Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2009

Spalte:

1308–1309

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Brück, Michael von

Titel/Untertitel:

Religion und Politik in Tibet.

Verlag:

Frankfurt a. M.-Leipzig: Verlag der Weltreligionen im Inselverlag 2008. 240 S. kl.8° = Verlag der Weltreligionen Taschenbuch, 10. Kart. EUR 10,00. ISBN 978-3-458-72010-2.

Rezensent:

Manfred Hutter

Politik und Religion sind in allen Gesellschaften zwei eng miteinander verbundene Bereiche, so dass man eine Darstellung zu dieser konkreten Frage in Tibet erfreut zur Hand nimmt, da dieses Thema nicht nur bei einem Treffen des Dalai Lama mit hochrangigen westlichen Politikern häufig ablehnende Stellungnahmen der Volksrepublik Chinas nach sich zieht, sondern auch die wirtschaftliche Expansion Chinas nach Tibet das Thema aktuell macht und in die Medien bringt. Die Erwartung zuverlässiger Information wird für die historischen Epochen und für die Zeit bis in die späten 1990er Jahre erfüllt; überrascht muss man jedoch feststellen (13), dass das Buch nur eine unveränderte Neuauflage der Arbeit aus dem Jahr 1999 ist, die Hans Waldenfels in dieser Zeitschrift ausführlich gewürdigt hat (ThLZ 126 [2001], 892–894). Dass dies aus dem Werbetext des Verlags nicht hervorgeht, ist ärgerlich, weil dieses Verschweigen manchen Käufer in die Irre leitet. Wer also ein aktuelles Buch mit Aussagen zur (religions-)politischen Situation Tibets des letzten Jahrzehnts erwartet, sieht sich enttäuscht. Hier nützt dem Käufer bzw. Leser auch nicht der Hinweis des Vf.s im Vorwort, dass weiterführende Hinweise zur jüngsten Geschichte Tibets in der »Einführung in den Buddhismus« (Frankfurt 2007) zu finden seien, da auch dort die »neuere Geschichte« (479–482) nichts zum aktuellen Verhältnis China – Tibet im letzten Jahrzehnt sagt.

Was leistet das Buch als Einführung in tibetischen Buddhismus nach wie vor? Es beginnt mit einem sehr erfreulichen Kapitel (19–39) über (verzerrte) Wahrnehmungen Tibets im Westen, beginnend mit Marco Polo und Wilhelm von Rubruk im 13. Jh., geht über christliche Missionsberichte und Kolonialberichte zur Rezeption des »Tibetischen Totenbuches« und des »Shambala-Mythos« bis hin zu Bildern der unterschiedlichen Wahrnehmung des 14. Dalai Lama im Westen. Dieses Eingangskapitel hat nichts von seinem Nutzen seit der Erstauflage des Buches verloren und ist ausgezeichnet geeignet, manche (wohlmeinende) Tibet-Bilder aus mitteleuropäischer Wahrnehmung zu korrigieren und sich sachlich mit der Religionsgeschichte und Religionspolitik des Gebietes zu befassen.

Unter der Überschrift »Religion und Politik« behandelt der Vf. die Religionsgeschichte in ihrer Verflechtung mit gesellschaftspolitischen Entwicklungen, zu Recht beginnend mit dem – historisch nicht in allen Einzelheiten – aufhellbaren Anfang des Buddhismus in Tibet unter Söngsten Gampo (reg. 629–649), genauso mit kritischen Bemerkungen bzgl. des geringen historischen Kenntnisstandes über Padmasambhava, dessen angebliche Bedeutung für die Prägung des tibetischen Buddhismus vor allem ein Produkt der tibetischen Überlieferung ist. Weitere Unterabschnitte thematisieren die zweite Verbreitung des Buddhismus ab dem 10. Jh., die Rolle der mongolischen Khane für die Sakya-Schule seit dem Beginn des 13. Jh., genauso auch die Entstehung und schrittweise Übernahme der religiösen und politischen Führungsrolle der Gelug-Schule unter der Führung der Dalai Lamas seit dem 16. Jh. (vgl. 72 ff.). Nach dem 5. Dalai Lama nahm deren Macht jedoch wieder ab. Erst unter dem 13. Dalai Lama gewann dieses Amt wieder an Bedeutung, als es zu Modernisierung im Kontakt mit Großbritannien und einer Abgrenzung gegenüber China kam (vgl. 94 ff.); dies führte der 14. Dalai Lama weiter, dem als 15-Jährigem im November 1950 die volle politische Staatsgewalt übertragen worden war, als Reaktion auf das Vordringen chinesischer Truppen nach Osttibet. Dass der Vf. darauf verzichtet, wenigstens in kurzen Zügen auch die Lebensgeschichte dieses Dalai Lama – wegen ihrer allgemeinen Bekanntheit (vgl. 103) – zu skizzieren, hält der Rezensent für nicht günstig. Der Abschnitt über den 14. Dalai Lama unterscheidet sich vom Rest des Buches, da der Vf. hier Fragen zur politischen Modernisierung, zur Emanzipation der Frauen, zum interreligiösen Engagement des Dalai Lama und zu seinem politischen Dialog mit China behandelt; vor allem die drei ersten Themen machen den Dalai Lama im Westen populär, sind jedoch in der Gewichtung überbetont; der letzte Abschnitt zum politischen Dialog mit China ist leider nicht aktuell.

Ein großer Abschnitt (127–179) legt unter dem Titel Mahayana und Tantra die Grundlehren des tibetischen Mahayana-Bud­dhismus und vor allem der Ausprägung im Tantra dar. Hier liefert der Vf. eine sachlich ausgewogene Darstellung des – oft auf Sexualriten reduzierten – komplexen Themenkreises Tantrismus, indem er kompetent das Menschen- und Weltbild tibetischer Buddhisten darstellt, die Rolle des spirituellen Lehrers (Lama) für den tibetisch-buddhistischen Heilsweg charakterisiert und auch die Bedeutung der rituellen Ebene darstellt. Im Detail kommen dabei auch die – in westlicher Rezeption oft vorschnell und wenig zutreffend verbundenen – Themenkreise Kalachakra-Tantra und Shambala-Mythos (166 ff.) zur Sprache, mit der Beschreibung der einzelnen (insgesamt 15) Einzelinitiationen des Kalachakra-Tantra und deren Verbindung mit Sexualsymbolik, die ausdrücken soll, dass im Tantra Männer und Frauen ihre polaren Energien aktivieren und miteinander verschmelzen lassen sollen. Der Shambala-Mythos – als Verarbeitung der Vorstellung eines »Paradieses auf Erden« (vgl. 178) – nutzt der Legitimation bzw. Instrumentalisierung innerweltlicher Interessen, gilt vielen Tibetern aber auch als »Land«, das man auf Grund der im tantrischen Ritual erlangten Bewusstseinsläuterung erlangen kann.

Das letzte Kapitel geht auf die Shugden-Kontroverse ein. Shugden ist eine Hauptgottheit der Gelug-Schule, die den Anhängern Schutz gewährt und deren Feinde gewaltsam vernichtet. Seit Beginn der 1970er Jahre hat der Dalai Lama Kritik am Shugden-Kult geäußert, um schließlich 1996 von seinen Schülern die Aufgabe der Shugden-Praxis zu verlangen; den mit dem Dalai Lama verbundenen Institutionen verbot er die Verehrung Shugdens. Daher ist seit 1996 eine Gruppe als Opposition gegen den Dalai Lama entstanden (vgl. 184), die im Verbot des Shugden-Kultes einen Angriff auf die Religionsfreiheit sieht; genauso betont diese Opposition die Bedeutung der eigenen unmittelbaren spirituellen Lehrer, die die Verehrung Shugdens lehren. Beide Argumente zeigen die Spannung zwischen dem Streben nach Geistesschulung – vermittelt durch den (tantrischen) Lehrer – und dem unbedingten Gehorsam gegenüber dem Dalai Lamas, da sich beides gegenseitig ausschließt.


Insgesamt liefert das neu vorgelegte Buch des Vf.s eine gut lesbare und zuverlässige Einführung in den Buddhismus Tibets. Neben den schon genannten kritischen Einwänden bzgl. einer notwendigen Aktualisierung hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Tibet und der Volksrepublik China (dass eine Aktualisierung möglich gewesen wäre, zeigt das umfangreiche Literaturverzeichnis, bei dem auf S. 239 f. Neuerscheinungen zwischen 2000 und 2006 verbucht sind) wäre es auch wünschenswert gewesen, weitere tibetische Schulen wie Nyingma oder Karma-(Kagyü) über die Entstehung im historischen Kontext hinaus etwas näher bzgl. ihrer aktuellen Rolle und Anhänger zu behandeln. Insofern erfüllt das Buch nicht jede Erwartung, stellt aber einen ersten nützlichen Einstieg in die Thematik dar.