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Ausgabe:

Dezember/2009

Spalte:

1335–1338

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Wong, Gregory T. K.

Titel/Untertitel:

Compositional Strategy of the Book of Judges. An Inductive, Rhetorical Study.

Verlag:

Leiden-Boston: Brill 2006. XII, 287 S. gr.8° = Supplements to Vetus Testamentum, 111. Lw. EUR 108,00. ISBN 978-90-04-15086-7.

Rezensent:

Walter Groß

Gregory T. K. Wong greift mit seinen sehr detaillierten Untersuchungen zum gesamten Richterbuch in die überwiegend englischsprachigen Auseinandersetzungen um einen angemessenen holis­tischen Zugang zu diesem Buch ein. Er plädiert für den absoluten Vorrang synchroner Analysen, zieht aus diesen aber diachrone Folgerungen. Seine These lautet: Das Richterbuch wurde von einem einzigen Autor geformt und stellt die Geschichte Israels nach Struktur wie Inhalt als von Süden nach Norden fortschreitende Verschlechterung auf Grund zunehmender Missachtung der königlichen Autorität JHWHs dar.

W. behauptet zunächst in einer eigenwilligen Forschungsübersicht, die diachrone Forschung habe zu nicht konsensfähiger re­daktionsgeschichtlicher Fragmentierung geführt. Ihr stellt er die seit den 60er Jahren im angelsächsischen Sprachraum entstandene holistische Richterbuchexegese gegenüber, die dessen Sprache, Stil und Komposition synchron untersucht und nach einer umfassenden einheitlichen Aussageintention des Richterbuchs insgesamt fragt, in ihren wichtigsten Vertretern aber die literarische Einheit nicht bewiesen, sondern vorausgesetzt und auch keine übereinstimmenden Thesen gefunden habe. Diese Einheit in Tendenz und Autorschaft will W. beweisen. Er übernimmt als vorläufige Be­schreibungskategorie die Einteilung des Richterbuchs in Prolog 1,1–2,5, Zentralteil 2,6–16,31 und Epilog 17,1–21,25 und sucht in drei Kapiteln nach rhetorischen Verknüpfungen, sprachlichen Ge­meinsamkeiten und parallelen Handlungsstrukturen zwischen Prolog – Epilog, Epilog – Zentralteil und Prolog – Zentralteil. »Then such a display of unity of design will constitute a strong argument that a single creative mind stood behind the present form of the book, and that each constituent narrative is to be read as an integral part of the larger whole« (23). Unter dieser Voraussetzung muss er als bedeutsames Gegenargument in einem weiteren Kapitel das immer wieder wahrgenommene Gegeneinander königsfreundlicher und königsfeindlicher Passagen untersuchen. Im letzten Kapitel legt er seine Synthese zu Komposition und Aussagetendenz des Richterbuchs vor. Auch wenn W. wenig Verständnis für das komplizierte und differenzierte Verhältnis diachroner und synchroner Textzugriffe erkennen lässt, ist seine Fragestellung interessant und verspricht im Fall relevanter Beobachtungen die wissenschaftliche Diskussion anregende Ergebnisse.

Prolog – Epilog: W. stellt alle bislang beachteten Bezüge einerseits zwischen Prolog und Epilog, andererseits zwischen beiden und Jos zusammen und schließt daraus, dass derselbe Autor in Prolog und Epilog am Werk ist. Eine Bestätigung dafür gewinnt er aus zwei Anspielungen auf Jos im Prolog (Jos 2 und 6) und auf zwei weitere im Epilog (Jos 2; 8; 22), weil sie jeweils darauf hinauslaufen, dass in Jos positiv beurteilte und siegreiche Aktionen in Ri fehlerhaft nachgeahmt werden und/oder desaströse Ergebnisse zeitigen.

Um diese negative Linie aufzuweisen, wertet W. massiv, ohne zu zeigen, dass dies auch nur im Entferntesten den Wertungen seiner Texte entspricht: In Jos 2 wird von den Israeliten Barmherzigkeit erbeten und gewährt, nachdem Rahab ein Bekenntnis zu JHWH abgelegt hat; in Ri 1 bieten die Kämpfer des Hauses Josef dem Mann aus Lus ohne Vorleistungen Barmherzigkeit an, um ihn zum Verrat zu animieren; er schließt sich auch nicht den Israeliten an, sondern wandert aus und gründet ein neues Lus. In Jos 8 vollziehen die Israeliten die Vernichtungsweihe an den Kanaanäern von Ai, in Ri 20 dagegen an einem israelitischen Stamm, obgleich keine der in Dtn 13 genannten Verfehlungen vorliegt. Zwar verheißt auch in Ri 20 JHWH den Israeliten Sieg, aber erst auf deren dritte Bitte hin und nach zwei Niederlagen. Während ein vermeintliches kultisches Delikt in Jos 22 wegen besonnenen Verhaltens der Israeliten nur beinahe zu innerisraelitischem Bürgerkrieg geführt hätte, reagieren die Israeliten in Ri 18 auf die Idolatrie von Dan gar nicht (hier hätte W. somit eine gesamtisraelitische Intervention für angezeigt gehalten), in Ri 19–20 dagegen führen sie den Bürgerkrieg »nur« wegen eines Sexualverbrechens gegen Individuen. Außerdem regen die Ältesten Israels in Ri 21 den Frauenraub von Schilo an und unterstützen so »the very same crime« (74), um dessentwillen sie den Bruderstamm Benjamin nahezu ausgerottet haben.

Epilog – Zentralteil: W. behauptet, der Epilog spiele siebenfach derart auf den Zentralteil an, dass die bizarre Handlungsweise einer Gestalt des Epilogs jeweils vergleichbar bizarre Taten eines Helden des Zentralteils widerspiegele. 1. Das Efod verbindet den idolatrischen Kult Michas mit dem Gideons. 2. Der Levit von Ri 17–18 verstößt ähnlich umfassend gegen seine Berufspflichten wie Simson gegen die ihn bindenden Nasiräer-Vorschriften. 3. Die Daniten tun in Ri 18 das in ihren Augen Richtige und insofern das in den Augen JHWHs Falsche, wie Simson auf optische Eindrücke hin die Philis­ terin von Timna als falsche Frau heiratet. 4. Der Levit von Ri 19 umwirbt erst und opfert dann seine Konkubine, wie Simson die Timniterin umwirbt und dann verlässt. 5. Der überraschende und unangemessene Einsatz der Benjaminiten für die Gibea­titer entspricht dem unangemessenen und betrügerischen Verhalten Ehuds gegenüber König Eglon; der Hinweis auf die linkshändige Kampftechnik Ri 3,15; 20,16 unterstreicht die Beziehung. 6. Israel handelt gegenüber dem Stammesbruder Benjamin in Ri 20 viel strenger als in Ri 1 gegenüber den nicht-israelitischen Feinden; dem entspricht das Verhalten Gideons gegen Sukkot und Penuel und das Jiftachs gegenüber den Efraimiten. 7. Israels vorschnelle Eide werden in Ri 21 den Jungfrauen von Jabesch-Gilead und von Schilo ebenso zum Verhängnis wie Jiftachs unbedachtes Gelübde seiner Tochter. Diese sieben Anspielungen lassen auf einen einzigen Autor des Epilogs schließen, der diesen von vornherein als Verständnisschlüssel für den Zentralteil verfasste und dadurch indirekt die Helden des Zentralteils beschuldigte, als Führer durch ihre Fehler letztlich für den im Epilog geschilderten kollektiven chaotischen Niedergang verantwortlich zu sein.

Beziehungen zwischen Epilog und Zentralteil sind tatsächlich unbestreitbar. Aber die behaupteten inhaltlichen Entsprechungen und wechselseitigen un­angemessen moralisierenden Auslegungen bleiben unglaubwürdig, da sie in 1., 2. und 3. (die Formel »das in den eigenen Augen Richtige tun« begegnet weder in Ri 18 noch bei Simson) an den Haaren herbeigezogen sind und in 5. geradezu skurril anmuten. Außerdem schwächt W. seine eigene These und begeht einen methodischen Fehler, indem er aus seinen flächig-synchronen, auf jegliche Diachronie verzichtenden Beobachtungen diachrone Folgerungen zieht dergestalt, das Efod in Ri 17–18, das Weglaufen der Nebenfrau in Ri 19 und die Kennzeichnung der Benjaminiter als Linkshänder in Ri 20 seien erst sekundär im Blick auf die jeweiligen Heldenerzählungen hinzugefügt worden. Er begründet dies nicht etwa mit literarkritischen Anstößen, sondern lediglich damit, dass diese Passagen ausgeschieden werden könnten, ohne eine spürbare Lücke zu hinterlassen.


Prolog – Zentralteil: Im Prolog isoliert W. fünf Mini-Erzählungen: die JHWH-Befragung 1,1–3, Adoni-Bezek 1,5–7, Achsa 1,12–15, Lus/Betel 1,23–26 und JHWH-Bote 2,1–5. Da sie jeweils in Details Episoden aus dem Epilog und in geringerem Maß Erzählungen des Zentralteils (vgl. Adoni-Bezek und Abimelech sowie 2,1–3 und 2,20–21) entsprechen, spricht dies dafür, dass der Prolog von vornherein als Einführung des gesamten Richterbuchs konzipiert wurde. Den Rest von Kapitel 1 versteht er als relativ kohärente, künstlich arrangierte Landnahme-Erzählung, derzufolge der Erfolg der Stämme von Süden nach Norden kontinuierlich abnimmt. Die gleiche Konzeption einer kontinuierlichen Verschlechterung, die in 2,19 explizit behauptet wird, versucht W. unter fünf Aspekten auch im Zentralteil nachzuweisen, auch sie entspreche einer Süd-Nord-Ausrichtung. Daraus folgt für ihn, dass Ri 1 ausdrücklich als Paradigma für den Zentralteil verfasst wurde.

1. Abnehmendes Vertrauen in JHWH: Das ist zwar Thema der Debora-Barak-Erzählung, hingegen verkennt W., indem er die Episoden hier einordnet, die Funktion von Einwand und Zeichenbitte in der Berufung Gideons, von Jiftachs Gelübde und Simsons Klagegebet 15,18. 2. Zunehmendes Eigeninteresse der Richter an ihren Aktionen: Dieser Gesichtspunkt als negatives Kriterium ist den Texten durchaus fremd und scheint statt Exegese vielmehr Predigttraditionen zu entspringen. W. wirft Gideon z. B. vor, dass er die beiden Midianiterkönige nicht sofort exekutiert, sondern ihnen, hätten sie seine Brüder nicht getötet, das Leben geschenkt hätte. Auch verurteilt er Blutrache als privates Motiv. 3. Abnehmende Teilnahme der Stämme an den Militäraktionen: Das funktioniert bei Debora–Barak nur, weil er in diesem Fall vom sog. Deboralied, nicht von der Prosaerzählung ausgeht, die Barak lediglich mit zwei Stämmen in die Schlacht ziehen lässt. 4. Zunehmend harte Reaktion der Richter auf interne Auseinandersetzungen: Die Polemik des Deboraliedes gegen die un­willigen Stämme ist ein schwacher, Gideons Reaktion auf den Vorwurf Efraims, nicht von Gideon gerufen worden zu sein, ein ungeeigneter Beleg. Bezüglich der Konfrontation Jiftachs mit Efraim wird nicht berücksichtigt, dass die Eskalation von den Efraimiten ausgeht, die Jiftach in seinem Haus verbrennen wollen. 5. JHWHs wachsende Frustration über sein Volk: Hierfür kann W. nur den Auftritt des Propheten vor Gideons Berufung und den Dialog JHWHs mit dem Volk zu Beginn der Jiftachepisode anführen, bei Otniël, Ehud, Debora /Barak und Simson findet sich nichts dergleichen. Die fünf Gesichtspunkte beweisen nicht, was sie sollen. Hier irritiert besonders, dass W. Prolog, Epilog und Zentralteil rein synchron auswertet, dennoch aber Folgerungen zieht, die nicht den Eindruck, den der Endtext auf den Leser ausübt, sondern die Intentionen des Verfassers von Prolog und Epilog betreffen.

W. sieht eine Gemeinsamkeit der kurzen Adoni-Bezek-Notiz im Prolog 1,6–7 mit der langen Abimelech-Erzählung im Zentralteil Ri 9 darin, dass beide je 70 Rivalen grausam töten und göttliche Vergeltung erleiden, und begründet damit die Vermutung, die Adoni-Besek-Notiz sei zu dem Zweck im Prolog eingeführt worden, um die »Kanaanisierung« Abimelechs anzuzeigen. Da er als einziger israelitischer König im Richterbuch eine derart negative Gestalt ist, muss der königsfreundliche Refrain 17,6; 18,1; 19,1; 21,25 sich auf JHWH als König Israels beziehen. Eine weitere Verbindung zwischen Prolog und Epilog, die kollektive Akteure, aber keine Richter kennen, und dem Zentralteil sieht W. darin, dass Simson als Verkörperung Israels gezeichnet ist. Das vertieft er durch eine allegorische Auslegung der Szene mit der Prostituierten von Gaza 16,1–3. Schließlich versucht er – angesichts des widerständigen Materials notgedrungen in äußerst spitzfindiger Argumentation – zu erweisen, dass die Kombination der Heldenerzählungen mit den beiden Fragmenten der Liste der »Kleinen Richter« alle zwölf Stämme, und zwar von Süden nach Norden, berücksichtigt.

Da Prolog und Epilog darin übereinstimmen, die Helden des Zentralteils indirekt negativ zu beurteilen, und diese Sicht sich auch im Zentralteil aufweisen lässt, vermutet W. abschließend, der Autor von Prolog und Epilog sei auch verantwortlich für die Auswahl der im Zentralteil gesammelten Erzählungen aus einer Vielzahl ihm zuhandener Geschichten. Will man die Charakteri­sierung des Autors als Deuteronomist beibehalten, könne dieser zu­mindest nicht im Sinn der These Martin Noths der Verfasser des Deuteronomistischen Geschichtswerks sein, denn die jetzige Wei­terführung durch die positiv gewertete Tätigkeit Samuels als Richter konterkarierte die Linie progressiver Verschlechterung des Richterbuchs. Man müsse dann die Darstellung der Volksgeschichte als Aneinanderreihung relativ selbständiger deuteronomistischer Detailentwürfe verstehen.

W. hat durch den detaillierten Hinweis vielfältiger sprachlicher Bezüge die nicht nur von ihm, insgesamt aber selten vertretene These bestärkt, dass Ri 1 im Hinblick auf die restlichen Teile des Richterbuchs als deren Einleitung verfasst wurde und dass wohl auch die redaktionelle Bearbeitung und Hinzufügung der Erzählungen in Ri 17–21 von dessen Autor stammt. Die Argumente für die Behauptung, auch der die Heldenerzählungen umfassende Hauptteil sei nach denselben strukturellen und inhaltlichen Prinzipien gestaltet und gehe insofern ebenfalls auf den Autor von Ri 1,1–2,5 und Ri 17–21 zurück, überzeugen nicht. Zu viele der auf massiv moralisierenden Wertungen basierenden vermeintlichen Parallelen und Bezüge erscheinen willkürlich. Die Absicht, eine einheitliche Struktur und Aussageabsicht zu erweisen, verhindert die Wahrnehmung von Brüchen. Das tritt in der umfangreichen und vielfältigen Gideonerzählung besonders deutlich hervor: Um der Verschlechterungsthese willen, die sich u. a. auf die Efod-Episode 8,24–27 stützt, muss dann z. B. Gideons Zurückweisung eigener dynastischer Herrschaft 8,22–23 als unehrliche Bemäntelung tatsächlichen Strebens nach königsgleicher Stellung denunziert werden. Vor allem aber der Versuch, angesichts eines kompliziert gewachsenen Werks aus synchronen Analysen des Endtextes ohne präzise literarkritische Argumentation diachrone Folgerungen abzuleiten, ist methodisch unberechtigt.