Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2009

Spalte:

1256–1258

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Kostka, Ulrike

Titel/Untertitel:

Gerechtigkeit im Gesundheitswesen und in der Transplantationsmedizin. Mehrdimensionale Handlungsfelder als systematische und normative Herausforderung für die Bioethik und Theologische Ethik.

Verlag:

Basel: Schwabe 2008. 372 S. m. Abb. gr.8° = Ethik und Recht, 4. Kart. EUR 47,50. ISBN 978-3-7965-2306-9.

Rezensent:

Alexander Dietz

Bei diesem Band handelt es sich um die Habilitationsschrift von Ulrike Kostka, Privatdozentin am Seminar für Moraltheologie der Katholisch-Theologischen Fakultät an der Universität Münster und Leiterin der Abteilung »Theologische und verbandliche Grundlagen« des DCV in Freiburg. Damit liegt nach Thomas Bohrmanns Buch »Organisierte Gesundheit« von 2003 nun die zweite katholische Habilitationsschrift mit Überblickscharakter zum Thema Ressourcenallokation im Gesundheitswesen in ethischer Perspektive vor. Die wenigen – sowohl katholischen wie evangelischen – Veröffentlichungen zu diesem Thema stehen in keinem Verhältnis zu dessen aktueller wie künftiger Bedeutung.

Ausgangspunkt der Untersuchung ist die These, dass die ethischen Probleme im Blick auf die Verteilung von Gesundheitsressourcen unter Knappheitsbedingungen bislang von der medizinischen Ethik nicht befriedigend reflektiert worden seien, weil die mehrdimensionalen Handlungsebenen nicht ausreichend im Blick und die verwendeten Gerechtigkeitstheorien infolgedessen zu wenig kontextspezifisch gewesen seien (17). K. nennt zwei Ziele ihrer Arbeit, nämlich erstens einen Ansatz einer mehrdimensionalen Ethik zu entwickeln und zweitens ethische Kriterien zur Ressourcenallokation im Gesundheitswesen, insbesondere hinsichtlich der Organverteilung, aufzuzeigen (22). Die Schrift ist in fünf Teile gegliedert.

Im ersten Teil werden die beiden Handlungsfelder »Gesundheitswesen unter Knappheitsbedingung und Gerechtigkeitsanspruch« sowie »Transplantationsmedizin« mit ihren ethischen Problemen dargestellt. Bei der Untersuchung des ersten Handlungsfeldes setzt K. die Unterscheidung der vier Allokationsebenen von H. Tristam Engelhardt voraus, beschäftigt sich allerdings mit den oberen drei Ebenen gemeinsam in Form einer Auseinandersetzung mit den klassischen gerechtigkeitstheoretischen Modellen (liberalistisch, kontraktualistisch, utilitaristisch, egalitaristisch). Diese seien alle, so K., zu abstrakt und unterkomplex zur Bearbeitung des Allokationsproblems (50), die Ethik müsse sich von ihrer individualethischen Fokussierung lösen und kontextsensibler werden. Anschließend beschäftigt sie sich ausführlicher mit der untersten Ebene bzw. mit der amerikanischen Debatte zu den Auswirkungen einer Rationierung am Krankenbett auf die Arzt-Patienten-Beziehung. Die Darstellung des zweiten Handlungsfeldes fällt demgegenüber knapp aus, auch hier werden von K. grundlegende Reflexionsdefizite festgestellt.

Im zweiten Teil erfolgt eine detaillierte Kontext- und Handlungsanalyse der beiden Handlungsfelder. K. geht kurz auf die Organisations- und Finanzierungsstruktur des deutschen Ge­sundheitswesens ein. Diese Darstellung ist etwas zu kurz geraten (allerdings durch die letzte Gesundheitsreform ohnehin nicht mehr aktuell). Anschließend beleuchtet sie nacheinander in übersichtlicher Weise die Handlungsbedingungen und ethischen Konflikte der verschiedenen Akteure auf den verschiedenen Ebenen, wobei sie nun von den drei Ebenen Makroebene (Gesetzgeber Bund, Gesetzgeber Land, Gemeinsamer Bundesausschuss), Meso­ebene (Krankenkassen, Kassenärztliche Vereinigung) und Mikroebene (Krankenhaus, Arzt, Pflegende, Patient) ausgeht. Diese Darstellung ist besonders gut gelungen und im Detail erhellend. Die darauf folgende Kontext- und Handlungsanalyse des Bereichs der Organallokation berücksichtigt Aspekte, die sonst vernachlässigt werden, wie beispielsweise die Aufklärung zur Organspende oder das Gespräch mit den Angehörigen. Die Mehrdimensionalität der Handlungsfelder wird deutlich.

Im dritten Teil werden bioethische und theologisch-ethische Ansätze systematisch auf ihre Potentiale und Grenzen im Hinblick auf die Frage untersucht, ob sie einen Beitrag zu einer Ethik mehrdimensionaler Handlungsfelder leisten können. Die bioethischen Ansätze (Medizinethik, Pflegeethik, Public-Health-Ethik, organisations- und systemethische Konzepte, feministische Ansätze) bringen nach K.s Meinung jeweils wichtige Aspekte zur Geltung, aber genügen für sich genommen gerade nicht den systematischen Anforderungen an ein mehrdimensionales Konzept. Zu Recht bemerkt K. außerdem, dass einige im amerikanischen Kontext entstandene Ansätze nicht auf die deutsche Situation angewandt werden könnten (164). Die behandelten – allesamt katho­ lischen – theologisch-ethischen Ansätze (John Glaser, Thomas Bohrmann, Markus Zimmermann-Acklin, Christian Spiess, Mo­nika Bobbert) sind aus Sicht von K. nur begrenzt weiterführend, da sie die organisationale Perspektive ausklammerten.

Im vierten Teil wird eine mehrdimensionale Ethik bzw. ein mehrdimensionales Analyse- und Begründungsmodell für ethische Konflikte entwickelt. K. nimmt den Bürger, den Arzt, den Krankenpfleger, das Krankenhaus und den Staat als interagierende Akteure mit verschiedenen Zielen und Handlungsrationalitäten unter verschiedenen Rahmenbedingungen (zum Teil Spannungen infolge von Mehrfachbindungen) in den Blick. Sie schlägt vor, den verschiedenen Akteuren und Handlungsebenen verschiedene ethische Ansätze (Sozialethik, Ethik des Gesundheitswesens, Ethik des Krankenhauses, Pflegeethik, Individualethik) zuzuordnen. Im Blick auf die inhaltliche Füllung dieser Ansätze setzt sich K. u. a. kritisch mit dem Principlism-Ansatz (Beauchamp/Childress) und dem Capabilities-Ansatz (Nussbaum) auseinander. Schließlich entwickelt sie eigene ethische Kriterien aus der theologischen Anthropologie (Würde, relationale Autonomie) und der katholischen Sozialethik (Option für die Armen, Solidarität, Subsidiarität). Anschließend reflektiert sie, was diese Kriterien für die verschiedenen Akteure im Gesundheitswesen bedeuten könnten. Sie betont, dass ihr Ansatz einer mehrdimensionale Ethik für verschiedene ethische Theorien offen sei. Es gehe darum, in komplexen Situationen die ethische Konflikte und Handlungsspielräume der einzelnen Akteure differenziert wahrzunehmen (292).

Im fünften Teil wird die entwickelte Methode der mehrdimensionalen Ethik schlaglichtartig auf drei exemplarische Problemfelder angewandt, nämlich auf die Ressourcenverteilung im Gesundheitswesen, auf die Rationierung am Krankenbett und auf die Organallokation. Es wird angedeutet, dass die Behandlung des Problems der Ressourcenverteilung eine Auseinandersetzung sowohl mit dem Gesundheitsbegriff als auch mit der Finanzierungsstruktur, mit Priorisierungs-Kriterien, mit dem Ziel des Gesundheitswesens sowie mit den unterschiedlichen Handlungsebenen von Krankenversicherung, Krankenhaus und Arzt voraussetzt. Im Blick auf die Rationierung am Krankenbett wird zwischen medizinethischer (Doppelrolle des Arztes), organisationsethischer (Kostendruck im Krankenhaus), systemethischer (Tabuisierung von Rationierung) und sozialethischer (Rationierungskriterien erarbeiten) Dimension unterschieden. Hinsichtlich der Organallokation werden ethische Probleme im Zusammenhang der Organgewinnung sowie der Organverteilung bezogen auf verschiedene Akteure und ethische Probleme aufgeschlüsselt. Eine knappe Zusammenfassung wichtiger Grundgedanken schließt die Arbeit ab.

Die Untersuchung liefert mit der Forderung, verschiedene Dimensionen in den Blick zu nehmen, wichtige Impulse für die Diskussion. Besonders aufschlussreich sind die organisationsethischen Ausführungen zu Konflikten im Krankenhaus. Der Anwendungsteil fällt leider im Vergleich zum Grundlegungsteil sehr knapp aus. Eine Klärung wesentlicher Grundbegriffe (z. B. Knappheit) wäre wünschenswert gewesen.