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Ausgabe:

November/2009

Spalte:

1219–1223

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Titel/Untertitel:

Calvinismus. Die Reformierten in Deutschland und Europa. Hrsg. v. A. Reiß u. S. Witt. Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums Berlin und der Johannes a Lasco Bibliothek Emden. Ausstellungskatalog Buchhandelsausgabe.

Verlag:

Dresden:Sandstein Verlag 2009. 444 S. m. zahlr. Abb. 4°. Lw. EUR 48,00. ISBN 978-3-940319-65-4.

Rezensent:

Johannes Schilling

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Strohm, Christoph: Johannes Calvin. Leben und Werk des Reformators. München: Beck 2009. 128 S. m. 3 Abb. u. 2 Ktn. kl.8° = Wissen in der Beck’schen Reihe, 2469. Kart. EUR 7,90. ISBN 978-3-406-56269-3.
Link, Christian: Johannes Calvin. Humanist, Reformator, Lehrer der Kirche. Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2009. 76 S. m. Abb. 8°. Kart. EUR 13,20. ISBN 978-3-290-17510-8.
Bernoulli, Peter Ernst, u. Frieder Furler [Hrsg.]: Der Genfer Psalter – eine Entdeckungsreise. 2., rev. Aufl. Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2005. 339 S. m. Abb. 8°. Kart. EUR 32,00. ISBN 978-3-290-17226-8.


Das Calvin-Jubiläum hat bereits eine beachtliche Anzahl von Publikationen hervorgebracht, und es steht zu erwarten, dass diese im Lauf des Jubiläumsjahrs und in seinem Nachgang zunehmen wird. Schon jetzt haben wir jedenfalls eine vorzügliche kurze Darstellung von Leben und Werk des Reformators und den Katalog der Berliner Ausstellung, der zu einem Handbuch zur Sache werden wird.

128 Seiten sind nicht viel Raum, ein Bild von Leben und Werk des neben Martin Luther bedeutendsten Reformators zu entwerfen. Christoph Strohm, Professor für Kirchengeschichte in Heidelberg, ist das ausgezeichnet gelungen. Präzise, dichte Information und besonnenes Urteil in klarer, unprätentiöser Sprachgestalt – was möchte man mehr?

Strohm stellt Calvin als einen humanistisch und juristisch geprägten Reformator dar, dazu als einen zeitlebens Verfolgten bzw. Exilierten. Seit 1533/34 ist er der Reformator, der in seiner Straßburger Zeit 1538–1541 mit und durch Bucer zu »Calvin« wird. In den einzelnen Kapiteln werden im Rahmen der chronologisch geordneten Darstellung die Hauptschriften Calvins und die Hauptgedanken seiner Theologie benannt und behandelt, die In­stitutio in ihren Fassungen von 1536 und 1559, die reiche Predigttätigkeit (ein Verzeichnis von 1564 umfasst nicht weniger als 2040 Predigten Calvins; 94 f.), die zahlreichen Schriftauslegungen und Kommentare – Calvin »war zuallererst Schriftausleger« (95). Dabei finden das Verständnis des Abendmahls, die Ordnung der Kirche, Theorie und Praxis der Kirchenzucht, die Calvin und seinen Zeitgenossen die größte Beschwer bereitete, die Auseinandersetzungen mit den Gegnern Caroli, Castellio und Bolsec und der Kampf gegen Michael Servet, der für diesen tödlich endete, gebührende Aufmerksamkeit. (Stefan Zweig hat mit seinem Roman »Castellio ge­gen Calvin oder ein Gewissen gegen die Gewalt« 1937 ein historisch ungerechtes, aber für seine Zeit und über sie hinaus engagiertes Plädoyer für die Humanität verfasst.) Besonderes Gewicht legt Strohm mit Recht auf Calvins Stellung zur Obrigkeit, auf Unterscheidung und Zusammenwirken zwischen geistlichem und weltlichem Regiment.

Als Schlüssel für das Verständnis Calvins nennt Strohm mehrfach einen »außergewöhnlichen Gestaltungswillen« (67 u. ö., vgl. 76 f.119) auf Grund außergewöhnlicher Fähigkeiten – mit allen Konsequenzen, die solche Außergewöhnlichkeit bei sich hat. Calvin war ein Schüler Luthers, und er hat von und mit Bucer und Melanchthon gelernt. Plausibel finde ich, dass Strohm – im Gegensatz zu einer »Fixierung auf die innerprotestantischen Differenzlehren« (110) – immer wieder »die bleibende Nähe« (106) Calvins zu Luther unterstreicht: »Mit Luther und Bucer zurück zu Paulus und Augustin« (106) lautet die entsprechende Überschrift. Gleichwohl gibt es, wie bekannt, signifikante und charakteristische Differenzen im Verständnis des Abendmahls, des Gesetzes, des Verhältnisses von Gesetz und Evangelium und desjenigen von Lehre und Leben. Aber – das machen Strohms Ausführungen in aller Kürze hinreichend deutlich – Calvins Lebens- und Denkkontexte waren andere als jene Luthers, und aus den neuen Kontexten ergaben sich auch neue Konzepte und Formierungen von Lehre und Leben.

Das Buch endet mit Skizzierungen von »Ausbreitungslinien« und »Kulturwirkungen«, in denen die Dynamik, die Calvin und der »Calvinismus« in Kirche und Gesellschaft erzeugten, umrissen wird. Ein Epilog führt Gründe der Wirkmächtigkeit an und gibt Calvin das letzte Wort: »nur das erkenne ich, dass durch die Gotteskraft des Geistes Leben vom Himmel auf die Erde herabströmt ...« (121). Literaturverzeichnis, Personenregister und zwei Karten (Der Calvinismus im Deutschen Reich um 1618; Der Calvinismus in Europa um 1618) können den Leser weiterführen, von einem Buch aus, das man getrost als Vademecum bezeichnen darf.

Von etwas anderem Zuschnitt ist das kleine Buch des emeritierten Bochumer Systematikers Christian Link, das der Autor selbst als »Skizze« (68) bezeichnet. Auf 76 Seiten bietet er eine knappe, in zwei Teile gegliederte Darstellung: I. Lebenslauf (6–19); II. Der Reformator Westeuropas: Seine Theologie und seine Zeit (20–72). Insgesamt 18 Abbildungen dienen der Illustration der Ausführungen.

Im ersten Teil erzählt Link Calvins Leben im Präsens historicum nach, mit einigen aussagekräftigen Zitaten aus seinen Schriften und Briefen. Schwerpunkte bilden hier die subita conversio und die Institutio. Die Darstellung endet, ziemlich abrupt, mit der Rück­kehr Calvins nach Genf; von seinem späteren Wirken in der Stadt liest man nichts mehr, und man erfährt nicht einmal Jahr und Tag seines Todes.

Links zum Teil meinungsstarke (vgl. etwa 32) Ausführungen, die gelegentlich auch gegenwärtige Fragen berühren (57.60 f.68), rekurrieren besonders auf einige spezifische Themen von Calvins Theologie: Vorsehung und Erwählung, Bund, Kirche, Eschatologie und Ethik. Dabei führt er einige Schlüsseltexte ein: Inst I 1, Inst III 9 als »Schlüssel der Theologie Calvins« (47) sowie wiederholt den Brief an Sadolet. Das Interesse von Link liegt darin, die Stärken von Calvins Anliegen, den Zusammenhang von Glauben und Lebensvollzug, zu betonen und die »Modernität« des Calvinismus herauszustellen (54). Dabei findet er zum Teil prägnante Formulierungen; so bezeichnet er etwa Calvin als den »ersten Ökumeniker des Pro­tes­tantismus« (41) oder als einen »Anwalt der Erde« (51), gerade wegen seiner Ausrichtung auf die vita futura. Calvin habe, im Unterschied zur landläufigen Meinung, keine Theokratie angestrebt (66), aber: »Die ›geglaubte‹ Kirche drängt mit innerer Notwendigkeit auf ihre Realisierung in einer sichtbaren und erfahrbaren Kirche« (61 f.).

Nicht immer freilich scheint Calvin das Erstgeburtsrecht zuzukommen, das Link ihm geben möchte. Dass er »die erste kontextuelle Theologie Europas« (24) entworfen habe, hört sich zwar gut an, ist aber wenig glaubhaft. Und Luthers Blick war keineswegs nur auf Deutschland gerichtet (gegen 39). Das Konzil von Trient wurde 1545 (nicht 1544, so 21) eröffnet, und die lutherischen Lehrkontroversen nach 1546 werden auch nicht ganz zutreffend eingeschätzt (ebd.). Marguerite (14) von Navarra ist mit Margarethe (27) identisch. Zitate aus den Quellen und der Literatur sind leider nicht immer nachgewiesen (19.29), und die Skizze käme auch ganz gut ohne die zitierten Lesefrüchte aus der Sekundärliteratur aus. Die wenigen Satzfehler sind in keinem Fall sinnentstellend. Die Bildnachweise verzeichnen zwar, woher die Vorlagen stammen, bieten aber keinen Ersatz für nicht vorhandene, aber wünschenswerte Legenden zu den Abbildungen.

Als Erstbegegnung mit Calvin ist das Buch weniger zu empfehlen; es eignet sich eher für Leser, die mit dem Leben und Werk Calvins bereits einigermaßen vertraut sind (und etwa im Anschluss an die Lek­türe von Strohms Einführung). Seine Stärken liegen darin, Calvins Anliegen verständlich zu machen und seine theologischen und kirchlichen Optionen mit begründetem Nachdruck zu ver­treten.

Ausstellungskataloge haben sich in den letzten 30 Jahren zu Handbüchern über ihre Gegenstände entwickelt. Das ist auch bei dem zu besprechenden Katalog der Fall. Er bietet nicht nur Objektbeschreibungen und Abbildungen der vom 1. April bis 19. Juli 2009 im Deutschen Historischen Museum in Berlin gezeigten Stücke, sondern eine ganze Anzahl von Essays, die aus einem Kolloquium im Rahmen der Vorbereitung der Ausstellung hervorgegangen sind und den Band zu einem beachtlichen Beitrag zur Forschung werden lassen. Der Katalog war eine hilfreiche Anleitung für Besucher der Ausstellung. Aber als Buch ist er dauerhafter und bietet mehr, als jene bieten konnte: neben Abbildungen von Stücken, die in der Ausstellung nicht gezeigt werden konnten, vor allem die wissenschaftlichen Beiträge. Sie sind von ausgewiesenen Kennern ihrer Materie verfasst; es gibt Berührungen mit deren früheren und gegenwärtigen Publikationen, etwa mit dem von Hermann Selderhuis herausgegebenen Calvin-Handbuch (Tübingen 2009).
Nach einer Einführung unter dem Titel »Glaubensunruhe«, in der Jan Hus, der Religionskrieg in Frankreich und der Streit zwischen den Konfessionen um die wahre Religion behandelt werden, ist das Korpus des Katalogs in acht Abteilungen gegliedert: I. Calvin und Genf, II. Das Bekenntnis, III. Die reformierten Allianzen in Europa; IV. Disziplin und Republik; V. Bildersturm und neue Bilderwelten; VI. Das Wort Gottes; VII. Die neue Ordnung des Lebens; VIII. Traditionen. Ein Anhang enthält u. a. eine Übersichtskarte über den Calvinismus in Europa, Stammtafeln, ein ausführliches Literaturverzeichnis und ein Register.

Auf die ausgestellten Objekte kann hier nicht eingegangen werden. Sie bieten nach Art und Anzahl gute Überblicke über die verschiedenen Themenfelder. Die Ausstellungsmacher waren be­müht, Gegenstände zu finden und zu zeigen, die das Thema möglichst anschaulich werden lassen: Gemälde und Porträts, vasa sacra und Abendmahlsmarken, Büsten und Kirchenmodelle. Naturgemäß nehmen Bücher und Manuskripte den größten Raum ein. Manche Stücke waren schon 1998 in Münster und Osnabrück bzw. 2005 in Augsburg zu sehen; anderes ist neu und überraschend. Besonders eindrucksvoll sind etwa immer wieder die Darstellungen der Sakramente (VI. 47 und 48; 334–336) oder »Der Friede mahnt zur Toleranz« (III. 48).

Bleibend wertvoll wird der Band durch seine Rundblicke durch Territorien und Regionen des Reiches und Europas. Joachim Bahl­cke schildert den Calvinismus im östlichen Europa und zeichnet »Entwicklungslinien des reformierten Typus der Reformation vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart« (196–203); Eike Wolgast be­handelt reformierte Territorien und Dynastien im Alten Reich. Beiträge über die Niederlande, England und Schottland, zu Kirchenordnung, -zucht und Lebensstilen bereichern das Gesamtbild.

Im engeren Sinne kirchen- und theologiegeschichtliche Beiträge stammen u. a. von Jan Rohls, Calvinismus und Philosophie (37–42); Irene Dingel, Schwerpunkte calvinistischer Lehrbildung im 16. und 17. Jahrhundert (90–96); Irena Backus, Loci communes oder »Hauptsätze«. Ein Medium der europäischen Reformation bei Calvin, Vermigli und Bullinger (97–103) sowie Heinz Schilling, Peregrini und Schiffchen Gottes. Flüchtlingserfahrung und Exulantentheologie des frühneuzeitlichen Calvinismus (160–168). – Klaus Merten, Der Kirchenbau der Reformierten (296–303), geht auf die Besonderheiten reformierter temples und Kirchen ein, nach Regionen unterschieden und in diachroner Perspektive. Dabei schenkt er insbesondere der Stellung der Abendmahlstische und der Kanzeln Aufmerksamkeit. An die Stelle der Bilder traten gegebenenfalls Zehn-Gebote- und Abendmahlstafeln (von denen einige in der Ausstellung zu sehen waren und im Katalog besprochen sind). – Alfred Rauhaus, Abendmahlstheologie und die Gestaltung des liturgischen Raums (304–309), gibt Beispiele für die bemerkenswerte Tatsache der gelegentlich anzutreffenden Unterscheidung zwischen Predigt- und Abendmahlsraum innerhalb der Kirchen und für die sitzende Kommunion. – Christoph Strohms Beitrag »Calvins theologisches Profil. Humanistische, juristische und theologische Prägungen« (82–89) ist eine schöne Ergänzung zu seinem Buch über den Reformator. – Ein kräftiges Plädoyer für die Reformierten erhebt schließlich Wilhelm Hüffmeier, der »Das reformierte Erbe in den kirchlichen Unionen des 19. Jahrhunderts«, insbesondere in Preußen, darstellt (219–224).

Der Sandstein Verlag, der sich schon mit den Katalogen zu der sächsischen Landesausstellung »Glaube und Macht« empfohlen hatte, hat seiner herstellerischen und verlegerischen Kompetenz auch mit diesem Band ein vorzügliches Zeugnis ausgestellt.

Einen besonderen Aspekt des Calvinismus behandelt das Buch über den Genfer Psalter, das die Leser auf eine Entdeckungsreise vom 16. Jh. bis in die unmittelbare Gegenwart führt. Der Band ist reichhaltig; es wird in ihm nicht weniger als die weltweite Wirkung der Psalmen(um)dichtung Clement Marots und Theodor Bezas vorgeführt, für den deutschsprachigen Bereich insbesondere der Psalter Ambrosius Lobwassers (1515–1585), dessen 1565 fertiggestellte Übersetzung 1573 zuerst im Druck herauskam. Der Hans-Jürg Stefan gewidmete Band ist in erster Auflage 2001 erschienen; die zweite, revidierte Auflage ist durch ein Personenregister bereichert. 29 Autorinnen und Autoren aus der Schweiz, Frankreich, den Niederlanden, Norwegen und Deutschland behandeln in teils knappen, teils ausführlicheren Beiträgen zahlreiche Fragenkomplexe um den Genfer Psalter und seine Wirkungen; dazu gibt es auch Kompositionen von Arthur Eglin über Psalm 1 für einstimmigen Chor und vier Posaunen und eine Choralfantasie über Psalm 42 für Orgel von Daniel Glaus.

Dieses Buch ist ein ausgesprochen nützliches Gebrauchsbuch – wer sich kurz und knapp orientieren möchte, findet in Übersichten, Biographien von Komponisten und Textdichtern rasch und in gebotener Kürze das Gewünschte. Neben Beiträgen zu einzelnen Regionen geht es auch um Illustrationen, um Metrisches, um Aneignungen des Psalters in der Literatur und um spezifische Leseweisen. Besonders hervorheben möchte ich die Übersicht von Ro­bert Weeda über die Rezeption des Genfer Psalters im 16. Jh. sowie Peter Weltens Beitrag »Psalmen in der Synagoge und in der Kirche – eine Reise durch unwegsames Gelände«, der auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede hinweist und Gemeinden und deren Leitung sensibel machen möchte.

Die meisten Beiträge enthalten bibliographische Angaben und Anmerkungen mit weiterführenden Literaturangaben. Bedauern kann und wird man, dass zahlreiche Zitate in den Ausführungen nicht nachgewiesen sind. Der besondere Wert des Buches liegt darin, vielfältige Formen der Auslegung dieses besonderen Buches der Heiligen Schrift vorzuführen und seinen Lesern und Benutzern zu einem kenntnisreichen lebendigen Umgang mit einem Hauptwerk reformatorischer geistlicher Literatur zu verhelfen.