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Ausgabe:

Dezember/2009

Spalte:

1332–1335

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Riede, Peter

Titel/Untertitel:

Vom Erbarmen zum Gericht. Die Visionen des Amosbuches (Am 7–9*) und ihr literatur- und traditionsgeschichtlicher Zusammenhang.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2008. X, 374 S. m. Abb. 8° = Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament, 120. Lw. EUR 54,00. ISBN 978-3-7887-2245-6.

Rezensent:

Judith Gärtner

Die 2005 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen als Habilitationsschrift angenommene Studie unternimmt es, die Visionen des Amosbuches (7–9*) in ihrem literatur- und traditionsgeschichtlichen Zusam­menhang zu untersuchen. Peter Riede richtet dabei den Fokus darauf, das den Visionen zu Grunde liegende Weltbild in seinem traditions- und religionsgeschichtlichen Zusammenhang zu erarbeiten, um auf dieser Grundlage neue Facetten der im Visionszyklus verwendeten Bildwelt zu erschließen. Voraussetzung seines traditionsgeschichtlichen Zugangs ist eine Kompositionsanalyse von Am 7–9, in der R. von der literarischen Einheitlichkeit der fünf Visionen (Am 7,1–3.4–6.7 f.[9]; 8.1 f.[3]; 9,1–4) ausgeht. Ausgenommen werden nur die Verse Am 7,9 und Am 8,3, die als spätere Konkretionen des göttlichen Vernichtungshandelns zu verstehen seien. Auf dieser Grundlage zeigt er durch eine detaillierte semantische Analyse, dass Nordreichtraditionen, insbesondere die Betheler Tempeltheologie, den traditionsgeschichtlichen Hintergrund der Visionen darstellen. Der Visionszyklus ist nach R. von Nordreichtraditionen durchzogen, »die ursprünglich mit dem Staatskult in positivem Zusammenhang standen und diesen legitimierten, nun aber allesamt in ihr Gegenteil gewendet werden« (330).

R. entwickelt seine Ergebnisse in drei Hauptteilen. Nach einer informativen Einleitung zum Stand der Forschung untersucht er in den ersten beiden Hauptteilen die Visionen 1–4 und die Vision 5 literatur- und traditionsgeschichtlich. Diese Ergebnisse sind in einem dritten Hauptteil im Hinblick auf das Welt-, das Gottes-, das Propheten- und das Israelbild der Visionen so zusammengeführt, dass ein die Diskussion weiterführendes Gesamtverständnis des Visionszyklus gewonnen wird. Die Arbeit schließt mit einem Literaturverzeichnis, einem Sach- und einem Stellenregister.

In seiner Kompositionsanalyse der Visionen 1–4 bestätigt R. die in der Forschung verbreitete Ansicht einer paarweise angeordneten Komposition, die sich vor allem im gleichen Aufbau der Visionen 1–2 und 3–4 zeigt. Die fünfte Vision in Am 9,1–4 hingegen unterscheidet sich in der Länge, im Aufbau und in ihren sprachlichen und theologischen Vorstellungen von den ersten vier Visionen, so dass R. hier zu Recht den Schwerpunkt seiner Studie setzt. In seiner Kompositionsanalyse erarbeitet R. die fünfte Vision als genuinen Bestandteil des Zyklus heraus. Dadurch ergibt sich s. E. ein Kompositionsprinzip von 2 + 2 + 1, durch das die Sonderstellung der fünften Vision besonders herausgehoben werde. Diese in der Forschung nicht unumstrittene Annahme der literarischen Einheitlichkeit der fünf Visionen begründet R. mit sprachlichen und traditionsgeschichtlichen Argumenten. Als sprachliche Hinweise gelten ihm das gemeinsame Stichwort לﬠ בצנ in der Vision 3 und 5, – wobei JHWH in der Vision 3 auf der Stadtmauer und in der Vision 5 auf dem Altar steht, – sowie die nicht weiter spezifizierte Anrede »ihnen םלכ« für Israel in Am 9,1. Diese Anrede ist, so R., nur im literarischen Kontext des Visionszyklus zu verstehen und setzt somit die Visionen 1–4 voraus. Diese Beobachtung wertet R. als ein Indiz für die literarische Einheitlichkeit der fünf Visionen. Diese Argumentation ist allerdings nicht zwingend, da auch einem Redaktor die Visionen 1–4 vorliegen würden und dieses Argument deswegen ebenso gut eine Fortschreibung der Visionen 1–4 in der Vision 5 begründen könnte. Deswegen unterstützt R. seine sprachlichen Argumente für die literarische Einheitlichkeit mit einem aus der Komposition gewonnenen Argument:

Die fünf Visionen, so R., sind klimaktisch aufgebaut und erreichen ihren Höhepunkt in der letzten Vision in Am 9,1–4. So zielt das Bild der ersten Vision, des von JHWH geschaffenen Heuschreckenschwarms, auf die Vernichtung der Vegetation. Das Bild der zweiten Vision, des Feuers, bedeutet die Vernichtung des Grundwassers und des Ackerlandes und hat Trockenheit zur Folge. Im Unterschied zu den ersten beiden Visionen, in denen das Gericht durch natürliche Größen hervorgerufen wird, hebt R. hervor, dass Gott in den Visionen 3 und 4 das Gericht selbst herbeiführt (156). Das Bild der dritten Vision führt in das Zentrum des Staates und zielt auf Krieg, während das Bild der vierten Vision wiederum aus dem Bereich der Natur bzw. der Ernte stammt und im Unterschied zu den ersten drei Visionen das Ende des Volkes vorhersagt. Dabei betont R. zu Recht, dass die erste und vierte Vision sprachlich eng miteinander verbunden sind. Drohten die Heuschrecken am Beginn des landwirtschaftlichen Jahres שׁקל, so weist das Stichwort ץיק auf dessen Ende. Nimmt das Unheilsgeschehen in der ersten Vision seinen Anfang (הלחת), so findet es in der vierten Vision sein Ende (ץק). Auf Grund dieser Bezüge zwischen der ersten und vierten Vision sowie der Beobachtung, dass sich die Gerichtsandrohungen der Visionen dahingehend steigern, dass sie in der vierten Vision das Ende des Volkes ansagen, sieht R. in der vierten Vision ein vorläufiges Ziel des Zyklus. Dieses ist aber nicht als Höhepunkt anzusehen, sondern lediglich »als ein retardierendes Moment …, das die Spannung steigert und die entscheidende Aussage der fünften Vision vorbereitet« (308). Denn erst in der fünften Vision ist das Gericht durch die Erschütterung am Tempeltor, die die vorfindliche Lebenswelt in Gänze betrifft und einem heilvollen Leben die Basis entzieht, im Vollzug. Diese Steigerung, die in der fünften Vision ihren Höhepunkt erreicht, spiegelt sich, so R., auch in der Rolle des Propheten, der im Laufe der Visionen die Seiten wechselt. Sind die Visionen 1–2 noch geprägt von der Fürbitte des Propheten, die auf die Rücknahme des Gerichts zielt, findet sich in den Visionen 3–4 bereits keine Fürbitte mehr, sondern lediglich eine Antwort des Propheten auf die Frage JHWHs, mit der Amos das Gericht benennen und herbeirufen muss. In der Vision 5 ist »der Prophet schließlich völlig passiv und nur noch Zeuge des beginnenden Gerichts« (325).

Dass die Visionen 1–4 auf die Gerichtsankündigung der Vision 5 zulaufen, gehört zu R.s wichtigsten Einsichten in seiner Untersuchung von Am 7–9*. Diese kann er noch dahingehend untermauern, dass auch in seiner detaillierten semantischen und religionsgeschichtlichen Analyse der fünften Vision die den Visionen zu Grunde liegende Nordreichtradition, insbesondere die Betheler Tempeltheologie, besonders deutlich präsent ist. Bereits die ersten vier Visionen spielen nach R. auf die Nordreichtradition an, wie R. dies z. B. in den ersten beiden Visionen an der Nennung des Volkes mit Namen Jakobs aufzeigen kann. In der fünften Vision in Am 9,1 hingegen stellt R. die mit Bethel verbundene kosmologische Konzeption heraus, die er vor dem Hintergrund von Gen 28,10 ff. rekonstruiert. Diese unterscheidet sich nach R. von der in Jes 6 präsenten Jerusalemer Tempeltheologie dahingehend, dass nicht der Gottesthron, sondern die Kombination von kosmischer Achse und Himmelseingang im Zentrum steht, so dass Himmel und Erde durch die Himmelstreppe/-rampe verbunden sind und so die Kommu­nikation zwischen beiden Bereichen ermöglicht wird. Im Unterschied zu Gen 28,13 aber steht JHWH nicht am Himmelstor, sondern, so betont R., auf dem Altar und damit vor dem irdischen Tempeltor. Dabei wird die in Gen 28 sichtbar werdende Tempel­theologie in ihr Gegenteil verkehrt, indem durch die Erschütterung im Eingangsbereich des Tempels die Funktion des Heiligtums, Zugang zum ›Himmelstor‹ zu sein, außer Kraft gesetzt wird (207). In den folgenden Versen Am 9,2–4 werden die Konsequenzen des angekündigten Gerichts entfaltet. Dabei wird die kosmologische Perspektive beibehalten und die universale Sichtweise Gottes verstärkt. Es gibt keinen Ort im Kosmos, weder in der vertikalen Raumdimension, Unterwelt, Himmel, Berggipfel, Meeresboden, noch in der horizontalen Raumdimension, die Verschleppung als Kriegsgefangene in die Völkerwelt, der Schutz vor dem angekündigten Strafgericht Gottes bieten kann.

Da Amos somit also das Heiligtum in Bethel bzw. die Heiligtümer des Nordreichs insgesamt im Blick hat, ist dies nach R. ein Indiz für eine frühe zeitliche Ansetzung der fünften Vision kurze Zeit nach dem Auftreten des Amos. Denn, so R., »[w]as sollte andererseits die Entfaltung der Israel [!] geltenden Gerichtsbotschaft durch Am 9,2–4 in exilischer Zeit für einen Sinn haben, wenn gleichzeitig Deuterojesaja oder Ezechiel den im Exil befindlichen Judäern [!] Hoffnung auf einen grundlegenden Neuanfang machten?« (282). Diese durch eine detaillierte semantische und religionsgeschichtliche Analyse ge­wonnenen Ergebnisse ermöglichen neue Einsichten in das im Hintergrund des Visionszyklus stehende Weltbild. Allerdings bleiben Fragen im Hinblick auf den literaturgeschichtlichen Aspekt der Studie offen. R. wertet seine Ergebnisse literarhistorisch nicht eigenständig aus. Um seine zeitliche Ansetzung des Visionszyklus in vorexilischer Zeit redaktionsgeschichtlich zu untermauern, greift R. auf das von E. Blum erarbeitete Re­daktionsmodell zur Entstehung des Amosbuches zurück, das er in seinem Ergebnisteil referiert.

Insgesamt aber gelingt es R. durch seine fundierte traditionsgeschichtliche Untersuchung, insbesondere der fünften Vision, nicht nur wichtige Argumente für die Einheitlichkeit des Visionszyklus’ zusammenzustellen, sondern darüber hinaus das den Visionen zu Grunde liegende Weltbild, die Betheler Tempeltheologie, akzentuiert herauszuarbeiten und damit neue und die Diskussion bereichernde Facetten des Visionszyklus aufzuzeigen.