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Ausgabe:

November/2009

Spalte:

1261–1263

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Schlegel, Alexander

Titel/Untertitel:

Die Identität der Person. Eine Auseinandersetzung mit Peter Singer.

Verlag:

Fribourg: Fribourg Academic Press; Freiburg i. Br.-Wien: Herder 2007. 486 S. gr.8° = Studien zur theologischen Ethik, 116. Kart. EUR 65,00. ISBN 978-3-7278-1580-5 (Fribourg Academic Press); 978-3-451-29393-1 (Herder).

Rezensent:

Christian Polke

Vor mittlerweile 20 Jahren beherrschte eine Debatte die bundesdeutsche Öffentlichkeit, die manchen den Rückfall in die Tage nationalsozialistischer Züchtungspolitiken befürchten ließ. Der australische Philosoph Peter Singer, bis dato vor allem den Kundigen als Anwalt von Animal Rights bekannt, legte seine »Praktische Ethik« (1984/94) vor. Darin ging es sprichwörtlich um Fragen von Leben und Tod. Man muss Singers – mittlerweile von ihm teilweise schon wieder revidierte – Thesen zu Infantizid und Euthanasie nicht teilen, um selbstkritisch einzugestehen: Eine Sternstunde der öffentlichen Meinungsdebatte war die damalige Diskussion gewiss nicht.

Der katholische Theologe Alexander Schlegel hat sich jüngst in seiner Mainzer Dissertationsschrift über Die Identität der Person zur Aufgabe gemacht, dass breite Werk Singers systematisch zu sichten und einer kritischen Auseinandersetzung zuzuführen. Dass er sich dabei nicht nur auf bioethische Fragen (95 ff.) konzentriert, sondern darüber hinaus die oft vernachlässigten tierethischen (vgl. 152 ff.) und wirtschaftspolitischen (163 ff.) Anliegen Singers in ganzer Breite mit einbezieht, ist ein unschätzbarer Vorteil des Buches; ebenso wie die argumentationsstrategische Zweiteilung in eine zurückhaltend präzise Darstellung (Erster Teil: 27–184) und eine kritische Relektüre (185–414). Bei einem so umstrittenen Referenzautor ist das ein geradezu wohltuendes Unterfangen. Vor allem aber zeigt Sch. auf, wie Singer die Frage nach der Ethik (»Wie sollen wir leben?«) mit der Frage nach dem Menschen (»Was ist der Mensch?«) in der Frage nach dem Wert des Lebens bündeln kann (vgl. 55 ff.). Präferenzutilitarismus und aktualistische Personentheorie bilden den Theoriehorizont der Singerschen Moralphilosophie, die eigentlich nichts anderes als Angewandte Ethik sein will. Das betrifft selbst noch die Überlegungen zur Wirtschaftsethik, die – wie Sch. treffend zuspitzt – dem individuellen Konsumenten in der Ersten Welt die Frage nicht erspart, ob sein Luxus nicht den Tod vieler anderer provoziert (vgl. zur Erörterung der Spendenproblematik: 375 ff.).

Im Folgenden konzentriere ich mich in gebotener Kürze auf die Rolle des Personenverständnisses. Vorweg will ich eingestehen, dass mich der rhapsodisch bleibende Überblick über personentheoretische Ansätze in der Einführung (vgl. 22 ff.) mit Blick auf die Arbeit nicht wirklich überzeugt hat. Ein Beispiel: Das Urteil Sch.s über Spaemanns Personenbuch, es könne in der Auseinandersetzung »mit den Herausforderungen der analytischen Philosophie, Singers Ethik und personalitätsrelevanten empirischen Erkenntnissen« (24) nicht bestehen, bedürfte einer genaueren Prüfung und nicht eines bloß thetischen Satzes. Es überrascht, weil Sch.s eigenes Unterfangen demjenigen von Spaemann eigentlich in vielem ähnelt. Auch Sch. unterzieht im bei Weitem umfangreichsten und dichtesten Kapitel seiner Arbeit (227–329) Singers Personenkonzept einer gründlichen Kritik mit dem Ergebnis, dass er Singers Ethik nicht nur eine hoch voraussetzungsreiche Metaphysik nachweist, sondern sein Personenkonzept als in sich höchst problematisch aufzeigt.

Singers Praktische Ethik, die zu Recht als eine Ethik der Person gekennzeichnet werden darf, startet bei einer scheinbar einfachen Frage: Sind die Begriffe »Mensch« und »Person« intensional und extensional gleichen Umfangs? Entgegen unserer alltäglichen Praktiken und Intuitionen verneint der australische Bioethiker die These, wonach alle Menschen Personen seien. Für die Mitglieder der Spezies homo sapiens sapiens gilt: »Person ist nur ein aktuell selbstbewusstes und rationales Wesen« (231). Dabei liegt die Betonung nicht so sehr auf den beiden Eigenschaften an sich, sondern auf der temporalen Bestimmung »aktuell«, wie Sch. nicht müde wird zu betonen. Aus der Aktualität der Personenwirklichkeit, und nur aus ihr, erwachsen dem jeweiligen menschlichen Individuum Rechte und Pflichten. So wird ersichtlich, warum Singer den Präferenzutilitarismus als ethische Grundüberzeugung vorzieht: Präferenzen stellen sich genau dann ein, wenn ein gegenwärtiges Selbstbewusstsein durch rationales Kalkül Interessen vertreten kann. Daran entzündet sich das »Singer-Problem«, nämlich wie moralisch mit Menschen umzugehen ist, denen kein Personenstatus zugestanden werden kann (vgl. 74 ff.)

Nun handelt sich Singer mit dem Aktualismus seines Personenkonzepts massive Schwierigkeiten ein, die schon damit beginnen, dass nicht hinreichend klar ist, welche Rolle Identität und Kontinuität mit Blick auf das Sein von Personen spielen. Daran setzt Sch. an, wenn er für ein integriertes Verständnis vom Personsein des Menschen jenseits von Aktualismus und Substanzdualismus (vgl. 237 ff.) plädiert. Dreh- und Angelpunkt ist die Frage nach der temporalen Identität von Personen, ihrer endurance und perdurance. An der Möglichkeit einer Verbindung der beiden Aspekte hängt viel für eine realistische Sprachphilosophie, Ontologie und Handlungstheorie, die auf einem Perspektiven(!)dualismus fußt und zugleich Verantwortung als soziale Zuschreibungspraxis versteht. In der Tat passt Selbstbewusstsein als indexikalisches Wissen, also die synchrone Identitätsbehauptung eines Subjekts, wenig zu einem phasenorientierten Personenkonzept und einem aktualistischen Monismus (248). Wie können dann aber, so müsste Singer gefragt werden, Personen »Träger ihrer Geschichte« (252) sein? Mit Blick auf all diese Dimensionen verbleibt sein Ansatz unterbestimmt, ja zutiefst defizitär. »Als unverzichtbare Elemente des Personenbegriffs erweisen sich körperliche Kontinuität als notwendige und psychische Kontinuität als hinreichende Bedingung diachroner Identität von Personen« (424). Die damit verbundene Differenz zwischen erstpersönlicher und drittpersönlicher Perspektive kann Singer nicht mehr in sein Personkonzept einholen. Seine Ontologie scheitert, so Sch., an der Erste-Person-Perspektive (vgl. ebd.). Zudem führt die Unterscheidung von Menschsein und Personsein gar nicht primär zu moralischen Konsequenzen, sie ist vielmehr prämoralischer Natur.

Die streckenweise sehr überbordenden Argumentationen Sch.s zu Ethik und empirischer Forschung (vgl. 285 ff.) wollen sodann u. a. belegen, dass es keineswegs ausgemacht ist, dass es nicht-menschliche Personen gibt (vgl. 312 ff.). Dies bedürfte gewiss einer eigenständigen Erörterung, soll an dieser Stelle aber unterbleiben. Stattdessen muss aus theologischer Sicht noch auf ein Manko aufmerksam gemacht werden. Sch. erlaubt der theologischen Ethik wenig mehr als »Anmerkungen« zu einer philosophisch längst geklärten Auseinandersetzung (vgl. 314 ff.). Für Sch. ist selbst der ziemlich pauschale Umgang Singers mit der angeblich jüdisch-christlichen Ideologie der Heiligkeit des Lebens kein Anlass, um auf die Theoriepotentiale genuin theologischer Anthropologie (inklusive ihrer moraltheologischen Implikationen) näher einzugehen. Damit steht er gewiss für eine gegenwärtig dominante Richtung in der katholischen Moraltheologie. Protestantischerseits darf man aber daran erinnern, dass jede Metaphysik selbst ihre weltanschaulichen Prämissen hat, die ihre rationale Rechtfertigung zumindest mit berühren und die in einer grundlegenden Gewissheitshaltung fundiert sind: Letztere besagt auch in römischer Perspektive mehr, als eine konstruktiv-kritische Beschäftigung mit einschlägigen Enzykliken zum Thema der Heiligkeit menschlichen Lebens hergibt (vgl. 319 ff.).

Es zollt von gründlicher Wissenschaftlichkeit, wenn ein Autor sich alle Argumente seiner Referenzgröße dergestalt vornimmt, dass er sie bis ins Detail hinein prüft. In diesem Sinne ist das Buch eine wahre Fundgrube, die an keiner Stelle das Bemühen vermissen lässt, sein Gegenüber ernst zu nehmen. Leicht konträr dazu steht, wie schon erwähnt, der moraltheologische Ertrag.

Ob man in das Resümee Sch.s auf den Gutmenschen Singer einstimmen mag, der »im Leben vieler Menschen« (428) so viel für die Umsetzung ethischer Einsichten getan hat, bleibt dahingestellt. Übrigens be­schließt ein Interview mit besagter Referenzgröße den Band (429 ff.). Alles in allem stellt die zu würdigende Schrift beides dar: eine gute Einführung in das Werk von Peter Singer und eine kritische Stellungnahme aus einer verhalten bleibenden katholischen Sicht. Selten ist es jedenfalls, dass man von ein und demselben Werk der Sekundärliteratur beides ernsthaft behaupten darf.