Phänomenologie in Frankreich«) zu den sehr beachtenswerten, aus der Phänomenologie hervorgegangenen Positionen französischer Philosophie hinzugezählt hat, kann diese in Deutschland bis heute noch nicht als allgemein bekannt vorausgesetzt werden. Sie versucht – anders als die klassische, auf Edmund Husserl rekurrierende Phänomenologie – die Frage eines ursprünglichen Erscheinens nicht ausgehend von einer Untersuchung der Weltphänomene zu klären, sondern von einer diesen Phänomenalisierungen zu Grun­de liegenden subjektiven Ermöglichung als ein vorintentionales Selbsterscheinen des inkarnierten Subjekts im Leben. Das heißt aber für Henry, dass das Leben diesem Subjekt nicht in irgendeiner Weise vor- oder übergeordnet ist, sondern dass es sich gleichsam in seiner Fleischwerdung selbst offenbart, eine Erkenntnis, die Henry in inspirierender Weise bei Meister Eckhart wiederfindet.

Auch wenn Henrys Einstieg unter § 39 in seinem frühen Hauptwerk »L’Essence de la Manifestation« (aus dem Jahre 1963) verrät, dass er sich seinerzeit vornehmlich auf das Eckhartsche deutsche Predigtwerk bezogen hat, erfasst er doch das Denken des Dominikanertheologen insgesamt, wenn er dieses ausgehend von der Identifikation des göttlichen Wesens mit dem Grund der menschlichen Seele zu erschließen sucht (vgl. 13–15). Mit der Befragung von Eckharts Verständnis von Liebe, Armut und Demut erkennt Henry nachfolgend einen Grundzug bei Eckhart im Sinne einer »radikalen Entblößung« (17) des Menschen von all jenem kontingenten Erscheinen, das ihn von Gottes Wesenheit trennt. Tatsächlich ist die von Eckhart als »Gelassenheit« und »Abgeschiedenheit« der menschlichen Seele bezeichnete Reduktion ein tragendes Thema seiner Predigten. Der gegenüber dem Außenhorizont der Kreaturen gelassene und abgeschiedene Mensch, der sich so seiner »Ge­burt in Gott« – wie man in Anschluss an Eckhart sagen kann – gewiss ist, erkennt die »innere Immanenzstruktur« (33) jeglicher Seinserfahrung als Prinzip einer radikalphänomenologischen On­tologie. Gestützt von zahlreichen Zitaten betont Henry unter dem nachfolgenden § 40 nochmals, dass es sich bei dieser »Erkenntnis« jedoch nicht um eine solche handelt, die »im Medium der Außenheit« (35) offenbart, sondern im Sinne der von Eckhart vertretenen »Logostheorie« als »einwärtswirkende« Vernunft, »wobei das ›Wort‹ innebleibend ist« (Pr. 9: DW I, zit. nach S. 44). Indem der übersetzte Text nun einen Sprung zu § 49/50 innerhalb des oben genannten Henryschen Hauptwerks macht, kommt er zur eigentlichen Deutung Eckharts (46–63). »Die wesentliche Strukturbestimmung«, so Henry, »wie sie in der Logostheorie (Eckharts) ihre Klarstellung findet, hat folgende Bedeutung: Die mit dem Sein selbst identische Seinserfahrung ist nur auf der Grundlage der Einheit und durch sie möglich. In der Struktur derselben und in ihrer Aufrechterhaltung beruht folglich die innere Möglichkeit des Seins, dessen Wesen. Eine solche Möglichkeit ist hingegen, und zwar prinzipiell, vom ontologischen Medium wie dem der Er­kenntnis ausgeschlossen« (47).

Die von Henry an anderer Stelle als »Gegenreduktion« bezeichnete Zurückführung der Ontologie auf ihre »innere Möglichkeit« stellt letztlich das Wagnis seiner Philosophie dar und, so scheint es, auch jener Eckharts. Diese Parallelität wird in dem abschließenden Abschnitt der Henry-Übersetzungen (»Hinführung zur Gottesfrage: Seinsbeweis oder Lebenserprobung?«, 64–78) noch unterstrichen, der ausgehend von Anselm von Canterbury das Denken Eckharts absetzt von dem aus der Scholas­tik hervorgegangenen Objektivitätsdenken der neuzeitlichen Wissenschaft (dieser von Henry erst 1990 als Aufsatz veröffentlichte Text lag – im Gegensatz zu den vorangegangenen Abschnitten – als Übersetzung bereits vor und zwar in: Michel Henry, Radikale Lebensphänomenologie. Ausgewählte Studien zur Phänomenologie. Hrsg. von Rolf Kühn, Freiburg-München: Alber 1992, 251–273).

Der zweite Teil des Buches (79–231) vereint einige Beiträge von Jean Reaidy, Sébastien Laoureux, Natalie Depraz, Carlos Ruta und Hiroshi To­mita, welche die Eckhart-Deutung Henrys in den größeren Kontext seines philosophischen Werks einordnen, aber vor allem auch dieses, das in den Eckhart-Kapiteln seines frühen Hauptwerkes nur aufscheint, in seinen Grundanliegen ausführlicher darlegen. Hier werden unter anderem auch so zentrale Fragen erörtert, wie jene danach, ob Eckhart bei Henry im späteren Werk deswegen weniger zitiert wird, weil auf das Ganze des Eck­hartschen Werkes gesehen das Denken der Differenz hier doch stärker gemacht wird, als es bei Henry letztlich geschieht (vgl. 125 ff.).
Im dritten Teil (233–428), der Beiträge von Ekkehard Blattmann, Karl Heinz Witte, Gerard Visser, Udo Kern, Christine Büchner und James Hart enthält und von den Herausgebern als »Diskussionsforum« bezeichnet wird, finden sich – neben bis zu Gegenwartsdis­kursen weitergeführten Perspektiven – vor allem Stellungnahmen von Eckhartforschern im engeren Sinne. Was hier nicht (oder nur an wenigen Stellen ganz andeutungsweise) stattfindet, ist der kritische Bezug zu Henrys Eckhart-Deutung. Es wird hier lediglich beachtenswertes Material für eine solche Auseinandersetzung zur Verfügung gestellt, wie etwa eine Vertiefung der Gott-Welt-Prob­lematik in Eckharts (radikal-phäno-)ontologischer Gnadenlehre (vgl. 358 ff.).

Der den Band abschließende »Ausblick« von Rolf Kühn (408–428) legt – unwillkürlich – deutlich den Finger auf die Wunde dessen, was hier vorgelegt wird. »Mystik« im Sinne einer »lebendigen Praxis« wird hier als einzig grundverlässliche »Kriteriologie des Weltbezugs« kenntlich gemacht. Das hat, soweit man der Argumentation Henrys und der Lebensphänomenologie folgt, eine beeindru­ckende Überzeugungskraft, deren kritisches Potential innerhalb der Theologie längst noch nicht ausreichend gewürdigt wurde. Die Schwäche dieser Position scheint aber darin zu liegen, dass sie in der »Hermetik« ihres nicht mehr vom (propositionalen) Denken hintergehbaren Ansatzes den Stimmen anderer philosophischer und theologischer Grundlegungen – nicht nur im Kontext der Forschung insgesamt, sondern offenkundig auch hier bezüglich der Eckhart-Forschung – noch zu wenig Raum gibt. Zumindest, das sei hier abschließend festgehalten, wird jener Leser, der in den Beiträgen Material zu den kritischen, von außen kommenden Anfragen an das hier Vorgestellte sucht, kaum fündig. So bleibt der Band eine Sammlung – wie es der Titel ja bereits ankündigt – von »Forschungsbeiträgen« für dahin weitergehende Darstellungen. Als solche ist er jedoch, wie man auch festhalten muss, höchst geeignet, da er alles in allem ein philosophisches Niveau anschlägt, das man in dieser Höhe mancher schnell gestrickten Publikation zur französischen Gegenwartsphilosophie wünschen würde.