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Ausgabe:

Dezember/1996

Spalte:

1173 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Sudbrack, Josef

Titel/Untertitel:

Hildegard von Bingen. Schau der kosmischen Ganzheit

Verlag:

Würzburg: Echter 1995. 204 S. m. 8 Farbtaf. 8°. Kart. DM 48,-. ISBN 3-429-01696-7

Rezensent:

Ruth Albrecht

Der katholische Experte für die Themenbereiche Mystik und Spiritualität, der in seinen Publikationen der letzten Jahre u.a. das Gespräch mit den von der New-Age-Bewegung angerissenen Fragestellungen suchte und den Beitrag der Mystik zum Dialog der Religionen akzentuierte, konzentriert sich in seiner Studie über die mittelalterliche Seherin konsequent auf hermeneutische Zugänge, die Antwort geben auf den Ausgangspunkt seines Buches, nämlich die Frage: "Was hat Hildegard uns heute zu sagen?" (10)

Der Vf. erschließt die Schau-Theologie Hildegards von Bingen nicht von einer primär kirchengeschichtlichen oder mystik-theologischen Perspektive, sondern von der philosophisch-theologischen Ästhetik-Debatte der Gegenwart her. Diese Akzentsetzung auf der Gegenwartsbedeutung der Mystikerin bildet eine Gemeinsamkeit zwischen S. und den Anliegen esoterischer, feministischer und medizinisch-naturwissenschaftlicher Auslegungsrichtungen; das methodisch reflektierte Interpretationsvorgehen des Vf.s unterstreicht jedoch die diametrale Gegensätzlichkeit bei dem gleichen Interesse, Hildegards Theologie für die Erfahrung zu erschließen.

Nach der Herausarbeitung von Hildegards Mystik als Einheitsschau nähert sich S. ihrem Erleben, indem er die der Poesie (am Beispiel Friedrich Nietzsches), Malerei (Franz Marc) und der Musik (Mozart) zugrundeliegenden Erfahrungskategorien als vergleichbar heranzieht. So beginnt denn auch die Reihe der acht Farbtafeln mit Franz Marcs Bild "Tirol", dann folgen Abbildungen, die zu Hildegards Schriften "De operatione Dei" und "Scivias" entstanden. An diese auf die subjekthafte Seite der Schau Hildegards gerichteten Annäherungen schließen sich Reflexionen zur kosmischen Dimension und zum Bild-Charakter des Denkens der Mystikerin an. S. stellt Analogien her, die "eine Art Empathie, also ein Nachempfinden" (80) der vom symbolischen Weltbild des Mittelalters geprägten Visionen ermöglichen sollen. Die von Hildegard geschauten und beschriebenen Bilder versteht der Autor in Auseinandersetzung mit Hans Blumenbergs Begriff der absoluten Metapher und in Anlehnung an Karl Rahner als eine Art "Realsymbol" (119). Als Aufgaben für die gegenwärtige Theologie entwickelt S. die Forderung nach einer vor allem im Gespräch mit der ostkirchlichen Theologie (z.B. Pavel Florenskij) zu entwickelnden Metaphysik des Bildes. Die den Menschen in seiner kosmischen Bezogenheit erfassende Schau-Mystik Hildegards von Bingen hat hierzu bisher nicht genügend Gehörtes zu sagen.