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Ausgabe:

November/2009

Spalte:

1253–1255

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Ahlmann, Frank

Titel/Untertitel:

Nutz und Not des Nächsten. Grundlinien eines christlichen Utilitarismus im Anschluss an Martin Luther.

Verlag:

Berlin-Münster: LIT 2008. XIV, 272 S. 8° = Kieler Theologische Reihe, 8. Kart. EUR 24,90. ISBN 978-3-8258-1491-5.

Rezensent:

Arne Manzeschke

Frank Ahlmann verfolgt mit seiner Dissertation ein doppeltes Interesse. Erstens will er zur Erforschung der deutschen theologischen Ethik nach 1945 beitragen und hierbei ihre mangelhafte Rezeption des Utilitarismus untersuchen. Zweitens will er auf diesem Hintergrund die protestantische Ethik im Sinne eines »christlichen Utilitarismus« neu profilieren.

Nach einleitenden Überlegungen zu Fragestellung und Methode sichtet A. die Rezeption des Utilitarismus in theologischen Lehrbüchern und Entwürfen seit 1945. Sein Ergebnis lautet, dass der Hauptstrom theologischer Ethik den Utilitarismus gar nicht oder allenfalls in verzerrter Form zur Kenntnis genommen habe und sich damit der Chance begebe, anschlussfähig für die aktuellen ethischen Diskurse zu sein. Demgegenüber müsse eine konstruktive Theologie das christliche Wirklichkeitsverständnis nicht nur zu explizieren, sondern dieses auch mit »nicht-christlichen, säkularen Wirklichkeitsverständnissen als Form eines wohlgeordneten Zu­sam­menspiels aus Tradition und Interpretation« (3) komplizieren, also mit einfalten. Das 3. Kapitel führt die Grundlinien des Utilitarismus anhand seiner Gründer Jeremy Bentham und John Stuart Mill aus. Mit einem Seitenblick auf den ›Präferenz-Utilitarismus‹ Peter Singers erklärt A., warum diese Form des Utilitarismus seines Erachtens unvereinbar ist mit einem christlichen Utilitarismus. Im 4. Kapitel liefert A. die zentralen Argumente für seine Hauptthese: »Luthers Ethik, wie sie in seiner Schrift Von den guten Werken angelegt ist, sollte im Sinne eines christlichen Utilitarismus verstanden und interpretiert werden« (178). In einer abschließenden Umschau führt A. noch Augustin, Calvin und Bonhoeffer als Vordenker für einen christlichen Utilitarismus an.

Eine diskursfähige Ethik ist begrüßenswert, doch sollte A. erklären, warum gerade der Utilitarismus die Theorie der Wahl für eine zeitgemäße theologische Ethik ist. Er begründet diese Wahl so wenig, wie er andere ethische Theorien in Erwägung zieht. Vielmehr entsteht der Eindruck, dass er vor Zerrbildern von »überkommenen Moralvorstellungen«, »Bekenntnisethik« oder einer realitätsfernen Pflichtenethik den Utilitarismus umso heller strahlen lassen will. Wenn er im 3. Kapitel den Utilitarismus als theologiekompatibel auszuweisen sucht, bleibt der Eindruck, hier werde zusammengefaltet (ein Terminus, den A. in Anschluss an seinen Lehrer Rosenau verwendet), was nicht unbedingt zusammengehört. Die dezidiert atheistische Anlage Benthams und Mills wird ignoriert und contre cœur für einen ›christlichen Utilitarismus‹ in Anspruch genommen. Nur weil beide auch einen abgeleiteten Gemeinwohlnutzen im Blick haben, bieten sie noch keine Basis für eine an Nutz und Not des Nächsten orientierte theologische Ethik. Auch die Theologie erfährt hier seltsame, kaum produktive Verfremdungen: Die Gottesverehrung als oberstes Nutzenprinzip reinterpretiert (229), tut sowohl dem Gottesbegriff wie dem utilitaristischen Nutzenprinzip Gewalt an. Dass Ethiken den Nutzen von Handlungen und Gegenständen abwägen, ist per se noch kein Utilitarismus, so wenig wie ein Hinweis auf die goldene Regel bei Mill für die theologische Kompatibilität seines Ansatzes spricht. A. ar­gumentiert zu assoziativ. Auf dem Feld der Anthropologie regis­triert er, dass theologische und utilitaristische Aussagen kaum konvergieren. Dass Mill in seinem Ansatz den Zusammenhang von individuellem und gesellschaftlichem Nutzen nicht erklären kann, liegt offen zutage; jüngere Entwürfe hätten hier weiterhelfen können. Mill bietet auch keine ›Motivationsethik‹.

A. geht über diese Aporien und Widersprüche hinweg und konstruiert einen christlichen Utilitarismus, welcher der Selbstisolierung theologischer Ethik entgegenwirken und sie lebensdienlich ausrichten soll. Dessen Profil beschreibt er als »eine transzendental begründete Motivationsethik, die eingebettet und ausgerichtet ist auf die Mehrdimensionalität und Multiperspektivität von Wirklichkeit, in der sich – bedingt durch die Freiheit des Glaubens– kein Absolutes mehr zur Darstellung bringen muss, sondern komparatistisch und erfahrungsbezogen nach dem Menschenmöglichen und Guten fragt« (191 f.). Das ist kein ausgesprochen utilitaristisches Profil. »Nutz und Not des Nächsten in den Mittelpunkt des Bemühens um eine interdisziplinäre, protestantische Ethik zu rücken« (251), mag gut und nützlich sein. Es ist aber noch kein Utilitarismus, so wenig wie Bonhoeffers in diesem Sinne zitierte »Kirche für andere«. Den Nachweis, dass der Utilitarismus tatsächlich alltagstauglicher als andere Ethiken ist, er­bringt A. so nicht.

Von einem theologischen Beitrag wäre zu erwarten gewesen, dass er die ›empirisch erfahrene Wirklichkeit‹, wie sie im Utilitarismus behauptet wird, gerade einer Kritik unterzieht. Danach kann diese Wirklichkeit und das daran orientierte Nutzenkalkül des Menschen sub specie Dei gerade nicht zureichen; weder für den Entdeckungs- noch für den Begründungszusammenhang einer theologischen Ethik. Zweitens kann auch das von Menschen präferierte Gute nur als solches behauptet und verfolgt werden, sofern es unter der Bedingung steht, dass allein Gott gut ist (Mk 10,18).