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Ausgabe:

November/2009

Spalte:

1250–1253

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Myer Boulton, Matthew

Titel/Untertitel:

God Against Religion. Rethinking Christian Theology Through Worship.

Verlag:

Grand Rapids-Cam­bridge: Eerdmans 2008. XVIII, 242 S. gr.8° = Calvin Institute of Christian Worship Liturgical Series. Kart. US$ 28,00. ISBN 978-0-8028-2972-6.

Rezensent:

Ralph Kunz

Vor 40 Jahren provozierten einige junge Theologen die Zunft mit ihrer beherzten Rezeption von Bonhoeffers fragmentarischen No­tizen einer »religionsfreien Interpretation« biblischer Begriffe. Bonhoeffers religionskritischer Ansatz legte auch die Grundlage für neue Gottesdiensttheologien, in denen eine deutliche Skepsis gegenüber der traditionellen Liturgie spürbar wurde. Als Beispiel sei Harvey Cox’ »Fest der Narren« erwähnt. Ungefähr zur selben Zeit erweiterte sich das Blickfeld der Liturgiewissenschaft durch den Einbezug der Human- und Kulturwissenschaften. Der homo ludens hat dem homo religiosus den Rang abgelaufen. Liturgie wurde als Spiel, Feier und Fest anthropologisch begriffen. Die Spannung dieser beiden Impulse hat sowohl die katholische als auch die evangelische Liturgik befruchtet.

Die Feststellung, dass die anthropologische Sicht des Gottesdienstes die kritischen Stimmen wieder verstummen ließ, ist sicher nicht von der Hand zu weisen. Matthew Myer Boultons Buch aber verheißt schon im Titel eine Wiederbelebung der religionskritischen Gottesdiensttheologie. Allerdings heißt sein Gewährsmann nicht Dietrich Bonhoeffer, sondern Karl Barth (dazu vgl. XV).

M. B.s Untersuchung lässt sich tatsächlich als eine exzellente Barthauslegung lesen. Sie tritt aber mit dem (nicht ganz unbescheidenen) Anspruch auf, von Barths Religionskritik her christliche Theologie insgesamt neu zu denken. Es geht M. B. also nicht »nur« um Barth, sondern um Grundeinsichten der reformierten Theologie, die sich auch bei Calvin und Luther aufspüren lassen und die er zu einer Systematischen Theologie in nuce bündelt. Wenn im Spiritual die betende Gemeinde singt: »Pray on! Pray on! Some sweet day after, while Prayin’ time will soon be over, O some sweet day after’ while«, ist das Kernanliegen genannt. Christen sollen beten, dass ihr Gebet einmal ein Ende haben soll. Von dieser Dialektik ausgehend erklärt M. B. in der Einleitung, warum liturgische Aktion prekär, temporär und provisorisch und gleichzeitig grundlegend für das Verständnis des christlichen Lebens ist. Schöpfung und Sündenfall, Versöhnung und Erlösung – alles wird erst richtig verstanden und interpretiert in liturgischer Terminologie. Insofern ist Theologie immer auch Gottesdiensttheologie. Duktus der Argumentation und der Aufbau des Buches folgen dieser Einsicht.

Im ersten Teil wird entfaltet, wie der Zusammenhang von Gottesdienst und Sündenfall zu verstehen ist (21–63). M. B. geht von Barths Römerbriefkommentar aus, in dem Barth seinerseits Mi­chelangelos Gemälde »Die Erschaffung von Eva« interpretiert. Daran schließt sich eine Relektüre der Schlüsseltexte aus Gen 2–4 (63–93) an. Dem liturgiekritischen Teil folgt die Darlegung der liturgischen Grundlagen der Theologie im Teil »We pray by His Mouth« (95–231). M. B. setzt wieder bei Barth an, genauer: bei seiner Versöhnungslehre (95–135). Ein anderes Kunstwerk versinnbildlicht die Pointe: Grünewalds Darstellung der Kreuzigungsszene des Isenheimer Altars. Im folgenden Kapitel zeigt M. B., wo in Luthers religionskritischer Rechtfertigungstheologie eine vergleichbare Wende zum Gottesdienst zu entdecken ist (137–159). Das Schlusskapitel bündelt das Ergebnis (161–194), wird aber durch einen Nachtrag ergänzt. Als Professor für »ministry studies« hat M. B. auch ein praktisches Interesse. Und so wird ganz zum Schluss in kurzen Zügen die Konsequenz der reformierten Gottesdiensttheologie für die Liturgiereform aufgezeigt (195–231).

Um das Anliegen dieser schmalen Systematik zu verstehen, be­g­innt man vielleicht am besten mit dem dicken Ende. Die radikale Reform, auf die hier Wert gelegt wird, drängt nämlich nicht auf eine dramaturgische oder ästhetische Neuordnung. Vielmehr läuft das Ganze auf ein neues Bewusstsein für die göttliche Gnade im Gottesdienst hinaus. Diese Innovation verschließt sich Veränderungen nicht, aber verzichtet darauf, mit dem Projekt des »wahren Gottesdienstes« den religiösen Selbstbetrug fortzusetzen. Dieser besteht darin, Gerechtigkeit und Heiligkeit von der Überzeugungskraft religiöser Virtuosen und ihren Gebilden und nicht von Gott abhängig zu machen. Ebendiese Abhängigkeit von Gott gilt es aber zu wahren. Sie ist auf paradoxe Weise in den sakramentalen Feiern von Taufe (Tod und Leben) und Abendmahl (Verrat und Versöhnung) schon angelegt. Nicht ganz überraschend – er bezieht sich ja auf Barth! – kommt M. B. in seiner praktischen Aussicht wieder auf das Anliegen einer traditionellen Liturgie zurück. Aber unter ganz neuen Vorzeichen! In der Verdichtung und Konzentration der sakramentalen Vollzüge wird eine Chance für die Erneuerung des Gottesdienstes erkannt. In diesem Licht betrachtet, wird Anbetung von Anfang bis zum Ende von Gott her, also im Wissen geübt, dass die Verehrung Gottes einmal zu Ende geht, wenn die herrliche Freiheit der Kinder Gottes offenbar werden wird (Röm 8).
Auf dieses Ende hin ist M. B.s systematische Skizze angelegt und damit beginnt sie auch. Denn Michelangelos Erschaffung von Eva, die zentrale Szene an der Decke der Sixtinischen Kapelle, zeigt ein mythologisches Porträt der Menschheit, genauer: den Bruch mit Gott im Akt der Anbetung. Ursprünglich haben Intimität und Freundschaft mit Gott geherrscht, die weder Unterwerfung noch Rebellion kannten. Anfang und Ende berühren sich also! Die Urgeschichte dreht sich in dieser Protologie und Eschatologie verbindenden Interpretation letztlich um den Bruch mit der Freundschaft Gottes.

Anregend an dieser Sicht ist, dass rituelle Praktiken nicht als neutrale Formen angesehen werden, die Inhalte umhüllen. Vielmehr umhüllen und verhüllen Religion und Kult die wahre Natur des nackten Menschen. Dass Form und Inhalt des Gottesdienstes zwei Größen sind, die sich nicht in eine Innen-Außen-Hälfte trennen lassen, wird auch in den erwähnten gottesdienst-anthropolo­gischen Konzeptionen vertreten und in neueren ästhetischen Ansätzen propagiert. M. B. beharrt aber auch auf einer dezidiert theolo­gischen Sicht des Gottesdienstes als Form und Inhalt von Religion. Das Bestreben, einen wahren Kern der Anbetung vor der Kritik der religiösen Hülle zu retten, muss demnach scheitern. Auch der Gottesdienst selbst ist Religion und deshalb Gegenstand der theolo­gischen Kritik. Er gehört aber sowohl zur Kulturgeschichte des Menschen als auch zur Offenbarungs- und Heilsgeschichte Gottes.
Was auf den ersten Blick nach einer Dichotomie ausschaut – die steile Entgegensetzung von Gott und Religion – legt auf den zweiten Blick die Grundlagen für ein Gespräch, das die Beziehungen zwischen Ritual, Theater und Gottesdienst ernst nimmt, ohne die bestehenden Unterschiede einzuebnen und Gemeinsamkeiten zu leugnen. M. B. begreift rituelle Praktiken nicht als sekundäre Ausdrücke oder symbolische Modelle theologischer Ideen, sondern sieht in ihnen einerseits den Rohstoff der menschlichen Kultur und andererseits den Mittelpunkt der christlichen Theologie. Karl Barths Polemik gegen die Religion werde nur dann richtig verstanden, wenn man sie erstens als gegen das eigene Kirchen- und Chris­tentum gerichtet liest und diese Kritik zweitens im Lichte der Wende interpretiert, die sich in den frühen radikalen Schriften Barths implizit schon anzeigt. Die Umwandlung der Religion in Glauben wird konsequent gedacht, wenn sie exklusiv als von Gott und nicht als vom Menschen initiiert wahrgenommen wird.

Eine theologische Exegese von Gen 2 bestätigt diese Sicht. M. B. führt damit die Tradition einer theologischen Lektüre biblischer Texte fort, eine Methode, wie sie Karl Barth in seinem bahnbrechenden Römerbriefkommentar vorgeführt hat. Die Methode ist so anregend wie umstritten. Gegen sie ebenso wie für sie spricht, dass man biblische Texte mit einem bestimmten Interesse lesen kann, aber eben nicht lesen muss, und es durchaus möglich ist, dass dadurch ein Text wie Gen 2 – von Röm 5 her gelesen – neue Bedeutungen bekommt. Im Unterschied zur historischen Exegese, die dem Sinn des historischen Autors gerecht werden will, macht eine theologische Lektüre den Anspruch geltend, den Sinn der Texte für heutige (christliche) Leser aufzuspüren. Das sind freilich keine Gegensätze oder Alternativen. Biblisch-theologische Exegese ist auf die historisch-kritische (wie auch andere) Exegese(n) angewiesen, um nicht unversehens »Eisegesen« zu produzieren.

M. B. kann man diesen Vorwurf m. E. nicht machen. Seine Relektüre von Gen 2–4 kommt auf überraschende Aspekte zu sprechen, die durchaus im Horizont der jahwistischen Erzählstrategie ge­standen haben mögen. So macht etwa die Kainsgeschichte deutlich, wie sehr der Opferkult vom »do ut des« geprägt ist. Religion ist Tausch und widerspricht dem, was im Gottesverhältnis eigentlich zum Ausdruck kommen soll: Vertrauen, Liebe und Freundschaft. Und ebenso deutlich wird, dass der Mensch weder mit seiner Kultur (Turmbau) noch mit seinem Kult diese ursprüngliche Entfremdung überwinden kann. Nur Gott kann das.
Diese rechtfertigungstheologische Pointe führt zur zweiten Leitthese: Die Versöhnung mit der Religion geht auf die Initiative Gottes zurück. Gott beteiligt sich mit der Anbetung, um den Kontakt mit dem Menschen wieder herzustellen. Wo zwei oder drei versammelt sind, ist Jesus Christus anwesend. Christen beten nicht im eigenen Namen, sondern in Gottes Namen. Gott kommt dem Menschen und seiner Religion entgegen, indem er auf den Bruch mit seinem Bund antwortet. Er begleitet und leitet den Gottesdienst als Heiliger Geist (Röm 8).

Wieder zeigt sich: M. B. kommt über diese Umwege auf die Pointen der evangelischen und katholisch-konziliaren Gottesdiensttheologie: Dass Gott selbst im Gottesdienst dient (Peter Brunner) und die Liturgie Gottes Werk ist (SC 9), bildet sozusagen das dop­pelte Rückgrat der theologischen Liturgik. Originell ist M. B.s Verbindung der radikalen Religionskritik mit der Hochachtung für das göttliche Engagement in der Liturgie. Mit Blick auf Luther gesagt: Der Geschenkcharakter der Gerechtigkeit macht Gott wieder zum Subjekt. Denn die Grundlage der Rechtfertigung des Sünders ist Christi Gerechtigkeit. Luthers grundlegender reformato­rischer Durchbruch stellt auch die Anbetung wieder auf ein neues Fundament. M. B. warnt allerdings davor, falsche Schlüsse zu ziehen. Orthodoxie feit nicht vor der Sünde der Selbstgerechtigkeit. Der religiöse Mensch kann auch durch die Hintertür der protestantischen Religionskritik wieder auf die Bühne treten. Ebenso trägt die typisch reformierte Regung, den wahren Gottesdienst mit einer armen Ästhetik zu bekleiden und durch Beteuerungen der Demut vor der Hybris katholischer Prunksucht zu wahren, das Potential einer höchst vertrackten religiösen Selbstbehauptung in sich.

Anliegen dieses fulminanten Diskussionsbeitrags ist es, den Protestanten die inneren Auswirkungen der europäischen Reformation wieder bewusst zu machen. Das Buch ist in einem gewissen Sinne erzreformiert, insofern es starke Argumente für Theologie als Religionskritik vorträgt, aber es ist durch und durch ökumenisch, insofern es gerade darin jeglichen Konfessionalismus vermeidet und zur una sancta vorstößt. Die durchgängige Religionskritik ist also genuin religiös motiviert und deshalb weder einer religionslosen Philosophie noch einer unkritischen Religionstheorie zuzuordnen. M. B. bringt sowohl die radikale Kritik der Religion als auch die selbstkritische Einsicht, dass selbst der radikalste Kritiker ein homo religiosus bleibt, theologisch auf den Punkt: indem er das Kernanliegen der reformierten Theologie, soli deo gloria, zum Leuchten bringt. Last but not least: In der europäischen Theologie sind solche systematischen Skizzen eher unüblich. M. B.s brillant vorgetragene, freche und frische Sicht der Dinge finde ich höchst anregend.