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Ausgabe:

Dezember/2009

Spalte:

1361–1363

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Göckeritz, Hermann G. [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Friedrich Gogartens Briefwechsel mit Karl Barth, Eduard Thurneysen und Emil Brunner. M. e. Einführung v. H. G. Göckeritz.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2009. XL, 436 S. m. Abb. gr.8°. Lw. EUR 99,00. ISBN 978-3-16-149954-8.

Rezensent:

Hermann Fischer

Unser Bild von den Anfängen der sog. dialektischen Theologie wird immer dichter und differenzierter. Entstehung und weitere Entwicklung dieser Aufbruchsbewegung nach dem Ersten Weltkrieg sind im Großen und Ganzen bekannt. Aber der individuelle Anteil an den Geschehnissen, der sich primär in den Texten der Protagonisten niedergeschlagen hat, gewinnt durch den Blick auf die die Arbeit begleitenden Briefe an Genauigkeit und Farbigkeit. Man erfährt etwas über die Stimmungslage der Autoren, die wechsel­seitigen Anregungen, die Solidarisierungen untereinander, die Intentionen der jeweiligen Aktivitäten, die Gegnerschaften und zunehmend auch über die inneren Ausdifferenzierungen und Irritationen, die dann 1933 zum Bruch führten.

Ist schon durch den länger publizierten Briefwechsel zwischen K. Barth und E. Thurneysen, zwischen Barth und Bultmann sowie zwischen Barth und E. Brunner der fragliche Hintergrund der Geschehnisse ausgeleuchtet worden, so hat H. G. Göckeritz 2002 durch die Edition der von 1921 bis 1967 zwischen Gogarten und Bultmann ausgetauschten Briefe einen weiteren Beitrag dazu geleistet (vgl. die Rezension ThLZ 128 [2003], 635–639). Nun legt Göckeritz in einer mustergültigen Edition den Briefwechsel Gogartens mit Barth, Thurneysen und E. Brunner vor, der – von wenigen Ausnahmen abgesehen – von 1919 bis 1933 reicht. Mit 91 Dokumenten steht die Korrespondenz (Briefe und Postkarten) zwischen Gogarten und Barth im Mittelpunkt, während für den Austausch zwischen Gogarten und Thurneysen lediglich 35, für den zwischen Gogarten und E. Brunner sogar nur 21 Schriftstücke dokumentiert sind. Die Überlieferungslage bringt es mit sich, dass die Briefwechsel nicht in ihrem ursprünglichen Umfang erhalten sind. Von daher verbieten sich voreilige Schlüsse.

Der Aufbau des Bandes lässt den besonderen Zuschnitt der Edition erkennen. Nach den Präliminarien mit einigen schönen Fotographien bietet der Herausgeber unter der Überschrift »Zwei Wege zwischen den Zeiten« eine Einführung (1–145), die mehr als ein Drittel des Bandes ausmacht. Er begründet dieses ungewöhnliche Vorgehen mit der Besonderheit der Briefwechsel, die die erörterten Probleme oft nur mit stichwortartigen und knappen Argumentationen oder Anspielungen zur Sprache bringen, die für die Briefschreiber verständlich, für die Leser aber erklärungsbedürftig sind. Statt langwieriger punktueller Erläuterungen schien es ihm geboten, den Lesern am Leitfaden der »wichtigeren Veröffentlichungen« Barths und Gogartens »mit Hilfe von Referat und Zitat die unterschiedliche Entwicklung ihrer theologischen Profile« zu verdeutlichen (VIII f.). So ist ein umfänglicher Essay mit interessanten Aspekten, Interpretationen und weiteren bisher unveröffentlichten Briefen (z. B. Gogartens an P. Natorp und E. Grisebach) entstanden, die Grenzen einer »Einführung« werden damit aber gesprengt. Das gilt umso mehr, als die »Einführung« einerseits auf Geschehnisse eingeht, die zum Briefwechsel keinen unmittelbaren Bezug mehr haben (z. B. 61–87.109–124), der Editor andererseits die einzelnen Schriftstücke dann doch noch einmal ausführlich, z. T. überbordend erläutert, so dass die Kommentierungen breiter ausfallen als die dargebotenen Texte. Trotz der vielen wissenswerten Informationen in den Anmerkungen stehen Text-Dokumentation und editorische Tätigkeit in einem Missverhältnis zueinander.

Nach Umfang und Bedeutung ist der Briefwechsel zwischen Gogarten und Barth von besonderem Interesse (147–284). Hier zeichnen sich Gemeinsamkeiten, schon bald aber auch klar Differenzen ab. Barth rühmt Gogartens Aufsatz »Zwischen den Zeiten« (152 f.), dessen »Römerbrief« von 1919 ist für Gogarten »von der größten Bedeutung« (157). Für die Neubearbeitung des Römerbriefes konstatiert Barth allerdings, dass »Luther das Feld räumen muß« (165), während Gogarten kurz darauf Barth gesteht, »wundervolle Sachen von Luther« zu lesen, u. a. die Heidelberger Disputation von 1518. Damit klingen erste unterschiedliche Einschätzungen an, die Barth zwei Jahre später (31.10.1922) als konfessio­nellen Gegensatz präzisiert. Während er selbst sich mit seinem Abendmahlsverständnis der Lehre Zwinglis verpflichtet weiß, sieht er Gogarten bezüglich der Christologie und Abendmahlslehre in den Spuren Luthers wandeln »Es lauern da Differenzen, die jedenfalls einmal zum Austrag kommen müssen«. Geradezu prophetisch fasst er die Möglichkeit ins Auge, dass Gogarten sich über Barths Kopf hinweg einmal mit Emanuel Hirsch verbünden könnte (190). Ziemlich unbefangen formuliert Barth seine Vorbehalte gegenüber dem Stil und den Argumenten Gogartens. So stören ihn z. B. die harsche »Polemik gegen den Idealismus« (195) oder die kategorischen Behauptungen über die »Autorität der sichtbaren Ge­meinde«. Gogarten argumentiert ihm »zu stürmisch« (196), redet »so steil von oben herab« (197 f.). Ähnliche Äußerungen finden sich in Barths Briefwechsel mit Thurneysen. Dort ist von Gogarten als dem »Kauz« die Rede, der immer in vorderster Linie kämpfen will (vgl. 236 f., Anm. 4). Nach einem Besuch bei Gogarten im April 1927 heißt es in einem Brief Barths an Thurneysen, er könne über seinen Mitstreiter nur den Kopf schütteln (254, Anm. 3). Die Differenzen verschärfen sich mit Barths »Christliche[r] Dogmatik im Entwurf« von 1927, der Gogarten in einer Rezension von 1929 das »Fehlen einer eigentlichen Anthropologie« vorwirft (vgl. 265, Anm. 6), und sie spitzen sich gefährlich zu mit Gogartens Lehre von den Schöpfungsordnungen, zu der er in seiner Schrift »Die Schuld der Kirche gegen die Welt« von 1928 ansetzt und damit Barths heftigen Ärger provoziert (274). Das alles hindert Barth jedoch nicht, sich im Blick auf seine Nachfolge in Münster hartnäckig, wenn auch letztlich erfolglos, in einem Sondervotum für die Berufung Gogartens einzusetzen (255 f.268 f.271–273) und dieses Sondervotum in einem begleitenden Brief an das Ministerium noch einmal argumentativ zu verstärken (386–388). Dennoch drängt alles zum Bruch. Am 03.01.1933 schreibt Barth »Meine Bedenken gegen deine theologische Haltung und Richtung haben sich im vergangenen Jahr in einer mich selbst sehr beunruhigenden Weise zugespitzt. Es kann eigentlich nicht anders sein, als dass dies auf Gegenseitigkeit be­ruht« (287).

Angesichts der wiederholt kritischen Urteile Barths verwundert es, dass Gogarten selbst sich in seiner Korrespondenz mit Barth so gut wie nie mit dessen Publikationen kritisch auseinandersetzt, ob­wohl er durchaus, wie seine Rezension über die »Christliche Dogmatik« zeigt, seine Vorbehalte hat. Nur Barths Verständnis von Luthers Ämterlehre hält Gogarten für korrekturbedürftig (206). Die Zuspitzung der Lehre von den Schöpfungsordnungen in den späteren Publikationen und die kirchenpolitischen Konsequenzen, die Gogarten 1933 zieht, führen dann zur Beendigung der gemeinsamen Arbeit an der Zeitschrift »Zwischen den Zeiten« und zum abrupten Ende des Briefwechsels. Das gilt übrigens auch für den Briefwechsel Gogartens mit Thurneysen, der lediglich in den Anfängen (1920–1923) intensiv, ab 1924 aber immer lockerer geführt wird. Er bewegt sich im Rahmen der zwischen Barth und Gogarten verhandelten Probleme, trägt aber nichts zu einer darüber hinausgehenden Klärung bei.

Demgegenüber unterscheidet sich der briefliche Austausch Go­gartens mit Brunner (351–377) durch einige Besonderheiten. Er weist allerdings ebenso wie der mit Thurneysen weite zeitliche Abstände auf und ist auch nur durch wenige Texte dokumentiert. Brunner dankt Gogarten für dessen Schrift »Die religiöse Entscheidung« von 1921 und revanchiert sich mit seinem im gleichen Jahr erschienenen Büchlein »Erlebnis, Erkenntnis und Glaube«. Dazu merkt Gogarten an, dass Brunner sich hier auf die subjektive Seite des Problems beschränkt habe, während die eigentlichen Schwierigkeiten erst zutage treten würden, wenn das »Objekt« des Glaubens in den Blick genommen wird (353 f.). Volle Zustimmung signalisiert Brunner zu Gogartens Besprechung der »Christlichen Dogmatik« Barths. Sie »hat meinem Faß den Boden ausgeschlagen. Sie haben einfach recht. Und mir bleibt keine andere Möglichkeit, als meine Dogmatik im Hinblick auf Ihre Gedanken von Grund auf neu durchzudenken« (355). Nach einem Besuch Brunners 1929 bei Gogarten äußert er einen überströmenden, fast servilen Dank des »Schülers« gegenüber dem »Lehrer« Gogarten (359)! Zu Differenzen zwischen beiden kommt es wegen Brunners Mitarbeit in der Ox­ford-Bewegung, die Gogarten als »Schwärmerei« einstuft, weil sie sich nicht an der Lehre, sondern nur an der Erfahrung interessiert zeigt (369–371). Brunner versucht, Gogarten die Bewegung als Korrektiv zur Barthschen Lehre verständlich zu machen, und rechtfertigt den Aspekt der Erfahrung für die Entfaltung der theologischen Lehre mit Luthers Satz: Experientia facit theologum (373).

Im »Anhang« (381–416) werden noch aufschlussreiche Materialien mitgeteilt, so u. a. der schon erwähnte Brief Barths an das Ministerium in Berlin (386–388), vor allem aber das interessante Sitzungsprotokoll vom 30.09.1933 über die internen Diskussionen über das weitere Schicksal der Zeitschrift »Zwischen den Zeiten« und den Rückzug Barths und Thurneysens von der Mitarbeit, der faktisch zum Ende der Zeitschrift führt (395–408). Durch ein ge­sondertes »Verzeichnis der Briefe und Postkarten« (XXIII–XXVII) und durch Register (419–436) werden die Briefwechsel über die ausführliche Kommentierung hinaus noch einmal vorzüglich erschlossen. Trotz der geäußerten Einwände muss dem Editor höchs­tes Lob für seine entsagungsvolle Arbeit gespendet werden, die uns einen weiteren Blick in das Hintergrundsszenarium einer bedeutsamen Epoche neuerer protestantischer Theologie ge­währt.

Bei dem S. 288, Anm. 1 genannten theologischen Bruder von Georg Schniewind, einem Freund Gogartens, handelt es sich vermutlich um Julius und nicht um August Schniewind.