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Ausgabe:

Dezember/2009

Spalte:

1317–1319

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Levine, Étan

Titel/Untertitel:

Marital Relations in Ancient Judaism.

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz 2009. XIV, 349 S. gr.8° = Beihefte zur Zeitschrift für Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte, 10. Geb. EUR 88,00. ISBN 978-3-447-05868-1.

Rezensent:

Thomas Hieke

Worum es Étan Levine in seiner Studie geht, illustriert folgende (von mir aus dem Englischen übersetzte) Passage (6): »Fast 2000 Jahre vor der modernen Psychologie und Anthropologie erkannte das jüdische Denken, dass Erotik und Eros die Triebfeder der Zivilisation waren: ›Gäbe es den Geschlechtstrieb nicht, würde kein Mann ein Haus bauen, eine Frau heiraten, Kinder großziehen oder einem Gewerbe nachgehen‹« (Genesis Rabbah 9,9). L. befasst sich mit den »ehelichen Be­ziehungen« (marital relations) im Judentum vom biblischen Zeugnis bis zur spätantiken jüdischen Auslegung – unter allen nur denkbaren Perspektiven und im Blick auf alle Themenfelder, die hier relevant sind. Damit stellt L. sein Thema in einen sehr breiten kulturanthropologischen Horizont, um zu zeigen, wie stark das gesamte Leben von diesem Thema durchzogen ist.

In seinem Vorwort deutet L. an, dass er ohne falsche Scheu und Rücksichtnahmen (»by no definition am I ›politically correct‹«) den Befund darstellen möchte, und tatsächlich ist das Buch flüssig und bisweilen mitreißend zu lesen. Dabei ist die enorme Studienleis­tung und profunde Quellenkenntnis L.s stets erkennbar. Es geht ihm immer um die Sache, nicht um eine Quellenauswertung an sich – auch wenn die zahlreichen Belegstellen und Belegtexte bisweilen wie zufällig herbeigeholt wirken, so ergeben sich doch daraus eine überzeugende Systematik und ein klarer roter Faden. L. schreibt mit innerem Engagement und dem Anliegen, die hohe kulturanthropologische Leistung des Frühjudentums hinsichtlich der Vorstellungen von Ehe und Sexualmoral herauszustellen. Er ist – so darf man wohl unterstellen – mit einem gewissen Stolz darauf erfüllt und verweist auf Philo von Alexandrien, Josephus und Maimonides, die alle den hohen Wert des mosaischen Gesetzes und seiner Auslegung hervorgehoben haben (7). Es geht L. um eine »faire Darstellung« der antiken Überlieferungen und um das Heben eines überzeitlichen Schatzes: Das Wissen um die Denkweise der Alten kann für die moderne Zeit wertvolle Impulse geben: Auch wenn die alten Überlieferungen nicht immer eine Antwort auf heutige Fragen geben, so stellen sie doch manche heutige Antwort mit Recht in Frage (337). Und: »Great moral principles are trans-historical« (ebd.).

Um die thematische Vielfalt zu demonstrieren, sei an den zwölf Kapiteln des Buches entlanggegangen. Der Grundaufriss ist systematisch-sachlich, nicht historisch angelegt. Innerhalb des großen Themas eines Kapitels werden ganz unterschiedliche Perspektiven fortschreitend entwickelt; das kann dazu führen, dass der eine oder andere Aspekt in zwei verschiedenen Kapiteln mit unterschiedlicher Perspektive angesprochen wird (z. B. die Schwagerehe, in Kapitel 1 und 2). Kapitel 1 nähert sich dem Thema »Ehe« aus dem größeren Blickwinkel der »Verwandtschaft« und schildert den Gesellschaftsaufbau Israels: Schon im biblischen Zeugnis wird Gottes Bund mit dem Volk oft mit der Ehemetapher dargestellt. So schreitet die Darstellung fort vom Volk zum Stamm, zum Clan und zur Familie – bis hin zur Ehe. Ihre Zweigeschlechtlichkeit wird ebenso untersucht wie die Frage der biblischen Polygamie. Kapitel 2 entfaltet die religiöse und soziale Dimension der Ehe – sie ist kein Sakrament und doch eine »heilige Sache«. Die Ehe und die darin aufgehobene Fortpflanzung sind »religiöse Imperative« und unterliegen von daher auch bestimmten Tabubeschränkungen (z. B. das Inzestverbot).

Genderfragen behandelt das dritte Kapitel. Neben der biblischen Begrifflichkeit, bei der L. nachweist, dass hier keinerlei Unterordnung des weiblichen Geschlechts intendiert ist, wird eine Vielfalt von Auslegungslinien und narrativen Traditionen von »Gerichtsentscheidungen« über den gesetzlichen Status der Frau dargelegt. Unter der Überschrift »Love as a Legal Construct« (Kapitel 4) geht es um die rechtliche Fassung des »Liebesbandes«. L. bringt eine Fülle an Beispielen, die zeigen, dass das antike jüdische Eheverständnis weit über ein bloßes Vertragsdenken hinausgeht, ebenso wie eheliche Liebe weit über bloßer Verliebtheit steht. Die eheliche Verschmelzung wird als so tiefgreifend empfunden, dass eine Scheidung, die freilich legal möglich ist, metaphorisch als Amputation eines Körperteils umschrieben wird. Auch im jüdischen Verständnis ist der Ehebund ewig, und alles ist daran zu tun, ihn aufrechtzuerhalten und die Scheidung so teuer, dramatisch und irreversibel wie möglich zu machen.

Nach den rechtlichen Fragen beschäftigen sich die nächsten Kapitel mit Fragen der ehelichen Sexualität. Kapitel 5 beschreibt die hohe Wertschätzung der menschlichen Erotik und der ehelichen Freuden im Judentum sowie das Unverständnis für geschlechtliche Askese und Zölibat bzw. Jungfräulichkeit. L. notiert ein Auseinanderdriften von jüdischer und christlicher Auffassung von Sexualität, das tendenziell zu Antisemitismus führen kann; das Christentum habe in Sachen Sexualität mehr von der heidnischen Umwelt (Stichwort Gnosis) als vom Judentum übernommen und Idealvorstellungen von Keuschheit entwickelt, die im Judentum undenkbar oder sogar anstößig seien. L. wehrt sich ausdrücklich gegen eine mit Bindestrich geschriebene »jüdisch-christ­liche« Tradition, was die Sexualität betrifft, denn beide Kulturen gründen auf »totally different attitudes to the body and to sexuality«. Der »Triumph« des Judentums besteht nicht nur darin, die Identifikation Jesu mit dem Messias (oder dem »Sohn Gottes«) abgelehnt zu haben, sondern auch die christliche Sexualmoral (148–151). An diesen Ausführungen sieht man nicht nur L.s weiten kulturanthropologischen Horizont, sondern auch sein engagiertes Schreiben vom jüdischen Standpunkt aus, das dem Leser so manche polemische Spitze gegen das Christentum (selten gegen den Islam) nicht erspart.

Kapitel 6 stellt allerdings klar, dass die hohe Wertschätzung von Sexualität gerade nicht in Libertinismus und »freie Liebe« führt, sondern es geradezu notwendig macht, die menschliche Sexualität in geordneten Bahnen zu halten (»freie Liebe« ist nicht frei und keine Liebe, sondern Abhängigkeit und Ausbeutung). Israels Selbstdisziplin in diesem Punkt macht gerade Israels Selbstdefinition aus. Zu den »geordneten Bahnen« gehören die Beschränkung der sexuellen Betätigung auf die Ehe, das Zurückschrecken vom Ehebruch, das Verbot des Begehrens und das Konzept emotionaler Treue. Es sei nochmals betont, dass alle diese Ausführungen nicht in Form abstrakter »moraltheologischer« Erläuterungen gegeben werden, sondern anhand systematisch aneinandergereihter Belegstellen aus der frühjüdischen Tradition, ausgehend von der Bibel, niedergelegt in der rabbinischen Literatur. Bei aller Sympathie für L.s Darstellungsweise, die immer wieder die große Hochschätzung und den Schutz für die Frau im antiken Judentum hervorhebt, hätte aber doch stärker reflektiert werden sollen, dass es sich bei den Quellen um Literatur von Männern für Männer handelt: Hier spiegeln sich männliche Wunsch- und Idealvorstellungen, eine »female voice« kommt nicht zum Zuge.

Die folgenden Themen können aus Platzgründen nur noch aufgelistet werden: die Frage der »sexuell verdächtigen« Frau (Ehebruchsverdacht, vgl. Num 5 und das Sotah-Ritual) (Kapitel 7), die gesetzliche Regelung der Sexualität in der Ehe (die »ehelichen Pflichten« des Ehemanns: Nahrung, Kleidung und Geschlechtsverkehr, so die Deutung der drei Begriffe in Ex 21,10; die Frage nach Zahl und Zeit des Geschlechtsverkehrs: Sex am Sabbat, während der Schwangerschaft usw.) (Kapitel 8), die Frage der Enthaltsamkeit bei der Menstruation (Kapitel 9), die Körperlichkeit (Unversehrtheit der Jungfrau, körperliche Attraktivität, Liebespoesie, Älterwerden) (Kapitel 10), die eheliche Liebe (Ort, Zeit, Abgeschiedenheit, Körperpflege, ganzheitliche Sexualität und emotionale Treue, Gewaltfreiheit, Positionen, Praktiken, Orgasmus, Aphrodisiaka usw.) (Kapitel 11). Auch wenn aus den bisherigen Ausführungen klar ist, dass der Ehezweck nach jüdischer Auffassung vielfältige Dimensionen hat und keineswegs auf das Zeugen von Nachkommenschaft eingeschränkt werden darf, so sind doch Kinder ein ganz wesentlicher Aspekt der Ehe (Kapitel 12). Hier behandelt L. die Fragen der Zahl, der Beteiligung Gottes, der Unfruchtbarkeit, des Mutterinstinkts und auch der Geburtenkontrolle.

Das Buch ist eine faszinierende Lektüre. Und betrachtet man die Studie als große Zitatensammlung aus der antiken jüdischen Tradition zum Thema Ehe in allen Varianten und allen Aspekten, so ist daraus ohne Zweifel viel zu lernen.