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Ausgabe:

Dezember/2009

Spalte:

1324–1326

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Berlejung, Angelika, u. Bernd Janowski [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Tod und Jenseits im alten Israel und in seiner Umwelt. Theologische, religionsgeschichtliche, archäologische und ikonographische Aspekte. Hrsg. in Zusammenarbeit m. J. Dietrich u. A. Krüger.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2009. XII, 723 S. m. Abb. gr.8° = Forschungen zum Alten Testament, 64. Lw. EUR 129,00. ISBN 978-3-16-149776-6.

Rezensent:

Bernhard Lang

Wer auf dem Gebiet der Kulturgeschichte antiker Völker forscht, lernt Bescheidenheit und Nüchternheit. Nur ein kleiner Bestand von sicherem Wissen lässt sich den antiken Quellen entnehmen; dieser Bestand kann durch mehr oder weniger gewagte Hypothesen ein wenig erweitert werden, doch auch für jene, die zur Hypothesenbildung neigen, bleibt die Überzeugung von der Existenz eines weiten, für immer verschlossen bleibenden Bereichs. Man mag sich diese Einsicht versuchsweise so veranschaulichen: Wir wissen etwa ein Drittel, ein weiteres Drittel lässt sich durch Hypothesen erschließen, und das letzte Drittel bleibt für immer im Dunkeln. Das gilt für das Thema Tod und Jenseits vor allem deshalb, weil nur im alten Ägypten, nicht aber in der Bibel und den alten Kulturen Vorderasiens, Tod und Leben nach dem Tod zu den unmittelbar behandelten Themen literarischer Quellen gehören. Was es darüber zu wissen gibt, ermittelt die Forschung aus Andeutungen in Schriftquellen, Inschriften und archäologischen Befunden. Vollständiges Wissen ist dabei nicht zu erzielen, und jeder erfahrene Forscher rechnet hier mit großen, bleibenden Wissenslücken. Auch der vorliegende Sammelband, Frucht eines an der Universität Leipzig 2007 durchgeführten Symposions, entkommt der seinem Thema inhärenten Grenze nicht.

Eine ganze Reihe der insgesamt 27 Beiträge ist der Darstellung und zurückhaltenden Interpretation jener Sitten, Bräuche und Vorstellungen gewidmet, von denen sicheres Wissen möglich ist. Die dieser Gruppe zuzuordnenden Aufsätze lesen sich wie die Kapitel eines zuverlässigen und empfehlenswerten Handbuchs: Sterben und Tod in der Ikonographie des Alten Orients, Ägyptens und Palästinas (A. Berlejung); »Sich Legen zu seinen Vätern« und verwandte Wendungen (A. Krüger); Vorzeitiger Tod (M. Leuenberger); Suizid (J. Dietrich); Sterben und Tod aus der Genderperspektive (I. Fischer); Trauerriten und Totenklage (S. Schroer); Grab und Begräbnis in Israel/Juda. Materielle Befunde (J. Kamlah); Totengedenken im Alten Testament (D. Kühn); Totenversorgung, Totengedenken und Nekromantie (R. Schmitt); Lokalisierung des Totenreiches im Alten Testament (K. Liess); Die Geschichte des Todes im Alten Israel (B. Janowski); Die Entstehung der Auferweckungshoffnung (K. Bieberstein); Todes- und Jenseitsvorstellungen im Judentum der hellenistisch-römischen Zeit (J. Zangenberg). – Die Beiträge dieser Gruppe (von denen nur die wichtigsten aufgeführt sind) markieren den innerhalb der gegenwärtigen Forschung in den letzten Jahren erreichten Konsens. Dass ein solcher erzielt werden konnte, ist vor allem der unermüdlichen exegetischen und religionsgeschichtlichen Arbeit von Bernd Janowski und seinen Schülern und Schülerinnen zu verdanken.

Wer sich mit dem Thema anhand dieser Beiträge vertraut ge­macht hat, bemerkt rasch, wie lückenhaft das sichere Wissen auch bei sorgfältiger Interpretation der Quellen bleibt. An dieser Stelle setzen jene Autoren ein, die das Terrain des Wissens durch Hypothesenbildung zu erweitern suchen. Wie dies geschieht, lässt sich an den Beiträgen von R. Achenbach und J. C. Gertz erläutern. Achenbachs Aufsatz über »Verunreinigung durch die Berührung Toter« untersucht die Texte, in denen von »Unreinheit« durch Kontakt mit einem menschlichen Leichnam die Rede ist. Alle einschlä gigen Quellen sind nachexilisch und lassen eine nachexilische Entstehung der betreffenden Vorstellung vermuten. Achenbach rekonstruiert eine dreistufige Entstehung des Berührungstabus: Am Anfang steht der Gedanke des Ausschlusses von Toten aus dem Tempelbezirk (Ez 43,7–9; Dtn 26,14); dann folgt die nähere Bestimmung, der Priester dürfe sich an Toten nicht verunreinigen (Ez 44; Lev 21); schließlich kommt es zur Auffassung, auch Laien verunreinigten sich, wenn sie einen Leichnam berühren (Num 5; 19). Diese in die Perserzeit zu datierende Entwicklung ist ohne den Einfluss zoroastrischen Brauchtums wohl kaum zu erklären. Wie Achenbach verbindet auch Gertz in seinem Beitrag »Das Zerschneiden des Bandes zwischen den Lebenden und den Toten in der deuteronomisch-deuteronomistischen Literatur« exegetische mit kulturgeschichtlichen Erwägungen. Es gibt eine deuteronomisch-deuteronomistische Polemik gegen Totenkult; diese wird von vielen Aus­legern als organischer Bestandteil der Forderung nach exklusiver Jahweverehrung verstanden. Die relative Marginalität der entsprechenden deuteronomischen und deuteronomistischen Belege für eine solche Polemik führt zu einer anderen Deutung: Die deuteronomische Bewegung durchdenkt den in ihrer Zeit bereits aus sozialhistorischen Gründen geschwächten Totenkult theologisch und kommt zur These seiner Unvereinbarkeit mit dem Jahwekult. Wir haben es also mit einem Nebengedanken, nicht mit einer zentralen Forderung des Deuteronomismus zu tun.

So erfreulich solche Versuche sind, unser Wissen wenigstens hypothetisch zu erweitern, so beschränkt bleiben sie in ihrem An­spruch. Nach wie vor fehlt eine umfassende Hypothese, die erklärt, wie es vom traditionellen Glauben an eine Fortexistenz im unterirdischen Totenreich in der Spätzeit des Alten Testaments zu einem Glauben auch an ein Sein bei Gott im Himmel gekommen ist. Eine solche Hypothese aufzustellen, scheint keineswegs aussichtslos. Im Zentrum einer solchen Hypothese können m. E. die Leviten stehen. Diese Priestergruppe pflegt kultische und emotionale Jahwefrömmigkeit. Familienbanden und Ahnenverehrung entsagt sie infolge ihres Fehlens von ererbtem Grundbesitz: Wer keinen Grundbesitz von seinen Vorfahren erbt, hat auch keinen Grund zur Ahnenverehrung. Gleichzeitig glauben die Leviten, vielleicht zunächst esoterisch und offenbar nur für die Mitglieder der eigenen Gruppe, an den Himmel (statt der die Ahnen bergenden Unterwelt) als den Ort postmortaler Existenz. Der levitische Psalm 16 verbindet die Absage an die Ahnenverehrung mit dem Bekenntnis zu postmortaler Existenz bei Gott. Der schwierige Übergang von V. 2 zu V. 3 ist gegen die Masora so zu lesen: »Nicht (sind) über dir für mich die Heiligen (= Ahnen), die in der Unterwelt (sind), und verflucht (korrigierter Text) alle, die Gefallen an ihnen finden.« Freier: »Ich ziehe dir nicht die Ahnen vor, die in der Unterwelt sind, und verflucht sind alle, die Gefallen an ihnen finden.« Der Beter, der sich vom Ahnenkult lossagt, erwartet, nach seinem Tod bei Jahwe im Himmel zu sein (V. 10–11). Ihren Himmelsglauben haben die Leviten in einigen Psalmen angedeutet (neben Ps 16 sind noch die Psalmen 49 und 73 zu nennen); in Israels Spätzeit ist er jedoch von weiteren, zweifellos den Leviten nahestehenden Kreisen geteilt worden.

Möge der vorliegende informative Band dazu motivieren, nicht nur unser sicheres Wissen über Tod und Jenseits in der Bibel und ihrer Welt zu sichern und zu pflegen, sondern das Studium des faszinierenden Themas auch durch neue Hypothesen zu fördern.