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Ausgabe:

November/2009

Spalte:

1258–1260

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Lienemann , Wolfgang

Titel/Untertitel:

Grundinformation Theologische Ethik.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008. 319 S. 8° = UTB 3138. Kart. EUR 17,90. ISBN 978-3-8252-3138-5 (UTB); ISBN 978-3-525-03253-4 (Vandenhoeck & Ruprecht).

Rezensent:

Dietz Lange

Dieses Lehrbuch des Berner Ethikers soll die Grundlage für die Beratungsfunktion der Bereichsethiken bieten. Es ist von einem evangelischen Standpunkt aus konzipiert, dabei aber an einem Dialog mit der Philosophie interessiert und auf interreligiöse und ökumenische Verständigung ausgerichtet (9.13). Es bietet viel historischen Stoff, aber um des systematischen Zwecks willen bewusst typisierend (112). Auch das Lokalkolorit scheint durch, so in der ausführlichen Erörterung kirchenrechtlicher Gegebenheiten in der Schweiz (220–225) oder in Helvetismen (»Vernehmlassung«, oder »Nachachtung«, 249.268).

Der Aufbau ist klar und übersichtlich. Der erste Teil »Grundlagen« fragt nach dem Wesen von Ethik im Allgemeinen (u. a. Gegenstandsbereiche, Synthese von Güter-, Pflicht- und Tugendethik, Verhältnis von Sein und Sollen) und theologischer Ethik im Besonderen, um sich dann dem Grundthema des ganzen Werkes, der Freiheit in Glauben und Vernunft (nach Luther, Calvin und Barth), zuzuwenden. Der zweite Teil »Gegensätze« befasst sich mit dem Verhältnis von philosophischer und theologischer Ethik, Autorität der Bibel und Vernunftkritik. Hier werden philosophische Modelle aus Antike und Neuzeit vorgestellt, mit einer besonderen Präferenz für Immanuel Kant, sodann die Problematik einer »Ethik ohne Metaphysik« und schließlich die eigene biblische Orientierung erörtert. Im dritten Teil »Vermittlungen« geht es um »Kommunikation ethischer Fragen in der pluralistischen Gesellschaft«. Dabei setzt L. einen für derartige Lehrbücher ungewöhnlichen Akzent auf die rechtliche Perspektive. Das macht dieses Kapitel besonders reizvoll.

Theologisch fühlt sich L. vor allem Karl Barth verpflichtet. Ethik ist für ihn »die wissenschaftliche Selbstprüfung der Kirche« in Bezug auf das gesellschaftliche Handeln des Menschen (51). Subjekt ist also die sichtbare Gemeinschaft, die von Gott dazu bestimmt ist, die wahre Kirche zu werden, indem sie sich an »Gottes Wort« orientiert (49.229 f.233). Die damit angekündigte entschlossene Abkehr von jeglichem ekklesiologischen Doketismus kann man nur begrüßen, auch wenn der so emphatisch betonte Realismus sich dann auf die theologisch qualifizierten Momente Kommunikation, Sakramente und Überlieferung (234–240) und das Religionsrecht (Begriff der Öffentlichkeit) beschränkt und eine soziologische Betrachtung der kirchlichen Institution selbst weitgehend ausblendet.
Aber nun sollen die sichtbare und die unsichtbare (besser: verborgene) Kirche offenbar personalidentisch sein. Trotzdem dürfe die »wirkliche Kirche« keinerlei Monopol beanspruchen (227). Das leuchtet zwar nach den Debatten über das Absolutheitsproblem vom Anfang des vorigen Jh.s und angesichts der heutigen pluralis­tischen Gesellschaft unmittelbar ein. Aber ist die »wirkliche Kirche« dann vielleicht dazu »bestimmt«, einmal ein Monopol zu be­kommen? Dann bestünde zu dem vatikanischen Verständnis nur ein Gradunterschied. Dass diese Frage nicht aus der Luft gegriffen ist, zeigt der Passus über den ethischen status confessionis (259–272). Trotz sorgfältiger Differenzierung zwischen Fällen, in denen es um Alles oder Nichts geht (Kirchenkampf), und anderen gewichtigen politischen Fragen (267–269) wird dann doch dagegen polemisiert, dass man sich nicht getraut habe, die kirchlichen »Bekenntnisse« in den militärpolitischen Fragen der Nachkriegszeit mittels Kirchenzucht jedenfalls intern durchzusetzen (269.284). Hatte der pazifistische Flügel so eindeutig Recht gegenüber anders argumentierenden Christen (und Nichtchristen)?

Solches Vorpreschen ist freilich glücklicherweise selten. Es verträgt sich auch schlecht mit der Funktion, die der Ethik vorzugsweise zugeschrieben wird, der »Beratung« (passim). Dahinter steht die von L. voll akzeptierte Zuordnung von Evangelium und Gesetz bei Karl Barth. Er folgert daraus, Gott sei kein »Oberbefehlshaber« oder »Generalissimus«, sondern »Partner« der Menschen, er mache sie zu seinen cooperatores (62.169.173). Die Gebote seien darum keine »Kommandos« (194; vgl. aber englisch commandments!). Die Menschen würden von Jesus Christus zur Nachfolge »eingeladen« (193). Hier ist nun umgekehrt zu fragen, ob damit nicht die Heiligkeit Gottes und dementsprechend auch die Unbedingtheit der ethischen Forderung unterbelichtet werden. Immerhin hat Jesus denen, die seinem Ruf nicht folgen, das Gericht angedroht.

Dabei kann L. durchaus von einem radikalen Ethos reden (240), und vor allem will er sich am kategorischen Imperativ Kants orientieren. Die Lösung könnte sein, dass man zwischen der Unbedingtheitsdimension der ethischen Grundforderungen, wie sie in den Antithesen der Bergpredigt zum Ausdruck kommt, und den pragmatisch zu behandelnden Entscheidungsspielräumen unterscheidet. In der Tat kann L. unumwunden zugeben, dass für die »Freiheit eines Christenmenschen« nur der auf Barmherzigkeit zielende Richtungssinn der biblischen Botschaft absolut verbindlich sei (186), so dass es sogar Fälle geben könne, in denen es geradezu geboten sei, einem Gebot zuwiderzuhandeln; er nennt als Beispiel dafür Schwangerschaftskonflikte (106.180.187). Andererseits geht L. aber von einer fortdauernden Geltung der (ganzen?) Tora für die Chris­ten aus (196.241). Diese wird zwar im Alten Testament gewiss nicht als hartes Joch, sondern als »Weisung« verstanden, schließt aber »neue Dekaloge«, wie sie Luther für möglich gehalten hat, eindeutig aus. Die hier auftretenden Spannungen sind nicht zu Ende reflektiert.

Ein zweites Problem ist mit dem eben besprochenen eng verflochten: das Verhältnis von biblischer Autorität und wissenschaftlicher Arbeit im Allgemeinen, historischer Bibelkritik im Besonderen. Um mit dem Zweiten zu beginnen: L. möchte die Schrift »im Ganzen wie im kleinsten Detail« auf Christus als die Mitte der Schrift hin ausgelegt sehen. Dabei soll eine Vielfalt von Auslegungsmethoden zur Anwendung kommen, und in Zweifelsfällen solle man wieder auf die Bibel zurückgehen (192). Vor allem dieser Zirkel verrät, dass hier der Versuch gemacht wird, der historischen Kritik jedenfalls ein gewisses Recht zuzugestehen, dabei aber den evangelikalen Flügel der Kirche auch nicht völlig zu verprellen. Doch dürfte das Zweite durch die Betonung des freien Umgangs mit dem Wortlaut der Gebote längst passiert sein, während auf der anderen Seite die behauptete christologische Bedeutung auch des »kleinsten Details« ebenso kritische Fragen provozieren dürfte wie die nicht weiter spezifizierte Mannigfaltigkeit von Methoden. Sollte hier implizit das (irrige) Verständnis der historisch-kritischen Methode als eines rein destruktiven Verfahrens zu Grunde liegen?

Damit komme ich zu dem Verhältnis von Kirche und theologischer Wissenschaft in Bezug auf die Ethik. Hier steht die Feststellung, es gehe um die wissenschaftliche Selbstprüfung der Kirche, in Spannung zu der These, die Kirche benötige »eine unabhängige Wissenschaft als kritisches Gegenüber« (237). L. ist offenbar bei dieser These nicht ganz wohl, denn er hält es für problematisch, wenn z. B. Fragen der Bioethik die meisten Kirchenleitungen und die »Mehrheit der sich als liberal verstehenden Universitätstheologen« polarisieren (270). Darf die Wissenschaft nur so lange unabhängig sein, wie sie nicht liberal ist?

So viel zu den kritischen Rückfragen. Auf der anderen Seite enthält das Buch eine Fülle von zuverlässig und übersichtlich präsentiertem Material, das für die Ausbildung der Studierenden unverzichtbar ist. Inhaltlich sind z. B. solche Reflexionsgänge positiv hervor­zuheben wie der über die Notwendigkeit staatlicher Ein­schränkung der Religionsfreiheit in solchen Fällen, in denen diese mit anderen Menschenrechten in Konflikt zu geraten droht – nicht zuletzt deshalb, weil L. ehrlich eingesteht, in welche Aporien das führen kann (316.318). Dem Phänomen derartiger Konflikte zwischen gleichrangigen ethischen Forderungen, die ja durchaus zum Alltag gehören, hätte man eine prinzipiellere Behandlung ge­wünscht, als sie hier vorliegt. Aber das ist wohl auf dem Boden einer Konzeption der »Königsherrschaft Christi«, die auch die weltlichen Relationen als den Gegenstandsbereich ethischen Handelns um­fasst, kaum möglich, weil hier stets die Tendenz auf Eindeutigkeit vorherrscht. Außerdem müsste dafür der Begriff des Gewissens viel stärker zur Geltung gebracht werden.