Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2009

Spalte:

1255–1256

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Enders, Christoph, u. Michael Kahlo [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Toleranz als Ordnungsprinzip? Die moderne Bürgergesellschaft zwischen Offenheit und Selbstaufgabe.

Verlag:

Paderborn: mentis 2007. 265 S. gr.8°. Kart. EUR 42,00. ISBN 978-3-89785-485-7.

Rezensent:

Hartmut Kreß

Der Begriff, das Deutungsspektrum und die lebensweltliche Realisierbarkeit von Toleranz sind keineswegs nur für die Theologie, sondern u. a. auch für die Rechtswissenschaften von Belang. Dies zeigt sich an dem von den Leipziger Juristen Christoph Enders und Michael Kahlo edierten Band »Toleranz als Ordnungsprinzip?«, der zwölf Beiträge aus den Bereichen Theologie, Philosophie und Rechtswissenschaften enthält. Die Herausgeber und Autoren rekurrieren auf die inzwischen eingebürgerte Differenzierung verschiedener Toleranzkonzeptionen – als Erlaubnis- oder Duldungs-, Koexis­tenz-, Respekts- und Wertschätzungskonzeption –, um sie konstruktiv fortzuentwickeln.

Geistesgeschichtlich wird aufgearbeitet, wie umwegig sich die Idee der Toleranz in der Neuzeit ausgebildet hat. Dies erfolgte auch gegen Widerstände, z. B. gegen die Vorbehalte der katholischen Staatslehre und Publizistik des 16. Jh.s, die in der protestantisch geforderten Toleranz, Autonomie und »Freistellung« des individuellen Bekenntnisses eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung erblickte (vgl. Paul Warmbrunn, 22). Erhellend sind die Beiträge zum Toleranzpatent Josephs II. (von Janez Kranjc, 41 ff.) oder zur Korrelation zwischen der Toleranzdebatte und der Emanzipation der deutschen Juden (Jörg Berkemann, 71 ff.). Dabei gelangen die ihrer eigenen Zeit, dem 18. Jh., vorauseilenden soziologisch-ökonomischen Ideen Christian Wilhelm Dohms ebenso zur Sprache wie die Diskriminierung von Juden durch die Verwaltungspraxis des wilhelminischen Kaiserreichs. Andere Beiträge befassen sich mit John Locke (Michael Kahlo, 145 ff.) oder Friedrich Nietzsche (Werner Stegmaier, 195 ff.). Schon Spinoza hatte den Gedanken ins Spiel gebracht, dass staatlich gewährleistete Toleranz der gesellschaftlichen Kohäsion und Stabilisierung zugute kommt (vgl. Paul Warmbrunn, 36; Ralf Poscher, 135). Diese wegweisende Einsicht ist ethisch und rechtswissenschaftlich bis heute noch nicht hinreichend rezipiert worden. Insofern dokumentiert der Band, wie produktiv rechts-, theologie- und philosophiegeschichtliche Impulse für aktuelle Reflexionen sein können.

Darüber hinaus lassen sich in der Geistesgeschichte Engführungen und Inkohärenzen beobachten, die ex negativo interessant sind, insofern sie in der Gegenwart bewusst überwunden werden sollten. Noch für John Locke war es nicht vorstellbar gewesen, Atheisten zu tolerieren, weil Moral nur auf Religion gestützt werden könne (vgl. Michael Kahlo, 152). Bei Kant, Fichte und Hegel als den Vordenkern des Idealismus fällt auf, dass sie eine theoretisch sehr anspruchsvolle Toleranzkonzeption entwickelten, nämlich Toleranz im Sinn der Anerkennung anderer Menschen und ihrer Überzeugung. Hiermit überwanden sie überlieferte Sichtweisen, für die Toleranz lediglich die Duldung eines Übels darstellte. Sobald sie dann aber konkret lebensweltbezogen das Verhältnis der Geschlechter, der Völker und Rassen, Konfessionen und Religionen erörterten, fielen sie hinter ihr theoretisch erreichtes Niveau weit zurück und blieben – wie Ludwig Siep aufzeigt (183 ff.) – in tradierten Vorurteilen befangen. Heutige Denkmodelle sollten daher darauf achten, eine derartige Diastase zwischen theoretischer und praktischer Toleranzreflexion zu vermeiden.

Dem aus evangelisch-theologischer Feder stammenden Beitrag (Arnulf von Scheliha, Toleranz als Botschaft des Christentums?, 109–127) liegt daran, toleranzgemäße und -freundliche Aspekte des Christentums sowie speziell des Protestantismus zu plausibilisieren. Dabei wird nicht verschwiegen, wie sperrig sich das Chris­tentum geistesgeschichtlich gegenüber der Toleranzidee verhielt und wie umständlich evangelische Theologen sogar noch in der Gegenwart argumentieren, wenn sie sich auf das Postulat der Toleranz einlassen. Indem von Scheliha die Rechtsordnung als Rahmen von Toleranz interpretiert (119 ff.), schließt er sich der rechtswissenschaftlichen Sicht an, die Christoph Enders entfaltet (»Toleranz als Rechtsprinzip? Überlegungen zu den verfassungsrechtlichen Maß­gaben anhand höchstrichterlicher Entscheidungen«, 243–265).

Mit guten Argumenten lässt Enders die oft vorgetragene Auffassung hinter sich, derzufolge der heutige Staat nicht tolerant sein könne, da er keinen eigenen Standpunkt besitze. Stattdessen macht er darauf aufmerksam, dass in der heutigen pluralistischen Gesellschaft der Staat den Bürgern ein bestimmtes Maß von Toleranz sogar zumuten kann und darf. Hierfür beruft er sich auf höchst­richterliche Entscheidungen, denen gemäß in der Gegenwart »kein Recht« besteht, »von fremden Glaubensbekundungen … verschont zu bleiben« (zit. 252, Anm. 28). Folgerichtig ist es, dass der Jurist Helmut Goerlich die Fortentwicklung des traditionellen Staatskirchenrechts zu einem toleranz- und pluralismusfreundlichen Religionsrecht empfiehlt. Dabei kann er sich auf die zahlreichen An­stöße stützen, die der Europäischen Union entstammen. Ferner weist er auf den diesbezüglichen »verfassungsrechtlichen Modernisierungsschub« (225) hin, der in der Bundesrepublik Deutschland inzwischen von der Rechtsprechung ausgeht.

Insgesamt vermittelt der Band Einsichten und Argumente zu Gunsten eines »starken«, wechselseitige Anerkennung und Dialog einschließenden Toleranzverständnisses, die interdisziplinär Be­achtung verdienen und sich noch weiter ausbauen lassen.