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Ausgabe:

Dezember/2009

Spalte:

1323–1324

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Yuval, Israel Jacob

Titel/Untertitel:

Zwei Völker in deinem Leib. Gegenseitige Wahrnehmung von Juden und Christen in Spätantike und Mittelalter. Aus d. Hebräischen v. D. Mach.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2007. 304 S. m. Abb. gr.8° = Jüdische Religion, Geschichte und Kultur, 4. Geb. EUR 39,90. ISBN 978-3-525-56993-1.

Rezensent:

Harald Buchinger

Israel Yuval gehört zu den profiliertesten israelischen Historikern; seine Arbeiten zum Verhältnis von Juden und Christen in Spätantike und Mittelalter haben zu einer neuen Sicht der historischen Beziehung zwischen den beiden Religionen beigetragen (und damit in Israel einen regelrechten »Historikerstreit« ausgelöst, über den das Vorwort zur deutschen Ausgabe berichtet). Darum ist es sehr zu begrüßen, dass sein erstmals 2000 hebräisch und 2006 in englischer Übersetzung erschienenes Werk nun auch in einer – sprachlich übrigens ausnehmend gut gelungenen – deutschen Version verfügbar ist.

Zwei Charakteristika zeichnen die Arbeit besonders aus: Erstens nimmt Y. einen grundsätzlichen Perspektivenwechsel vor und korrigiert die verbreitete Annahme, dass die Richtung der Beeinflussung zwischen Judentum und Christentum immer nur einbahnig von Ersterem zu Letzterem gelaufen sei; wenn in der jüngeren Forschung an die Stelle des Mutter-Tochter-Paradigmas das von Schwesterreligionen tritt, ist dies nicht zuletzt Y. zu verdanken (vgl. Kapitel I: »Präludium: ›Der Ältere soll dem Jüngeren dienen‹«). An zahlreichen Beispielen kann er plausibel machen, dass jüdische Praxis häufig als Reaktion auf christliche Phänomene zu verstehen ist. Der Dialog zwischen den beiden Religionen beschränkt sich dabei keineswegs auf explizite Polemik, sondern findet oft ver­deckt statt; außerdem beobachtet Y. immer wieder die »Übernahme der Symbolsprache der christlichen Umwelt im jüdischen Milieu« (255 u. ö.). Zweitens ist bemerkenswert, mit welcher Meisterschaft Y. spätantike gleichermaßen wie mittelalterliche Quellen beider Religionen behandelt. Das innovative Potential seiner Arbeit ergibt sich aus diesem religions- und epochenübergreifenden Ansatz sowie einer ebenso fundierten wie kreativen Kombinationsgabe. Y. hat den Mut, Kapitel zu diskutieren, die zu den dunkelsten Seiten der Geschichte von Juden und Christen gehören, und die Konsequenz, traditionelle Anschauungen in Frage zu stellen, wo die Quellenlage dies nahelegt. Dass er damit nicht nur in der Wissenschaft eine neue Ebene der Verständigung eröffnet, ist eine nicht zu unterschätzende Folge seiner Einsichten, die auf den ersten Blick manche irritieren mögen. Die Betrachtung beschränkt sich dabei nicht auf effektiven Austausch zwischen den Religionen; denn »Missverständnisse, Irrtümer und phantastische Vorstellungen gehen den Historiker nicht weniger an als vernunftgemäße und reale Erscheinungen« (254).

Y.s Beobachtungen, deren Detailreichtum hier nur grundsätzlich angedeutet werden kann, kreisen inhaltlich vor allem – wenn auch keineswegs ausschließlich – um liturgische Themen; im Zentrum jüdisch-christlicher Auseinandersetzung steht der Komplex von rituellen Praktiken und theologischen Vorstellungen um Pesach und Ostern. Vom spätantiken Kern der Narrative der beiden konkurrierenden Feste bis zu den mittelalterlichen Zusätzen der Pesachhaggada (»Dies ist das Brot der Armut …«; »Gieße deinen Grimm aus …«) lässt sich deren Entfaltung als Geschichte von jüdischen Reaktionen auf christliche Bräuche und Ansprüche verstehen (Kapitel II: »Rom oder Jerusalem: Grundlagen der jüdisch-christlichen Feindschaft«; Kapitel III: »Rache und Fluch: Feindschaft gegenüber dem Christentum in der aschkenasischen Judenheit«); diese Betrachtung wirft auch neues Licht auf die be­kannte Tatsache, dass Ritualmordbeschuldigungen und Vorwürfe angeblichen Hostienfrevels meist zur Osterzeit aufkamen. Y. stellt nicht nur einen komplexen Zusammenhang zwischen der Vorstellung einer Beschleunigung der als messianische Rache verstandenen Erlösung mit der Praxis und Ideologie jüdischen Martyriums bis hin zur Tötung der eigenen Kinder angesichts der Verfolgungen zur Zeit des ersten Kreuzzugs fest; seine These, dass der »Eindruck des blutigen Opfers auf die christliche Umwelt« (vgl. 170) zum Aufkommen der christlichen Ritualmordlüge beigetragen haben könnte, ist wohl der exponierteste Aspekt der Arbeit (Kapitel IV: »Die Narrative überkreuzen sich: Vom Märtyrertod zur Ritualmordlüge«).

Y. kann nicht nur phänomenologische Einflüsse christlicher Bräuche auf die Ausgestaltung der mittelalterlichen Liturgie von Pesach, sondern auch ideologische Zusammenhänge aufzeigen (Kapitel V: »Umkehrung des Rituals: Hostie vs. Mazza«). Die Signifikanz zahlreicher Beispiele liegt auf der Hand; andere sind komplexer und verdienen vielleicht noch weiterführende Diskussion (etwa der Zusammenhang des Großen Sabbat mit der Hohen Woche der Christen; vgl. 215 ff.). Neben liturgischen und literarischen Spuren der Auseinandersetzung von Juden und Christen weist Y. auch auf ikonographische Themen hin, darunter etwa auf die extrem vulgäre und nicht nur im Mittelalter verbreitete Vorstellung der »Judensau«, die vermutlich als Transformation jenes messianischen Esels zu verstehen ist, welcher sich in den Illustrationen mittelalterlicher Pesachhaggadot findet (134 f. etc.). Immer stehen die Detailbeobachtungen aber in einem umfassenden ge­schichtstheologischen Horizont (vgl. auch Kapitel VI: »Das Ende des Millenniums [1240]: Jüdische Hoffnung, christliche Furcht«).

Y. argumentiert durchweg klar und anschaulich, nicht selten mit feiner Ironie, und stellt regelmäßig hermeneutische, kulturtheoretische, religionswissenschaftliche oder anthropologische Re­flexionen an, ohne sich dabei freilich auf diesen Metaebenen zu verlieren. Eine Stärke des Buches liegt nicht zuletzt darin, einen fundamentalen Paradigmenwechsel und große Perspektiven der Betrachtung des jüdisch-christlichen Verhältnisses mit detaillierten Quellenbelegen und präziser historischer Dokumentation zu verbinden. Y. gibt nicht nur verschiedenen Fachdiskursen (Judais­tik, Geschichtswissenschaft, Theologie etc.) zu denken; sein durch Register gut erschlossenes und mit einem Glossar ausgestattetes Buch ist zugleich in weitgehend allgemeinverständlicher Form ge­schrieben. Die bahnbrechende Arbeit bringt daher alle inhaltlichen und ebenso alle formalen Voraussetzungen für jene breite Rezeption mit, die ihr nun auch im deutschen Sprachraum zu wünschen ist.