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Ausgabe:

Dezember/2009

Spalte:

1344–1346

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Tiwald, Markus

Titel/Untertitel:

Hebräer von Hebräern. Paulus auf dem Hintergrund frühjüdischer Argumentation und biblischer Interpretation.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien-Barcelona-Rom-New York: Herder 2008. XVI, 508 S. gr.8° = Herders Biblische Studien, 52. Geb. EUR 65,00. ISBN 978-3-451-29572-0.

Rezensent:

Robert Vorholt

Inmitten der aktuellen Debatte um eine theologisch angemessene Verhältnisbestimmung von jüdischem und christlichem Glauben richtet sich der Blick auch auf die Israeltheologie des Apostels Paulus. Gelegentlich begegnet der Vorwurf, Paulus habe ein antijüdisches Denken geprägt und damit christlicher Überheblichkeit Tür und Tor geöffnet. Im Hintergrund der Kritik steht die Frage, wie es nach Damaskus um das Judesein des Paulus bestellt war. Hat er mit seinem jüdischen Glauben gebrochen? Die Paulusforschung ist in diesem Punkt seltsam uneins. Markus Tiwald möchte mit seiner Publikation »Hebräer von Hebräern« Licht in das Dunkel der Vorverurteilungen bringen und unter Einbeziehung neuester judaistischer Erkenntnisse zum Frühjudentum den Nachweis führen, dass Paulus im Ereignis seiner Bekehrung gerade nicht den Glauben wechselte, sondern vielmehr unter dem Eindruck des Chris­tus­ereignisses und gestützt auf frühjüdische Argumentationsmuster eine neue Leseweise seines bleibenden jüdischen Glaubens propagierte. – Der Weg dorthin führt durch vier Teile.

Mit dem ersten Teil des Buches (»Prolegomena«, 3–34) gewährt T. seinen Leserinnen und Lesern anhand eines chronologisch angelegten Überblicks Eindrücke des gegenwärtigen Forschungsstandes und öffnet den Blick für die exegetisch-theologische Problemkonstellation. Angesichts der Überfülle von Monographien zum Thema konzentriert T. sich zunächst auf vier jüngere Beiträge aus dem deutschen Sprachraum (D.-A. Koch [1986], K.-W. Niebuhr [1992], K. Haa­cker [1997] und U. Schnelle [2003]) und stellt deren theologisches Substrat in knappen Zügen vor. Möglicherweise hätte hier der Hinweis auf die wegweisenden Arbeiten von P. von der Osten-Sacken (Evangelium und Tora [1987]) und Th. Söding (»… die Wurzel trägt Dich«[2003]) die einführende und grundlegende Funktion dieses ersten Tei­les optimieren können. T. weitet jedoch die Perspektive, indem er auch die englischsprachige Forschungslandschaft skizziert (H. Räisänen, E. P. Sanders und J. D. G. Dunn). Es folgt die Klärung einiger von T. ge­troffener methodologischer Vorentscheidungen (»interdisziplinärer, phä­nomenologischer Zu­gang in historischer Kontextplausibilität«), was sicher zur Präzisierung der Fragestellung beiträgt.

Im zweiten Teil (35–183) werden neueste einschlägige Erkenntnisse aus Judaistik und Exegese vorgestellt und in ihrer Konsequenz für die Paulusforschung beschrieben. T. plädiert für ein vielstim­miges und vielschichtiges Frühjudentum, das Begriffe wie »main­stream Judaism« oder »orthodoxes« bzw. »heterodoxes« Judentum kategorisch ausschließt. Mit kritischem Blick auf die Forschungslandschaft konstatiert T., dass dem Apostel sein Judesein nicht abgesprochen werden dürfe, wie umgekehrt nicht geurteilt werden könne, dass Paulus in irgendeiner Weise »typisch« oder »repräsentativ« für das damalige Judentum gewesen sei. Es ließen sich lediglich hier und da Parallelen oder Differenzen zwischen Paulus und der zeitgenössischen Literatur des Frühjudentums aufzeigen – die jedoch keine Rückschlüsse zuließen, wie jüdisch oder unjüdisch eine konkrete Sichtweise des Apostels für die damalige Zeit war. Um den Gedanken zu fundieren, erfolgt eine chronologische Neubestimmung des Rabbinismus mit dem Ergebnis seiner zeitlichen Trennung vom Pharisäertum, was T. schließlich dazu führt, im Folgenden vornehmlich den Pharisäismus zu charakterisieren und den Apostel dort – näherhin im Pharisäertum der Diaspora – zu verorten.

Nun ist der Weg nicht mehr weit zur Untersuchung der Art und Weise paulinischer Schriftrezeption. Um nachzuweisen, dass dieser Umgang entgegen mitunter vertretener Exegetenmeinung korrekt, vielleicht akribisch war, wirft T. einen Blick auf das Wesen antiker Schriftzitation. Anschließend fragt er nach der Bibel des Paulus und urteilt, dass die Textgrundlage des Apostels die Septuaginta war, die er teils zitierend, teils paraphrasierend aufgegriffen habe. Eine exakte Verhältnisbestimmung von Zitat und Paraphrase dokumentiert T. schließlich in tabellarischer Form.

Von der Schriftzitation kommend stellt sich die Frage nach möglichen Interpretationsregeln aus der Zeit des Apostels. Auch hier bleibt T. seiner Eingangsthese treu und betont, dass ebenso wenig, wie sich zur Zeit des Paulus das »typisch Jüdische« am Ju­dentum erfassen lasse, »typisch jüdische« Interpretationsregeln für die damalige Zeit festzumachen seien. Der in früherer Exegese geläufige Zugang, angeblich »jüdische« Argumentationsmuster bei Paulus zu suchen, sei deshalb nicht mehr gangbar. Stattdessen wählt T. den Weg eines phänomenologischen Vergleichs des Apostels Paulus mit anderen jüdischen Autoren seiner Zeit, um etwaige Parallelen bei auffälligen Argumentationsmustern feststellen zu können.

Das 508 Seiten starke Buch beweist seine Lesefreundlichkeit nicht nur in eingängiger Sprache, sondern auch in einer Vielzahl von Ergebnissicherungen. So wird am Ende des zweiten Teils festgehalten, wie sehr Sprache und Gebrauch der griechischen Bibel deutlich machen, dass Paulus griechisch dachte. Sprachkenntnisse des Hebräischen oder Aramäischen seien bei Paulus nicht sichtbar und dürften auch nicht über die Selbstbezeichnung »Hebräer von Hebräern« (Phil 3,5) reklamiert werden. Damit betont T. noch einmal, was sich als Cantus firmus durch sein Buch zieht: dass Paulus Jude war und blieb, zeit seines Lebens, auch als Christ!

Im detailgenauen dritten Teil (184–415) erfolgt auf theologischer Ebene ein phänomenologischer Vergleich des paulinischen Gesetzes- und Gerechtigkeitsverständnisses mit zeitgenössischen jüdischen Autoren am Beispiel seiner Verkündigung von der Rechtfertigung des Sünders, der im vierten Teil (416–448) ergänzt wird um einen Vergleich von Schriftinterpretation und -gebrauch auf formaler Ebene. Überzeugt, dass Paulus den Boden jüdischer Argumentationsmöglichkeiten niemals verlassen habe, stellt T. heraus, dass auch hinsichtlich der formalen Aspekte frühjüdischer und paulinischer Exegese kein fundamentaler Unterschied zwischen Paulus und dem ihm zeitgenössischen Judentum feststellbar sei. Es werde zudem deutlich, wie sehr die überkommene Paulusforschung auf den neuen Zugang des phänomenologischen Vergleiches verpflichtet sei, der die Rückfrage nach den jüdischen Wurzeln des Paulus auf breiterer Ebene allererst wieder möglich mache.

Am Ende kann T. ein beeindruckendes Fazit ziehen: dass der Apostel theologisch und formal kein einziges Mal die Grenzen dessen, was im damaligen Judentum möglich war, verlassen habe, sondern umgekehrt innerhalb dieser Möglichkeiten sehr souverän eigene Ansichten und Interpretationen vertrat, was ihn jedoch nicht in Opposition zum Judentum setze, sondern gerade innerhalb des Judentums profiliere. Dass die Argumentation des Paulus später als Meilenstein in der Entfremdung zwischen Judentum und Christentum verstanden wurde, könne darum nur als Verhängnis angesehen werden, für das der historische Paulus nicht verantwortlich gemacht werden dürfe.

Indem T. so die verkrusteten Strukturen überkommener Pau­lus­exegese durchbricht, gelingt es ihm mit seiner Arbeit, frischen Wind in die Forschungslandschaft zu bringen und zugleich neue, bessere Horizonte der Rückfrage nach Paulus zu eröffnen.