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Ausgabe:

November/2009

Spalte:

1230–1232

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Ulrich von Straßburg

Titel/Untertitel:

De summo bono. Liber 4, Tractatus 2,15–24. Hrsg. v. B. Mojsisch u. F. Retucci. M. e. Vorwort v. L. Sturlese.

Verlag:

Hamburg: Meiner 2008. XVIII, 185 S. gr.8° = Corpus philosophorum Teutonicorum Medii Aevi, I,4,3. Lw. EUR 128,00. ISBN 978-3-7873-1742-4.

Rezensent:

Volker Leppin

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Nikolaus von Straßburg: Summa. Liber 2, Tractatus 3–7. Hrsg. v. G. Pellegrino. Hamburg: Meiner 2009. XVIII, 197 S. gr.8° = Corpus philosophorum Teutonicorum Medii Aevi, V,2,2. Lw. EUR 98,00. ISBN 978-3-7873-1752-3.
Heinrich von Lübeck: Quodlibet primum. Hrsg. v. M. Perrone. M. e. Einleitung v. L. Sturlese. Hamburg: Meiner 2009. XXIX, 290 S. gr.8° = Corpus philosophorum Teutonicorum Medii Aevi, IV,1. Lw. EUR 148,00. ISBN 978-3-7873-1747-9.


Das von Kurt Flasch und Loris Sturlese begründete Unternehmen des Corpus philosophorum Teutonicorum Medii Aevi stellt seit Jahren mit großer Zuverlässigkeit Texte bis dato wenig beachteter Denker des Mittelalters zur Verfügung. Aus ihnen ergibt sich ein immer plastischeres Bild intellektueller Zentren und der dortigen Bemühungen über die großen Namen hinaus. Zwei dieser großen Namen bilden die Eckpunkte der wichtigsten Bemühungen dieser Edition: Albertus Magnus und Meister Eckhart. Sie beide gehören in den Kontext der deutschen Dominikaner. Deren Denken, be­sonders die Neuplatonismusrezeption, soll in den vielen Ausgaben erhoben und der Forschung zugänglich gemacht werden. Insofern ist die Rede von »deutschen Philosophen« im Titel der Reihe, die für manchen Benutzer befremdlich wirken mag, auch eine Art Ge­genakzent zu der problematischen Rede von »deutscher Mystik«. Freilich hätte man nicht nur über die Konzentration auf eine Tradition deutscher Denker mitten im internationalen Mittelalter zu diskutieren, sondern auch über die Einengung auf Philosophie, die eher moderne Unterscheidungen von Theologie und Philosophie wi­derspiegelt als die denkerische Realität des Mittelalters.
Doch was immer man von den Grundentscheidungen der längst gut etablierten Reihe halten mag: Sie stellt Texte zur Verfügung, und dies in soliden Editionen, die durch Stellen- und Namenregister erschlossen sind.

Das Hauptwerk des Ulrich von Straßburg (1225 bis nach 1277), »De summo bono«, macht mit einem Schüler des Albertus Magnus vertraut. Das erste Buch dieser Schrift, das bereits 1989 ediert wurde, macht schon durch seine Überschrift De laude sacrae scripturae, deutlich, wie eng sich hierin theologische und philosophische Fragestellungen aufeinander beziehen. Die nun edierten Abschnitte aus dem vierten Buch behandelten das erste Hervorgehen des Vaters, das heißt die Schöpfung, die nun in typischer Mischform aus neuplatonischer und aristotelischer Reflexion dargelegt wird: Die emanatio des Seins wird unmittelbar auf die Unterscheidung in Substanz und Akzidens bezogen (3). Ulrich ist hier vom Liber de causis geprägt, aber auch und vor allem von seinem Lehrer Albert. Und es ist das unschätzbare Verdienst der von Burkhard Mojsisch begonnenen und von Fiorella Retucci zu Ende geführten Edition, diesen geistigen Zusammenhang offengelegt zu haben: Auf nahezu jeder Seite findet sich der Nachweis von Albert-Zitaten, vielfach ohne dass Ulrich selbst Zitation oder Anspielung kenntlich gemacht hätte. Dieselbe Sorgfalt zeigt sich bei den nicht ganz so häufigen Aristoteles-Anspielungen. Diese Edition führt also mitten hinein in ein intellektuelles Milieu, in dem Albert bereits zu einer maßgeblichen Größe geworden war und das Denken sich an ihm orientierte. Man kann auch sagen: Hier hat man Gestalten eines Albert-Bezuges, die anders ausgerichtet sind als Thomas von Aquin und damit für die weitere Vermittlung der – gerade im deutschen, Kölner Kontext – ja auf Jahrhunderte hinaus durchaus selbständigen Rezeption Alberts gesorgt haben.

In eine deutlich spätere Phase führt die Edition der Summa des Nikolaus von Straßburg, der vor allem durch seine Involvierung in den Eckhart-Prozess, in dem er die ersten Anklagen niederschlug, bekannt ist. Seine Summa, aus deren zweitem Buch nun vor allem die Fragen zur Bewegung vorgelegt werden, ist in ähnlicher Weise wie die Texte Ulrichs ein Dokument der regen Albert-Rezeption und auch, ebenfalls wie bei Ulrich, der Rezeption der großen arabischen Philosophen Averroes und Avicenna. Auch wenn man den Thesen Kurt Flaschs von einer Geburt der Mystik aus dem Geist der arabischen Philosophie nicht folgen will, sind diese Editionen ein starker Beleg für die Kraft dieses Diskurses im 13. und 14. Jh. Zugleich ist die Summe des Nikolaus auch ein Beleg für die ungeheure Gelehrsamkeit der Autoren der Zeit: Nach allem verfügbaren Wissen werden etwa die Planeten behandelt und charakterisiert oder Fragen nach der Bewegung des Herzens gestellt. Und dies alles auf höchstem methodischen Niveau: Bei Gelegenheit verweist Nikolaus sogar auf die unterschiedlichen Zählungen der Bücher in den Metaphysik-Übersetzungen des Aristoteles (60).

Daneben findet sich bei Nikolaus auch eine Thomas-Rezeption, die noch ausgeprägter bei Heinrich von Lübeck (ca. 1280–1336) zu finden ist, dessen Quodlibeta unmittelbaren Einblick in das geistige Leben am dominikanischen Ordensstudium in Köln in der Eckhart-Zeit geben. Heinrichs Thomismus wird dabei produktiv in aktuelle, auch thomaskritische Debatten eingebracht. Heinrich bemüht sich, den Wissenskosmos seiner Zeit in einen gemeinsamen Zusammenhang zu bringen: Der Bogen reicht ausdrücklich von der Theologie über die Metaphysik und die Naturphilosophie bis hin zu Astronomie und Medizin. Unter Gesichtspunkten heutiger theologischer Debatten verdient besonderes Interesse die Frage, ob Gnade und Ursünde zugleich, simul, im Menschen sein könnten, die Heinrich klar verneint (66). Schon diese quaestio macht zur Problemlösung gelegentlich von Aristoteles Gebrauch. Wie dieser in das theologische Denken hineingezogen wird, zeigt die ebenfalls hochinteressante Frage, ob sich nach Augustin ein Abbild der Trinität im intellectus possibilis finde (67 ff.): Die überlieferte trinitätstheologische Frage wird auf den mit dem entwi­ckelten Aristotelismus erreichten psychologischen und erkenntnistheoretischen Stand gebracht.

So belegen die Editionen den intellektuellen Reflexionsstand einer weitgehend vergessenen theologischen (und philosophischen) Tradition. Dass das Unternehmen so zügig und gründlich fortschreitet, ist ein großer Gewinn für die Erforschung der Geis­tesgeschichte des Mittelalters.