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Ausgabe:

Dezember/2009

Spalte:

1352–1353

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Geerlings, Wilhelm, u. Christian Schulze [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Der Kommentar in Antike und Mittelalter. Bd. 1. Beiträge zu seiner Erforschung.

Verlag:

Leiden-Boston-Köln: Brill 2002. VIII, 371 S. m. Abb. gr.8° = Clavis Commentariorum Antiquitatis et Medii Aevi, 2. Geb. EUR 142,00. ISBN 978-90-04-12528-5.

Rezensent:

Wolfram Kinzig

Angesichts der Tatsache, dass die Forschung zur antiken Kommentarliteratur nicht eben in Sieben-Meilen-Stiefeln voranschreitet, mag es gestattet sein, auch noch mit erheblicher Verspätung (die ganz auf das Konto des Rezensenten geht) auf ein Buch hinzuweisen, welches bereits im Jahre 2002 veröffentlicht wurde, aber – in Ergänzung zu dem mittlerweile erschienenen RAC-Artikel von Ludwig Fladerer und Dagmar Börner-Klein, der u. a. die medizinischen Kommentare ausspart (Band XXI, 2006, 274–329) – in vielerlei Hinsicht unverändert den status quaestionis dokumentiert.

Das in diesem Bereich doch recht gemächliche Forschungstempo beruht in erster Linie darauf, dass Kommentare Sekundärtexte zur Erklärung von Primärtexten sind, diese aber nicht (nur) in ihrer Gesamtstruktur erhellen wollen, sondern auf die Auslegung einzelner Stellen gerichtet sind und somit als literarische Gattung in sich fast zwangsläufig außerordentlich disparat ausfallen. Darüber hinaus ist die Kommentarliteratur als akademische Gattung nicht nur in der Theologie beheimatet, ja nicht einmal dort entstanden (sie geht im engeren Sinne bekanntlich auf alexandrinische Philologen des 2. Jh.s v. Chr. zurück), sondern richtet sich auf nahezu die gesamte antike Textproduktion, insofern diese gelehrtes Interesse findet. Um einen Gesamtüberblick über dieses weit verzweigte Genre zu erhalten, muss man neben Bibelauslegungen litera­rische, philosophische, medizinische, juristische und astronomische Kom­mentare in den Blick nehmen, die sich philologisch und hermeneutisch in vielfältiger Weise gegenseitig beeinflusst haben.

Diese weite Perspektive lag dem Bochumer Graduiertenkolleg »Der Kommentar in Antike und Mittelalter« zu Grunde, das vom 1997 bis 2003 von der DFG gefördert wurde. Sprecher war der im Oktober 2008 früh verstorbene Bochumer katholische Patrologe Wilhelm Geerlings, und die Spannweite dieses Kollegs legt ein eindrucksvolles Zeugnis ab von Geerlings’ vielseitigen Interessen und Aktivitäten. Das vorliegende Buch ist der Versuch einer Zusam­menschau aus der Sicht der beteiligten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, ergänzt um eine Reihe von Gästen.

Ein Schwerpunkt des Interesses liegt heute allerdings im Be­reich der christlichen Kommentarliteratur. Wilhelm Geerlings gibt einleitend einen weiträumigen Überblick über die Charakteristika der lateinischen Kommentare und exemplifiziert seine Ausführungen u. a. anhand von Augustins Enarrationes in Psalmos. Dasselbe Werk steht anschließend auch bei Hildegund Müller im Zentrum der Aufmerksamkeit, die die Schwierigkeiten bei der Gattungsbestimmung der augustinischen Enarrationes in Psalmos und die sich daraus ergebenden editorischen Fragen erörtert.

Karla Pollmann untersucht die hermeneutischen und exegetischen Schriften des von seiner Kirche verstoßenen Donatisten Tyconius. Sie sieht ihn als rhetorisch bestens geschulten Vermittler zwischen Donatisten und Katholiken, gleichzeitig aber auch als Kritiker beider und illustriert diese These anhand seiner Eschato­logie, welche geschickt die Balance halte »zwischen einer exzes­-siv-fanatischen Naherwartung und einer geruhsamen Ignoranz bezüglich der zweiten Ankunft Christi, die nur noch katechetisch-mechanisch vermittelt« werde (54). Wolfgang Luppe führt die ver­schiedenen Gattungen der Dramenexegese vor, wie sie sich auf Papyri erhalten haben, und macht so eindrucksvoll deutlich, wie wichtig neueste papyrologische Entdeckungen und Erkenntnisse für die Altertumswissenschaft insgesamt sind. Otto Zwierlein gibt in einem schon etwas älteren, hier nachgedruckten Aufsatz einen Überblick über Interpretationstheorien in Jurisprudenz, Dichtung, Philosophie und (etwas beiläufig) über die jüdisch-christliche Bibelexegese. Auf den Zusammenhang dieser tour d’horizon mit der Gattung des Kommentars geht er indessen nicht ein. Wechselwirkungen zwischen Schulkommentaren paganer wie christlicher Provenienz und den systematischen Lehrbüchern vom Typ der artes grammaticae beleuchtet Ulrich Schindel. Der rätselhaften Cena Cypriani, einem im Mittelalter sehr populären Text mit allegorischen und parodistischen Zügen, versucht Lucie Dolezalova in ihrem Beitrag, mit spieltheoretischen Überlegungen auf die Spur zu kommen.

Gilles Dorival vergleicht jüdische und christliche Hermeneutiken im Umgang mit der Bibel und weist auf überraschende Parallelen hin. Zwei Aufsätze befassen sich ausschließlich mit jüdischen Kommentaren. Dagmar Börner-Klein bietet einen Überblick über rabbinische Deutungen der Geschichte von den Riesen in Gen 6,2–7, während Elisabeth Hollender eine Taxonomie der Kommentierungen liturgischer Dichtung (Pijjut) erstellt.

Philosophische Vertreter der Gattung stehen im Mittelpunkt der Arbeiten von Ilsetraut Hadot und Cristina D’Ancona Costa. Letztere nimmt in einem außerordentlich materialreichen Artikel den Übergang von der spätantik-griechischen zur mittelalterlich-arabischen Aristotelesrezeption in den Blick und trifft sich dabei in vielem mit Hadots Darstellung, welche die auf die Unterrichtspraxis zurückgehende Harmonisierung der Lehren des Platon und des Aristoteles in den Schriften der Neuplatoniker herausarbeitet. Dabei gelangt sie zu der anregenden These, dass die Bevorzugung der hochkomplexen Gattung des Philosophenkommentars die Breitenwirkung der neuplatonischen Philosophie erheblich eingeschränkt, ja den »Untergang der heidnischen Philosophie« bewirkt habe: »Der Kommentar, auch und gerade als geistige Übung, war nur wenigen zugänglich« (199).

Medizinische Kommentare behandeln Gotthard Strohmaier, Klaus-Dietrich Fischer, Sibylle Ihm und Christian Schulze. Schulze weist dabei darauf hin, dass Kommentare nicht auf die Textform beschränkt sind, sondern auch botanische Illustrationen in medizinisch-pharmazeutischen Werken der Spätantike und des Mittelalters bei hinreichender methodologischer Vorsicht als »Kommentare« gelesen werden können.

Die knappe Übersicht macht deutlich, welcher Reichtum an Informationen und Erkenntnissen dieser Band enthält. Allerdings eignen sich nicht alle Aufsätze zur Einführung in das unübersichtliche Forschungsfeld; mancher Beitrag geriert sich ebenso esoterisch wie sein Untersuchungsgegenstand.