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Ausgabe:

November/2009

Spalte:

1227–1230

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Troeltsch, Ernst

Titel/Untertitel:

Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie (1922). 2 Teilbde. Hrsg. v. F. W. Graf in Zusammenarbeit m. M. Schloßberger.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2008. Teilbd. 1: XIX, 708 S. u. 16 Taf. m. Abb. Teilbd. 2: S. 709–1422. gr.8° = Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe, 16.1 u. 16.2. Lw. EUR 298,00. ISBN 978-3-11-016342-1.

Rezensent:

Hermann Fischer

Seit frühester Zeit kreist Troeltschs philosophisch-theologisches Werk um das Phänomen des Historismus. Der Terminus hat geradezu die Funktion eines Schlüsselbegriffs, dient gleichzeitig zur Beschreibung der Krise der modernen Welt und der Bewältigung ihrer Probleme. Der Versuch T.s, den infolge des modernen historischen Bewusstseins entfesselten Relativismus aller Phänomene des geistig-kulturellen Lebens durch die Gewinnung von Maßstäben und Normen zu bändigen und vor einem Abgleiten in eine »Anarchie der Werte« zu bewahren, lässt sich trotz unterschiedlicher Arbeitsschwerpunkte und mancherlei Modifikationen in konzeptioneller Hinsicht in allen Phasen seines Wirkens als thematische Mitte identifizieren. Der letzte von T. noch verantwortete (3.) Band seiner »Gesammelten Schriften«, kurz vor seinem frühen Tode (Februar 1923) im Dezember 1922 unter dem Titel »Der Historismus und seine Probleme« erschienen, verdeutlicht nicht nur das zentrale wissenschaftliche Interesse T.s, sondern auch die Last der sisyphusartig empfundenen Probleme und die – von resignativen Zügen nicht freie – Suche nach Wegen einer Lösung. Ein ursprünglich geplanter Titel verleiht dem Krisenbewusstsein stärkeren Ausdruck als der schließlich gewählte: »Der geistige Zerfall der Ge­schichte. Untersuchungen über Wesen und Entstehung des mo­dernen Geistes« (vgl. 31). Diese Monographie ist im Nachdruck immer noch erhältlich. Die neue, von F. W. Graf in Zusammenarbeit mit M. Schloßberger betreute Edition des Werkes in zwei Teilbänden im Rahmen der Kritischen Gesamtausgabe der Werke T.s zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass die Entstehungsgeschichte des Buches detailliert dargestellt und im laufenden Text dokumentiert wird.

Der Historismus-Band ist aus zwölf Vorträgen bzw. Aufsätzen entstanden, die nach ihrer Publikation zwischen 1916 und 1922 bereits Diskussionen ausgelöst hatten. Für die Aufnahme in den Historismus-Band hat T. diese Essays bearbeitet und dabei auch die darüber geführten Debatten mitberücksichtigt. Im »Editorischen Be­richt« werden diese zwölf Abhandlungen zunächst vorgestellt (86–124), im textkritischen Apparat dann die Veränderungen des gebotenen Textes gegenüber den Erstfassungen nachgewiesen. Vor allem in der Dokumentation dieses Arbeitsprozesses besteht die Leistung der vorgelegten Edition. Sie wird gleichgewichtig ergänzt durch den reichen Anmerkungsapparat, der die von T. oft nur kurz gegebenen Nachweise verifiziert, kommentiert und mit hilfreichen Textauszügen vervollständigt. Die kurze Zeit, die T. nach dem Erscheinen des Historismus-Bandes bis zu seinem Tod noch vergönnt war, hat dazu geführt, dass er nur noch wenige Anmerkungen in sein gedrucktes Handexemplar hat einfügen können, die ebenfalls im textkritischen Apparat aufgelistet werden. Der Herausgeber spricht im Editorischen Bericht (154) von neun Eintragungen; wenn ich nichts übersehen habe, sind es aber zwölf (179, Anm. f; 181, Anm. a; 204, Anm. b; 540, Anm. d; 882, Anm. b; 916, Anm. a; 918, Anm. e; 918, Anm. i; 960, Anm. b; 961, Anm. a; 962, Anm. a; 963, Anm. a). Dabei handelt es sich um Literaturnachträge, zum Teil mit Erläuterungen und Textpassagen aus der genannten Literatur.

T. hatte zwei Historismus-Bände geplant, erschienen ist aber nur das »Monu­mentalfragment« (1) des ersten Bandes, in dem »Das logische Problem der Geschichtsphilosophie« zur Diskussion steht. Hier geht es, wie T. im Vorwort schreibt, um die »begriffliche Grundlegung« der Geschichtsphilosophie (163), z. B. um das Prinzip und den Begriff der Individualität bzw. um die Kategorie der individuellen Totalität, um die Möglichkeit der Konstruktion von Wert- oder Sinneinheiten geschichtlicher Ereignisse, um den Entwicklungsbegriff oder um das Element des Schöpferischen. Im Mittelpunkt steht die Frage nach dem Verhältnis von historischer Relativität und steuernder Normativität, von Geschichte und Ethik. T. verhandelt das Problem aber nicht im Modus eines systematischen Entwurfs, sondern im Durchgang durch eine auf das Thema des Historismus zugespitzte Analyse geschichtsphilosophischer Entwürfe seit Beginn der Neuzeit bis zur Gegenwart. Das gilt vor allem für das II. und III. Kapitel des Buches mit über 700 Seiten (292–1007). Nur die beiden rahmenden Kapitel (I und IV) lassen einen stärker systematischen Zugriff erkennen.


Das I. Kapitel (169–291) entfaltet das Programm des Werkes. Nach einer Analyse der (damaligen) »Krisis der Historie« wird im 2. Abschnitt »Der moderne Ursprung der Geschichtsphilosophie« nachgezeichnet. Mit den beiden folgenden Abschnitten »Die formale Geschichtslogik« und »Die materiale Geschichtsphilosophie« skizziert T. die jeweiligen Schwerpunkte des ersten publizierten und des zweiten geplanten Bandes. Das IV. Kapitel »Über den Aufbau der europäischen Kulturgeschichte« (1008–1099) bereitet mit Umrissen einer Kultursynthese des Europäismus den zweiten Hi­s­torismus-Band vor, der dann die materiale Füllung, also die ethische Perspektive der logisch-begrifflich fundierten Geschichtsphilosophie zum Gegenstand gehabt hätte. Gerade das Umrisshafte der systematischen Konzeption und das breite Referat der ge­schichtsphilosophischen Entwürfe bereiten dem Verständnis des Werkes die oft diskutierten Schwierigkeiten.

Hier hätte die »Einleitung« des Herausgebers, die zusammen mit dem »Editorischen Bericht« fast 160 Seiten umfasst, Abhilfe schaffen können. Diese Chance ist aber leider nicht genutzt worden, die »Einleitung« und der »Editorische Bericht« müssen als verunglückt gelten und enttäuschen aus mehreren Gründen.

1. Graf beginnt seine Einleitung mit einem Abschnitt über »Werkgeschichtliche Kontexte« (1–32). Hier ist, wie schon die Überschrift signalisiert, mehr von den Kontexten als vom Historismus-Band selbst die Rede. Es wird über einschlägige Arbeiten T.s aus der Bonner und der frühen Heidelberger Zeit berichtet (5 ff.), über T.s Berufung nach Berlin (21 ff.) oder über seine Seminare in Berlin und die Seminarteilnehmer, die später Rang und Würden erlangt haben wie etwa Ludwig Marcuse, Hans Jonas, Hans Zehrer, Erich Auerbach oder Richard Friedenthal (26–30). Das alles ist außerordentlich interessant, und jeder Philosophie- oder Kulturhistoriker würde beglückt sein, diese Ausführungen in einer eigenen Studie über T.s Berliner Wirksamkeit lesen zu können, für die Erschließung des Historismus-Bandes aber tragen sie nichts aus.

2. Im zweiten Abschnitt »Zu Inhalt und Aufbau des Ersten Buches von ›Der Historismus und seine Probleme‹« (32–70) bietet Graf ein Kurzreferat über die Fragestellung und die vier Kapitel des Historismus-Bandes, ohne aber die grundsätzlichen Fragen und Probleme zu erörtern, die das Studium des Werkes aufwirft. Stattdessen wird erneut über T.s Seminartätigkeit, die Seminarteilnehmer und verschiedene Gesprächspartner T.s informiert (43–49). Wohl erfährt man, dass T.s Konzeption einer »Kultursynthese des Europäismus« seine Antwort auf M. Webers »Polytheismus der Werte« (34 f.) und die Gegenformel zu O. Spenglers »Untergang des Abendlandes« darstellt (59), aber die entscheidende Frage nach Be­deutung, Funktion und Stellenwert des Historismus-Bandes im Zusammenhang des philosophisch-theologischen Systems, also seines Verhältnisses zur Religionsphilosophie und zur Ethik T.s, wird weder gestellt noch erörtert. Oder anders: Worin besteht der substantielle Erkenntnisfortschritt des neuen geschichtsphilosophischen Entwurfs gegenüber den referierten geschichtsphilosophischen Positionen? Was ist die Quintessenz des Werkes?

Und weiter: Was bedeutet es, dass T. innerhalb kurzer Zeit die Grundkräfte für den Aufbau einer Kultursynthese unterschiedlich be­stimmen kann? Während er in seinem Aufsatz »Deutsche Bildung« (1918/19) als Grundelemente von Kultur und Bildung erstens »Antike, Humanismus oder Klassizismus«, zweitens »das Christentum« und drittens die »nordisch-germanische Welt des Mittelalters« nennt (Troeltsch-KGA Bd. 15, 178 f.), sind für den Aufbau einer Kultursynthese des Europäismus im Historismus-Band vier Grundkräfte entscheidend, »der hebräische Prophetismus und die hebräische Bibel«, »das klassische Griechentum«, »die Welt des antiken Imperialismus« und »unser abendländisches Mittelalter« (1090–1093). Graf erwähnt diese Differenzen (54–66), aber er geht nicht auf die Probleme ein, die sich damit stellen. Wenn schon ein einzelner Forscher an dieser folgenreichen Weichenstellung trotz mancher Überschneidungen variabel disponieren und also relativierend verfahren kann, wie sollte sich dann ein allgemeiner Konsens über eine europäische Kultursynthese erreichen lassen? Hier und in manch anderer Hinsicht vermisst der Leser Aufklärung und Wegweisung. Natürlich kann man von einer »Einleitung« nicht eine Klärung der schwierigsten Probleme der Troeltsch-Forschung erwarten, aber statt der vielen interessanten, für den Historismus-Band allerdings nicht einschlägigen Ausführungen wären in einem so umfangreichen einleitenden Text die Skizzierung substantieller Themen des fragmentarischen Gesamtsystems und vielleicht auch Leitlinien in Richtung einer Lösung der schwierigen Verstehensfragen hilfreich gewesen.

3. Der »Editorische Bericht« ist mit über 70 Seiten aus den Fugen geraten. Im editorischen Bericht erwartet der Leser Informationen über Gegenstand und Umfang des zu edierenden Textes, über editorische Entscheidungen und über verfahrenstechnische Maßnahmen, die eine kritische Überprüfung des Vorgehens ermöglichen. Insofern kann der »Editorische Bericht« – in der Regel – kurz ausfallen. Nun gehört es zu den Besonderheiten der Troeltsch-KGA, dass die Herausgeber sich hinsichtlich der Editionsprinzipien für ein weites Verständnis von »Editorischem Bericht« entschieden und ihm auch die Aufgabe zugewiesen haben, »über Entstehung, Entwicklung und Überlieferungslage sowie über editorische Entscheidungen« zu informieren. Aber auch unter solcher Vorgabe kann man sich entweder auf das Notwendige konzentrieren oder der Überfülle huldigen. Graf tendiert zu Letzterem. Es dient kaum dem Verständnis des Werkes, wenn dem Leser in dem Abschnitt über »Entstehung, Textgenese und Drucklegung der zwölf Erstfassungen« (86–124) seitenlange Passagen über die Resonanz auf die Entstehung (124–133) und die Drucklegung des damaligen Historismus-Bandes (133–153) geboten werden; da geschieht des Guten oder auch weniger Guten zu viel – im Unterschied zu den wirklich wichtigen Ausführungen zum editorischen Verfahren in den Ab­schnitten »4. Die Einträge im Handexemplar« und »5. Editorische Entscheidungen« (154–157).

Abgesehen von diesen kritischen Einwendungen ist der Band selbst aber vorzüglich ediert, zumal mit den sehr aufschlussreichen 16 Faksimile-Tafeln gleich zur Eröffnung. Auf Grund der im textkritischen Apparat und in den Kommentaren gebotenen Materialien lässt sich die Entwicklung der Gedanken T.s über das Problem des Historismus in seiner Berliner Zeit genauestens rekonstruieren. Von gleich hoher Qualität wie die Präsentation der Texte sind die minutiösen »Biogramme« (1101–1140), das Literaturverzeichnis und die Register. Ob und wieweit der Historismus-Band noch einmal dasjenige Interesse auszulösen vermag, das ihm einst zuteil geworden ist, wird man freilich angesichts der fortschreitenden Globalisierung und der dadurch ausgelösten Probleme, auch in religiöser Hinsicht, skeptisch einschätzen müssen. Aber als Dokument eines zu einer bestimmten Zeit formulierten grundlegenden Problems des modernen Bewusstseins und der geistesgeschichtlichen Wirkungen behält der Historismus-Band seinen Rang und seine Bedeutung.