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Ausgabe:

Dezember/2009

Spalte:

1346–1348

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Ziegler, Detlef

Titel/Untertitel:

Dionysos in der Apostelgeschichte – eine intertextuelle Lektüre.

Verlag:

Münster-Berlin: LIT 2008. 223 S. gr.8° = Religion und Biographie. Religion and Biography, 18. Kart. EUR 24,90. ISBN 978-3-8258-1496-0.

Rezensent:

Manfred Lang

Der Vf. legt mit dieser Arbeit seine von D. Dormeyer betreute Dissertation vor, die auf Grund der Information des Klappentextes, der Vf. sei klassischer Philologe wie Theologe, besonderes Interesse weckt. Eröffnet wird die Arbeit mit einem Forschungsüberblick (12–41), der Forschungsergebnisse von Joh 2,1–11, 1Kor 11,24–26 sowie Joh 18–20 unter dramentheoretischer Perspektive berück­sichtigt. Ist auf diese Weise ein allgemeiner Forschungshorizont eröffnet, folgt die Übersicht zu Arbeiten zur Apostelgeschichte. Daraus leitet der Vf. seine eigene Fragestellung ab, die darin besteht, »zwischen verschiedenen Erscheinungsformen des Dionysischen« (30) differenzieren zu wollen. Methodisch greift er auf das Phänomen der Intertextualität und der pragmalinguistischen Exegese zurück: Ersteres soll den dialogischen Textrahmen zur Verfügung stellen, der einerseits als offener Text keine einlinige Rezeption gestattet, jedoch fernab von dem Gedanken ist, beliebige Verständnismöglichkeiten zu eröffnen. Mit der Pragmalinguistik soll diese rezeptionsästhetische Perspektive verstärkt eingeholt werden, weil jeder Text auf Rezeption angelegt sei. Grundlage für diese texttheoretische Prämisse ist die historische Einsicht, »dass ein gebildetes Lesepublikum zur damaligen Zeit mit seinem enormen Schulwissen solche Intertextualitätsbeziehungen herstellen konnte, ja dass es geradezu zum literarischen Spiel gebildeter Gesellschaftszirkel gehörte, in einem Hypertext Hypotexte zu entdecken: Homer bei Vergil, Sappho bei Catull, Platon bei Apuleius (Amor und Psyche)« (34 f.). Hier bricht sogleich die Frage nach den verschiedenen Gattungen auf, die einerseits mit den Tragödien der Bak­chen und andererseits mit derjenigen der Apostelgeschichte benannt ist. Der Vf. greift diesbezüglich auf die Einschätzung zurück, wonach die nachklassische Tragödie ihr eigentliches Wesen zu Gunsten einer bloßen Unterhaltung und Zerstreuung verloren habe. Hier schlage die Geschichtsschreibung in der Kritik des Duris von Samos wie des Polybios die Brücke: Beide hatten jeden sensationalis­tischen Zug in einer Geschichtsdarstellung scharf kritisiert. Die mimetische bzw. dramatische Geschichtsschreibung im Weiteren und die historische Monographie bestimmten die Gattung ›Apostelgeschichte‹. Die biographischen Elemente (z. B. Handlungsfiguren) ergänzen das Gefüge und bestätigen, dass eine monokausale Gattungsbestimmung der Apostelgeschichte nicht sinnvoll sei.

Kapitel 2 (42–87) zeigt breit die Geschichte, Relevanz und Funktion der dionysischen Religion und Mysterien. Dabei geht der Vf. zunächst auf die (Vor-)Geschichte des Bacchanalienskandals aus dem Jahr 186 v. Chr. ein und legt dar, wie sehr römische auctoritas in ihrer Ausprägung der römischen Religion ernsthaft gefährdet war, was zu teils drakonischen Sanktionen des Staates führte. In dieser Analyse wird für den Vf. deutlich, dass flagitium und nomen nicht nur die entscheidende Funktion in der Bekämpfung des Dionysos-Kultes haben, sondern auch für die Verfolgung der christlichen Gemeinden (Tac Ann 15,44; Plin Ep 10,96 f.). Darlegungen zum antiken Vereinswesen stützen diese Querverbindungen und werden durch den lesenswerten Abschnitt zu der ›alltäglichen Ge­genwart des Dionysischen‹ ergänzt (54–66).

Kapitel 3 (88–131) thematisiert umfangreich die Anfänge der dionysischen Religion, die mit der Entstehung des griechischen Theaters verknüpft seien und zum ersten differenzierten Ergebnis führen, dass ausschließlich von einer ›neuen Religion‹ angesichts des traditionellen Materials nicht gesprochen werden könne (92). Ohne die eindringliche Analyse hier wiedergeben zu können, hebt der Vf. folgende Aspekte hervor: 1. Von einer neuen Religion könne deshalb nicht gesprochen werden, weil die Traditionsgeschichte gegen eine solche Einschätzung spreche. 2. Wesentlich sei das Mo­tiv des Adventus des Gottes Dionysos, der den Gedanken des lokal un­gebundenen Gottes zum Ausdruck bringe, gleichzeitig aber auch den Charakter des Fremdartigen angesichts der Tatsache zur Sprache bringe, dass Dionysos aus dem Osten komme. Somit stehe nicht weniger als dessen Ehre als eines Gottes zur Disposition. Damit verbinde sich auch das Thema, die Ehre seiner sterblichen Mutter Semele wieder herstellen zu müssen. 3. Dieses Motiv des Adventus mache jedoch deutlich, dass Dionysos für sich reklamiere, als ein neuer Gott im Kontext der traditionellen Religion anerkannt zu werden. Dabei wird u. a. deutlich, dass die Einschätzung eines einzig grausamen Gottes nicht zutreffend sei, weil er ganz furchtbar – aber auch ganz sanft sei (Bacch 861). 4. Pentheus wird widersprüchlich charakterisiert: als verantwortungsvoller Hüter von Moral und Ordnung und gleichzeitig als destruktiv Rasender. Züge der klassischen Tyrannentypologie seien erkennbar. 5. Eine Inversion der Rollen sei im Bild der Jagd erkennbar: Der Jäger wird zum Ge­jagten. Darin trete – besonders im zweiten Befreiungswunder – ein manischer Zug hervor. 6. Die Epiphanie (Stimme, Licht, Stille) am Schluss löse eine Kettenreaktion aus, weil das determinierte Schick­sal des Pentheus seinen Lauf nehme: misslungener Statuswechsel, fehlgeschlagener Versuch der Annäherung, destruktives Ende des »Leidens- bzw. Schmerzensmann(es)« (129).

Im vierten Kapitel (132–210) verfolgt der Vf. die genannten Spuren in der Apostelgeschichte hinsichtlich von »Konvergenzen« (132), die mit dem Motiv des »neuen Gottes« korrelieren. Dabei sind ihm die integrativen Potenziale der »Realpräsenz« (133) im Essen und Trinken, die Überwindung sozialer, ethnischer und kultureller Grenzen sowie die spezifische Kategorie der Verfolgung we­sentliche Kennzeichen. Mit ihnen will der Vf. die intertextuellen, übergreifenden und verbindenden Kontexte im Rahmen der Gattung der Apostelgeschichte herausstellen: vgl. Apg 1 f., 4,1–7; die Türöffnungs- und Be­freiungswunder (5,17–21; 12; 16); die Personenkonstellation (Ga­maliel – Teiresias, Stephanus, Paulus, Herodes Agrippa, Petrus); schließlich sind dabei die Themen ›Abschied und Verteidigung‹, ›Anklage und Ausblick‹ sowie die Reise nach Rom und die Ankunft dort von Bedeutung.

Ein kurzes Resümee (211 f.) und ein eher knappes Literaturverzeichnis (213–223) beschließen die Arbeit.

Die Stärken dieser Arbeit liegen sicherlich darin, die altertumswissenschaftliche Dionysos-Thematik breit vorzustellen. Die An­fänge bis hin zur Kaiserzeit werden mit immer wieder zitierten Quellentexten lebendig vor Augen gestellt. Dass vielfach betont wird, nicht literaturgenetische Zusammenhänge, sondern intertextuelle Konvergenzen vorzustellen, ist in methodischer Hinsicht sinnvoll. Die sich daran anschließenden Einzelexegesen erschließen diese Konvergenzen facettenreich.

Gleichwohl bleiben einige kritische Bemerkungen zu notieren: Die metho­dische Ausrichtung der Arbeit lässt es für den Rezensenten eher problematisch erscheinen, ausschließlich J. Kristeva, M. Bachtin und U. Eco zu rezipieren, wo es doch wohl um die beiden zu Grunde liegenden Phänomene der Systemreferenz und Einzelreferenz geht und somit eher U. Broich und M. Pfister sowie S. Holthuis und J. Helbig heranzuziehen gewesen wären. Sachlich wäre die Dionysos-Thematik auch noch an den Tragödien Senecas nachzuvollziehen gewesen, um weitere Aspekte für die neutestamentliche Zeit be­reitzustellen. Hinsichtlich der Exegese der Apg-Texte wird naturgemäß auch anders entschieden werden können. Jedoch wird das methodische Konstrukt der Intertextualität doch zu offen gefasst, wenn plötzlich Paulus selbst zum »neuen Dionysos« (188) deklariert wird. Dieser Wechsel würde im antiken Horizont entweder als Blasphemie oder als Hybris aufgefasst werden. Ob ein solcher Ge­danke aber ein rezeptionsästhetisch sinnvoller wäre, ist dem Re­zensenten fraglich.

Leider wird die neuere Forschung zur Apostelgeschichte, be­sonders die englischsprachige, zu wenig in die Diskussion einbezogen (z. B. Lynn Allan Kauppi, Foreign but Familiar Gods. Greco-Romans Read Religion in Acts, LNTS 277, London 2006; Joel B. Green, Internal Repetition in Luke-Acts: Contemporary Narratology and Lucan Historiography, in: History, Literature, and Society in the Book of Acts, ed. Ben Witherington III, Cambridge 1996, 283–299; sowie die Arbeiten von Daniel Marguerat und David Moessner; – zuvor wenigstens: John A. Darr, On Character Building. The Reader and the Rhetoric of Characterization in Luke-Acts, Literary Currents in Biblical Interpretation, Louisville 1992; schließlich: Stefan Alkier, Hinrichtungen und Befreiungen: Wahn – Vision – Wirklichkeit in Apg 12. Skizzen eines semiotischen Lektüreverfahrens und seiner theoretischen Grundlagen, in: Exegese und Methodendiskussion, TANZ 23, hrsg. v. Stefan Alkier, Ralph Brucker, Tübingen-Basel, 1998, 111–133.).
Seine Betreuungsaufgaben dem Vf. gegenüber hat der Verlag faktisch nicht wahrgenommen; unter typographischen Gesichtspunkten stimmt an dieser Arbeit faktisch nichts: Der Haupttext ist 9–10 pt. gesetzt, die Fußnoten entsprechend kleiner. Anschläge pro Zeile und Zeilen pro Seite lassen darauf schließen, dass die vorliegende Arbeit etwa auf 300 Seiten (!) zu formatieren gewesen wäre, mithin also gut 40 % mehr Text pro Seite untergebracht worden ist als üblich. Vom Kapitelsatz (rechte Seite ohne Kolumnentitel bringt das Kapitel, weitere Unterkapitel werden entsprechend kleiner formatiert) und den damit verbundenen Folgerungen (kapitelweise Fußnoten-Nummerierung) ist diese Arbeit völlig unbeleckt, weil alle fünf Überschrift-Kategorien in derselben Weise formatiert sind. Eigenartigerweise wird kein griechischer Zeichensatz verwendet (s. o.!), sondern – bisweilen eigenwillig – transkribiert. Unmotivierte Zeilen- und Seitenumbrüche, verteilt über die ganze Arbeit, stören die gliedernde Lektüre erheblich. Petit-Druck sollte üblicherweise mit einer Leerzeile eröffnet und beschlossen, ein Exkurs entsprechend hervorgehoben werden. Diese katastrophale Darbietung hat die Lektüre für den Rezensenten zu einer Qual werden lassen.


Es bleibt ein zwiespältiges Fazit zu ziehen: Unter methodischen Gesichtspunkten hätte der Arbeit weitere Präzisierung und Fortführung im Gespräch mit aktueller Literatur gutgetan. Gleiches gilt für die exegetischen Einsichten der Apostelgeschichte-Texte und für die Frage nach der Gattung der Apostelgeschichte. Positiv bleibt festzuhalten, dass ›das Dionysische‹ mit guten Gründen in den Diskurs der Apg-Exegese verstärkt eingebracht worden ist.