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Ausgabe:

Dezember/2009

Spalte:

1342–1344

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Schiffner, Kerstin

Titel/Untertitel:

Lukas liest Exodus. Eine Untersuchung zur Aufnahme ersttestamentlicher Befreiungsgeschichte im lukanischen Werk als Schrift-Lektüre.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2008. 467 S. gr.8° = Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament, 172. Kart. EUR 45,00. ISBN 978-3-17-019732-9.

Rezensent:

Martin Rese

Dieses umfangreiche Buch enthält die für den Druck leicht überarbeitete Fassung einer Untersuchung, die bei H. Balz und J. Ebach entstand und im Sommer 2006 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Bochum als Dissertation angenommen wurde. Der knappe Titel und der umständlich formulierte Untertitel lassen bereits die Spitzenthese des Buches erkennen, die lautet: Lukasevangelium und Apostelgeschichte »lassen sich lesen als Gesamtentwurf einer ›Exoduslektüre unter messianischen Vorzeichen‹« (15). Man könne zeigen, »dass zentrale Exodusthemen [z. B. Befreiung und Macht JHWHs] ... über die gesamte Breite des lukanischen Werkes zur Sprache kommen und dessen Darstellung prägen«; dessen »Gesamtaufbau ...[orientiere] sich an der Handlungsfolge Exodus 1 bis Josua 24« (16). Lukas erzähle die »Geschichte Jesu, des Gesalbten Gottes« als »Übersetzung der Befreiungsgeschichte [sc. Israels] ins Messianische« (49).

Doch bevor Sch. ihre Spitzenthese im dritten Hauptteil ihrer Untersuchung (217–393) ausarbeitet, bereitet sie ihre Leser auf 200 Seiten für dieses »Lesen« vor. Im »ersten Hauptteil« (»I. Lukas liest Exodus: Einleitendes, Methodisches, Grundlegendes und Überblick­haftes zur lukanischen Exoduslektüre«, 15–71) befasst sie sich mit »einleitenden wie grundlegenden – und dadurch Grund legenden – methodisch-hermeneutischen Fragestellungen« (16). Bemerkenswerterweise räumt Sch. gleich zu Beginn ein, sie könne »einen ›objektiven‹ Beweis dafür, dass Lk die Exoduserzählung in schriftlicher Form vorlag, nicht erbringen« (19, Anm. 16). Aber das stört sie nicht weiter, weil sie meint, es sei »mit einem – teils engen, teils weiten – Begriff von Intertextualität ... mit Hilfe von Schlüsselbegriffen, Leitstrukturen etc. der spezifischen Exoduslektüre des lukanischen Werkes auf die Spur zu kommen« (36).

Mögliche Kritik an der Intertextualität, nämlich, sie entnehme manchmal den Texten mehr, als sie enthalten, kennt Sch., nimmt sie aber nicht ernst. – Bei der Verfasser- und Adressatenfrage weicht Sch. vom kritischen Konsens ab: Für sie ist der Verfasser des lukanischen Doppelwerkes nicht ein »Heidenchrist«, sondern ein »Ju­den­christ«, und die »Adressatinnen und Adressaten des Doppelwerks« sind für sie nicht Heidenchristen, sondern »eine Gruppe ..., die aus Jüdinnen und Juden, Menschen, die zum Judentum übergetreten sind«, und »sogenannten Gottesfürchtigen zusammengesetzt ist« (55). Beides ergibt sich für Sch. daraus, »dass Lukas sich nicht nur selbst als versierter Kenner der Schrift erweist, sondern auch von denjenigen, die sein Werk hören oder lesen, profunde Schriftkenntnis und Vertrautheit mit der Tradition erwartet« (54–55) – »Schriftkenntnis« ist aber in der Frühzeit des Christentums nicht ein Markenzeichen allein der Judenchristen; auch für Heidenchristen (die einen Brief oder ein Evangelium für Mitchristen abfassten oder empfingen) war die Septuaginta ihre heilige Schrift.

Im »zweiten Hauptteil« (»II. Exodus – auf der Spur der Befreiungserfahrung Israels in biblischen und nachbiblischen Texten«, 73–216) zeigt Sch. »exemplarisch auf, wie vielfältig der semantische Raum ›Exodus‹ zur Zeit des Lukas gefüllt ist« (17). Zunächst wird Ex 1 bis Jos 24 relativ breit nacherzählt (74–124) und dann kurz auf die »Exoduslektüre in der Schrift« außerhalb von Ex 1 bis Jos 24 geblickt (124–130). Anschließend untersucht Sch. die »Exoduslektüre – nach der Schrift« (131–216) anhand von drei Büchern aus dem Zeitraum von der Mitte des 2. Jh.s v. Chr. bis zur Mitte des 2. Jh.s n. Chr.: Jubiläenbuch (133–154), Liber Antiquitatum Biblicarum (154–189), Antiquitates Judaicae des Josephus (190–210). Das Fazit dieser »drei Exoduslektüren« ist erstaunlich mager: Sie ermöglichten »einen Einblick in die Vielfalt der Vorstellungen, die zu jener Zeit in innerjüdischen Diskursen über den Exodus im Umlauf waren« (215).

Im »dritten Hauptteil« kommt Sch. endlich zu ihrem Thema (»III. Lesen, wie Lukas Exodus messianisch liest«, 217–338.393). Sie behandelt zunächst »Einzelverbindungen zwischen Lk-Apg und der Exoduserzählung« (218–259), stellt aber sofort fest, diese könnten nicht »allein die Beweislast für eine ›Exodus-Theologie‹ des lukanischen Werkes erbringen« (219) – eben! Deshalb ist auf diesen Abschnitt auch nicht näher einzugehen. Wichtiger sind die fünf Beispiele, die Sch. mehr oder weniger ausführlich untersucht.

1. »Mirjam, die Prophetin des Exodus, und Maria, die Mutter Jesu« (259–296): Deutlicher als dieser Kapiteltitel zeigt die Seitenüberschrift »Mirjam und Maria – die lukanische Mirjam als Nachfahrin der Prophetin« an, was Sch. beweisen will. – Gelungen ist dieser Beweis nicht, was Sch. zu ahnen scheint; denn sie räumt ein, es sei »die Begegnung zwischen Gabriel und Maria auf der Ebene der kanonischen Schrift nicht als Exoduslektüre auszuweisen« (278) und »Marias Loblied« berühre sich nicht nur mit dem »von der Prophetin Mirjam mit Mose gesungenen Schilfmeerlied«, sondern es lege »auch Spuren in eine ganze Reihe anderer Texte der Schrift« wie z. B. »das Hannalied« (290 und Anm. 499), auf das bekanntlich sonst zu Recht als Parallele hingewiesen wird.

2. »Jesus in Nazareth – Das Programm der Befreiung (Lk 4,16–30)« (297–319): Hier steht für Sch. von vornherein fest, der »Befreier Jesus von Nazareth ... der Anführer des erneuten Exodus ... [trete] in der Rolle des Schriftauslegers« auf (297), der, und das ist das Ergebnis der Untersuchung von Lk 4,16–30, »die Menschen dazu aufruft, ihren Teil in dem von Gottes Seite her begonnenen Befreiungsgeschehen zu übernehmen, das den Exodus in ihrer eigenen Zeit wieder erfahrbar sein lässt« (319). – Zwar kommt in Lk 4,18 das Wort »Befreiung« vor, doch ein Aufruf an die Menschen, ihren Teil zu übernehmen, ist in Lk 4,16–30 nicht zu finden.

3. »Satan – der Gegenspieler in der Befreiungsgeschichte« (320–335): Sch. hält selbst das entscheidende Problem ihrer These fest: Im LkEv werde »an keiner Stelle explizit formuliert«, dass »sich die in Jesus neu bestätigte Befreiungstat Gottes« gegen die »Tyrannei Satans« richtet; das geschehe erst in Apg 10,38 (320).– Das ist offensichtlich eine zu schmale Basis für eine derart weitreichende These.

4. »Exkurs: Unterschlagung gefährdet die Befreiung (Apg 5,1–11/Jos 7)« (335–338): Sch. vergleicht Apg 5,1–11 (Ananias und Saphira) und Jos 7 (Achan), weil in beiden Texten das Verb »veruntreuen« vorkommt. – Auch wenn Sch. mit Hilfe von historisierenden und psychologisierenden Vermutungen noch mehr Vergleichspunkte zu erbringen versucht, es gibt sie nicht.

5. »Exodus in doppelter Perspektive – die Stephanusrede (Apg 7,2–53) als Sonderfall lukanischer Exoduslektüre« (339–393): Sch. ist sich sicher, in der Stephanusrede sei der »Exodus mit Mose als Anführer ... die grundlegende Komponente der Geschichte Israels« (391). – Nun, wer Apg 7 liest, dem fällt es schwer, ihr zuzustimmen, denn so eindeutig ist das nicht. Zwar spielt Mose in Apg 7,20–43 eine wichtige Rolle, aber der Exodus steht dabei nicht im Vordergrund, wohl aber der Widerstand, den Moses in Ägypten und auch in der Wüste von Seiten seiner Landsleute erfahren hat, so wie Jesus, dessen Prototyp Moses hier ist.


Insgesamt ist das Buch sehr weitschweifig und umständlich. Sch.s Versuch, Jahwe/Gott abwechselnd weiblich und männlich aufzufassen, macht den Text noch komplizierter. Sch. selbst weist im Vorwort darauf hin, dass ihre Doktorväter Balz und Ebach die Untersuchung »geduldig und doch unnachgiebig vorangetrieben« hätten, »wann immer ich noch tiefer in Einzelfragen eindringen wollte« (5). Ich meine, das hätte noch sehr viel öfter geschehen können und müssen; auch ein straffendes Lektorat bei der Veröffentlichung wäre gut gewesen. Für mich hat Sch. ihre Spitzenthese nicht bewiesen; doch mir ist klar, dass sie das für ein Fehlurteil halten wird.