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Ausgabe:

November/2009

Spalte:

1270–1272

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Toaspern, Huldreich David

Titel/Untertitel:

Diakonisches Lernen. Modelle für ein Praxislernen zwischen Schule und Diakonie.

Verlag:

Göttingen: V&R unipress 2007. 307 S. m. Abb. gr.8° = Arbeiten zur Religionspädagogik, 32. Kart. EUR 34,90. ISBN 978-3-89971-394-7.

Rezensent:

Friedhelm Kraft

Diakonisches Lernen ist seit Mitte der 90er Jahre ein wiederkehrendes Thema in der Religionspädagogik. Es geht um die praktische Aneignung von Wissen und Können im Bereich des diakonischen Handelns und dabei um die Etablierung eines neues Lernansatzes. Die Arbeit des Vf.s, die im Mai 2006 von der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig als Dissertation angenommen wurde, erschließt diakonisches Lernen als eine spezifische Lernform mit der Setzung eines Theorierahmens im interdisziplinären Gespräch von Theologie, Pädagogik und Entwicklungspsychologie. Zentrales Anliegen diakonischen Lernens ist die Persönlichkeitsentwick­lung der Schülerinnen und Schüler, insofern versteht sich die Arbeit als ein Beitrag zu einer subjektorientierten Religionspädagogik.

Der erste Teil stellt gegenwärtige Erscheinungsformen diakonischen Lernens im Zusammenhang der aktuellen Bildungsdiskussion vor. Aus diakoniewissenschaftlicher Perspektive werden sieben theologische Leitlinien für diakonisches Lernen entfaltet. Das Kapitel endet mit einem instruktiven Vorschlag einer Systematisierung diakonischen Lernens. Es werden Ebenen – Lerndimensionen, Persönlichkeitsentwicklung, soziales Umfeld – aufgezeigt, in de­nen sich diakonisches Lernen im Zusammenhang von Schule und diakonischen Einrichtungen verstehen und fassen lässt. Die Systematisierung gibt einen Überblick über die Zusammenhänge im diakonischen Lernfeld und bildet damit den logischen Aufbau der Arbeit ab.

Der zweite Teil ist gleichsam das Herzstück der Arbeit. Hier werden Modelle des situated learning vorgestellt, mit denen diakonisches Lernen als Ausdruck praktizierter Nächstenliebe in den Kontext pädagogischer Theoriebildung gestellt wird. Vorgestellt wird ein Lernansatz, der im Gegensatz zu schulischen Lernformen nicht vom Unterricht, sondern von der Praxis, genauer: dem Tätigsein der Lernenden ausgeht. Ausgehend von den Modellen des situated learning werden Kriterien und Kategorien gewonnen, mit denen sich diakonisches Lernen in praktischer Umsetzung und schulischer Aufarbeitung bestimmen lässt.

Situated learning wird im Anschluss an J. Lave und E. Wenger als »Lernen im sozial-kulturellen Kontext« bzw. »enkulturierendes Lernen« verstanden. Ausgehend von den Grundkategorien des Ansatzes – legitimate peripheral participation, community of practice – wird ein Bild entworfen, »in dem nicht Instruktion und Lehre das Feld bestimmen, sondern die soziale Praxis selbst alle nötigen Informationen und Fertigkeiten vermittelt« (71).

Ausführlich werden die Merkmale von communities of practice nach Wenger dargestellt. Es werden Kategorien gewonnen, die im weiteren Verlauf der Arbeit auf den Bereich des diakonischen Lernens übertragen werden. Der lerntheoretische Ansatz legitimate peripheral participation bietet ein Modell der Beschreibung des Aneignungsprozesses von Wissen und Können einer community of practice durch einen newcomer. Das Modell dient damit zur »Beurteilung von Lernsituationen« und als »Raster zur Beschreibung von Lernbedingungen« (87). Lernen wird hier als ein Prozess der Teilhabe an einer bestimmten kulturellen Praxis verstanden. Lerntheoretisch geht es nicht mehr allein um das Individuum und seine Kognition, sondern die soziale Welt und die soziale Praxis stehen im Fokus eines erweiterten Lernverständnisses.

Die vom Modell legitimate peripheral participation abgeleiteten Aspekte bzw. Kategorien werden vom Vf. auf diakonisches Lernen angewendet. Diakonisches Lernen kann im Modell von legitimate peripheral participation plausibel beschrieben und als Instrument zur Deutung von Lernprozessen angewendet werden. Das Modell bietet somit eine lerntheoretische Fundierung für die Ausgangsthese, dass »Nächstenliebe als diakonisches Handeln praktisch eingeübt werden muss« (121).

In weiteren Schritten wird diakonisches Lernen mit Hilfe der Modelle knowing what we know (C. E. Snow) und world travelling (S. K. Damarin) lerntheoretisch erläutert und fundiert. Während das erste Modell den Wissenserwerb durch praktisches Handeln hervorhebt, nimmt das Modell world travelling die Erweiterung der Identität des Lernenden durch eine Erschließung von bisher unbekannten »Welten« in den Blick. Die Plausibilität der gewonnenen Kriterien wird mit Ergebnissen einer Schülerbefragung veranschaulicht. Schülerinnen und Schüler bewerten die Anwendbarkeit dieser Kriterien in Bezug auf eigene Praxiserfahrungen. Gezeigt wird damit ihre Praxisfähigkeit zur Beurteilung und Auswertung diakonischen Lernens.

Der dritte Teil entfaltet drei Dimensionen diakonischen Lernens: die fachliche, die soziale und die theologische Dimension. Aufgezeigt wird, »wie die angebotene fachliche Orientierung zu fachlichem Können und Wissen, die soziale Orientierung zu sozialer Kompetenz und die theologische Orientierung zu theologischer Positionierung führen kann« (192). Die jeweiligen Schwerpunkte diakonischen Lernens werden eingeleitet mit entwicklungspsychologischen Überlegungen, die in Anlehnung an die klassischen Stufenmodelle Voraussetzungen für diakonisches Lernen in den jeweiligen Dimensionen beschreiben. Hervorzuheben sind die Ausführungen zu einer Herausbildung von »Tiefenstrukturen« religiösen Lernens im Konzept des diakonischen Lernens. An dieser Stelle werden die Grenzen des subjektorientierten Zuganges mit Hilfe von Stufentheorien deutlich. Inwiefern diese geeignet sind, die Vielfalt und Unterschiedlichkeit theologischer Deutungen von Jugendlichen zu spiegeln, bleibt anzufragen. An dieser Stelle zeigt sich ebenfalls die Grenze des methodischen Ansatzes einer sehr begrenzten Schülerbefragung.

Die Ergebnisse der Arbeit werden in einem fünften Abschnitt unter der Überschrift »Elemente einer Didaktik diakonischen Lernens« gebündelt. Deutlich wird die Entfaltung eines differen­zierten und mehrdimensionalen Begriffs diakonischen Lernens. Die begrifflichen Bestimmungen spiegeln den Ertrag der Arbeit wider: Diakonisches Lernen wird lerntheoretisch neu gefasst und als ein unverzichtbarer Beitrag schulischer Bildung begründet. Zu­gleich wird die Schulpädagogik angeregt, stärker Modelle des situated learning zu rezipieren.

Lernen als Partizipation, in der Einbettung einer community of practice, löst die im Kompetenzmodell eingeforderte Anwendungsorientierung des Lernens ein und führt zu einer Stärkung authentischer, außerschulischer Lernfelder, die für Schule als Lebens- und Erfahrungsort unverzichtbar sind.