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Ausgabe:

November/2009

Spalte:

1266–1267

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Großkopf, Sophia

Titel/Untertitel:

Otto Dibelius und die Etablierung des evangelischen Religionsunterrichts.

Verlag:

Jena: IKS Garamond (Edition Paideia) 2008. 176 S. 8° = Religionspädagogik im Diskurs, 5. Kart. EUR 14,50. ISBN 978-3-938203-57-6.

Rezensent:

Rainer Lachmann

Auch wenn der Titel scheinbar mehr verspricht, als er auf 130 Seiten halten kann, verdient dieses opusculum religionspädagogische Beachtung. Es befasst sich unter leitendem schul- und kirchenpolitischem Aspekt mit den Jahren 1918–1922, einer hoch ›sensiblen Schwellenzeit‹ zwischen traditionell Gewordenem und neu Werdendem, was besonders für die Kirchen in ihrem Verhältnis zum neu etablierten demokratischen Staat eine gewaltige Herausforderung bedeutete. Vor allem die Zeitspanne zwischen Novemberrevolution und Verabschiedung der Weimarer Reichsverfassung bietet hier ein höchst lohnendes Forschungsfeld.

Vielleicht wäre es von daher nicht verkehrt, mit dem aufmerksamen ›Studieren‹ der Dokumente zu beginnen, die Sophia Großkopf dankenswerterweise ihrer Studie angefügt hat. Hier könnte man in ersten Ansätzen den religions- und kirchenpolitischen Zeitgeist erahnen, der die Wende gerade dieser Jahre beherrschte. Beschränkt auf gut ausgewählte Erlasse der preußischen Regierung und Evangelischen Landeskirche kann man so einen ersten Eindruck hinsichtlich des Stellenwertes von Religion und Religionsunterricht in der Bildungs-, Schul- und Kirchenpolitik der sich etablierenden Weimarer Republik gewinnen, kulminierend in der Verfassung des Deutschen Reiches vom 11.8.1919. In ihr und ihrem Art. 149 begegnen wir gleichsam den ›archetypischen‹ Wurzeln, mit denen sich verfassungsrechtlich »die Etablierung des evangelischen Religionsunterrichts« vollzog, an der wir mit Art. 7,3 unseres Grundgesetzes noch bis heute Anteil haben.

Die Vfn. fokussiert ihre Forschungsarbeit auf die »sachliche Darstellung des politischen Weges der Kirchen sowie ihrer Stellung zu religiöser Bildung und Erziehung« in den vier Anfangsjahren der Weimarer Republik und verschränkt sie mit der »Bedeutung von Otto Dibelius hinsichtlich der Evangelischen Schulpolitik«. Me­thodisch belässt sie es nicht bei bloßer Deskription, sondern will die »Arbeit« von Dibelius auch kritisch hinterfragen (11). Auf dieser wissenschaftlich fruchtbaren Linie liegt ihr erklärtes Forschungsinteresse, das gerade für die Zeit der zu untersuchenden Schwellenjahre »nicht vom Ideal der Kirche ausgehend in die bestehende schulpolitische Landschaft hinein zu argumentieren« sucht, »sondern umgekehrt die Argumentation der Gesprächspartner am realen Bild der Kirche« prüfen will – ein hoher Anspruch, dem allein schon wegen der Fülle und der »Heterogenität des Materials« deutlich Grenzen gesetzt sind (10).

Dementsprechend befasst sich die Studie schwerpunktmäßig mit dem kirchen- und schulpolitischen Bereich und seinen verfassungsrechtlichen Fragen. Nach der »Einleitung« des 1. Kapitels, die »Zielsetzung«, Forschungstendenzen und vor allem die »Person Otto Dibelius« thematisiert, folgen im 2. Kapitel wichtige Ausführungen zur »Krise der Evangelischen Kirche zu Beginn der Weimarer Republik 1918/19«. Das 3. Kapitel konkretisiert dies am »Kampf um die Schule und die Massenpetition«, jener berühmten an die Nationalversammlung gerichteten Unterschriftenaktion der Evan­gelischen Kirche, durch welche – unter maßgeblicher Beteiligung von Otto Dibelius – die »Erhaltung des christlichen Charakters der Volksschulen« veranlasst werden sollte (36). In thematischer Konsequenz schließt daran mit dem 4. Kapitel die »Behandlung der Schul- und Kirchenfrage in der Weimarer Reichs­verfassung vom 11. August 1919 und das Reichsschulgesetz« an. Nach diesem zentralen Themenbereich geht es im 5. Kapitel um die »Bedeutung des Deutschen Evangelischen Kirchentages in Dresden 1919 und des Stuttgarter Kirchentages 1921 hinsichtlich der Schulfrage«, ehe dann im 6. Kapitel mit der »evangelischen Erziehungsschule« das von Dibelius favorisierte schulpädagogische Modell vorgestellt wird. Nach dem 7. Kapitel, das sich mit der »Reichsschulkonferenz vom 11. bis 19 Juni 1920« beschäftigt, und dem 8. Kapitel, das die »Elternbünde unter besonderer Berücksichtigung des Reichselternbundes und ihre Werbearbeit« behandelt, endet das opusculum im 9. Kapitel mit sehr kurz gehaltenen »Ergebnisse[n] der evangelischen Schulpolitik« und einem leider ebenso kurzen »Ausblick« im 10. Kapitel. Bereichert wird die Arbeit durch einen Anhang aus Dokumenten und Tafeln, Abkürzungsverzeichnis, Bibliographie und Personenregister.

Die Überschriften der einzelnen Kapitel machen deutlich, dass die Studie nicht durchgängig an Otto Dibelius orientiert ist, sondern ihr Interesse über weite Strecken eher indirekt dem »Kontext der Zeitgeschichte« gilt. Nur knapp drei Seiten sind der Biographie von Dibelius gewidmet, doch die reichen aus, um gewahr zu werden, mit was für einer Persönlichkeit es der zu tun bekommt, der sich forschend und lesend auf sie einlässt. Das beweisen allein schon die frühen Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, die nicht zuletzt die wirkungsgeschichtlich interessante Frage aufwerfen, »ob und in wie weit sich bei Dibelius« »eine kontinuierliche Linie im Hinblick auf die entsprechenden politischen, kulturellen und kirchlichen Geschehnisse herausbildete« und durchhielt (19). Religionspädagogisch relevant wird das freilich erst mit der Behauptung der Vfn., dass Dibelius mit seiner »Einstellung zur Schulfrage, in der es um die Existenz des Religionsunterrichts an der Schule ging«, als »profilierter Vertreter einer sowohl theologischen wie auch pädagogisch-wissenschaftlichen Bildung« zu gelten habe (18). Was den schulischen Religionsunterricht betrifft, bleibt die Untersuchung hier den Beweis schuldig, da sie primär bildungs- und schulpolitisch ausgerichtet ist und sich genauere Vorstellungen zur Theorie und Praxis des Religionsunterrichts ebenso wenig finden wie eine Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Religionspädagogik. In dieser Beziehung bleiben die Erwartungen an die Studie weitgehend unerfüllt. Das zeigt sich z. B. am 4. Kapitel, wo der partei- und kirchenpolitisch so ungemein heftig geführte Streit um den Religionsunterrichts-Artikel 149 WRV nur marginale Beachtung findet.

Dibelius wollte – um ein überzeugendes Ergebnis der Arbeit noch einmal anzusprechen – mit seinem schulpolitischen Enga­gement die durch die »Revolution als ein ›befreiendes‹ Gewitter« gebotene Chance der »neu gewonnenen Freiheit der Kirche« gegen­über dem Staat umsetzen, blieb dabei aber mit »seinem beständigen Festhalten an der Volksschule als christlicher Schule« ganz den vorrevolutionären Strukturen verhaftet, ohne den zunehmenden Individualisierungs- und Säkularisierungstendenzen im neuen Staat angemessen zu begegnen. So trifft wohl auch für Dibelius das Schlussvotum der Untersuchung zu, wonach sich die Kirche in der Weimarer Republik »sowohl der neuen Situation auf dem Schulsektor und in der Gesellschaft einerseits öffnete und versuchte anzupassen, andererseits aber auch ihren konventionellen Strukturen nach wie vor verhaftet blieb« (129 f.). Das für die Jahre 1918–1922 an Otto Dibelius und der Schulpolitik vielperspektivisch aufgezeigt zu haben, ist ein Verdienst der Arbeit. Gerade das Beispiel der Anfangsjahre zeigt, welch differenzierte Forschung zu leisten ist, um der Weimarer Republik in historisch-kritischem Zugriff auch nur annähernd religionspädagogisch gerecht zu werden. Die Menge an Anmerkungen und Belegen und die nachgezeichneten, nicht selten ungewohnt komplizierten und differenzierten Denkwege und Argumentationen verlangen jedenfalls gründliche Lektüre und interessierte Ausdauer, ohne die der Forschungsertrag der präsentierten Studie sich nicht wirklich gewinnbringend erschließt.