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Ausgabe:

November/2009

Spalte:

1217–1219

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Rüttgardt, Antje

Titel/Untertitel:

Klosteraustritte in der frühen Reformation. Studien zu Flugschriften der Jahre 1522 bis 1524.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2007. 378 S. gr.8° = Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte, 79. Lw. EUR 68,00. ISBN 978-3-579-01645-0.

Rezensent:

Hellmut Zschoch

Der Austritt aus dem Kloster war in den frühen Jahren der Reformation neben der Priesterehe die wohl deutlichste Gestalt einer lebensgeschichtlichen Symbolhandlung, die sowohl die Zustimmung zu zentralen Inhalten »evangelischer« Theologie als auch die Bereitschaft zum Bruch mit herkömmlicher kirchlicher Ordnung signalisierte. Gerade weil sich im Blick auf das monastische Leben rechtliche Normen, soziale Erwartungen und religiöse Vorstellungen durchdrangen, stieß das Phänomen der Klosteraustritte auf ein lebhaftes öffentliches Interesse, sowohl als allgemeine Erscheinung als auch im Blick auf den Einzelfall. In ihrer von Johannes Schilling angeregten und betreuten Kieler Dissertation wendet R. sich den Einzelfällen zu, indem sie eine spezielle Textgattung der frühen Reformationszeit betrachtet: Immer wieder haben ehemalige Mönche und Nonnen ihren Klosteraustritt in Flugschriften gerechtfertigt und damit ihren individuellen Weg in die reformatorische Bewegung als Ganze eingezeichnet. Anhand solcher Publikationen fragt R. nach der Lutherrezeption in den Klöstern, nach den biographischen Faktoren für die Klosterflucht, nach religiösen, sozialen und rechtlichen Implikationen und nach Selbstverständnis und Situation der Betroffenen. Dabei weist sie darauf hin, dass Luthers De votis monasticis iudicium (1521) gerade mit dem vorangestellten autobiographischen Brief an den Vater für derartige Publikationen vorbildhaft wirkte.

In den Jahren 1522 bis 1528 macht R. acht Publikationen aus, mit denen ehemalige Mönche und Nonnen ihren Klosteraustritt rechtfertigen: Den Anfang macht die 1522 in Wittenberg erschienene »Handlung, wie es einem Predigermönch zu Nürnberg mit seinen Ordensbrüdern von wegen der evangelischen Wahrheit gangen ist« des Nürnberger Dominikaners Gallus Korn. 1523 erscheinen dann die Rechtfertigungsschriften des Alpirsbacher Benediktiners und nachmaligen Konstanzer und Württemberger Reformators Am­brosius Blarer, des Basler Franziskaners Johannes Schwan, des in Wittenberg promovierten Braunschweiger Benediktiners Gottschalk Kruse, des Eisenacher Kartäusers Heinrich Plunder und die beiden lateinischen Apologien des französischen Franziskaners Franz Lambert von Avignon. 1524 wird mit Luthers Vorrede die Geschichte der aus dem Kloster Neu-Helfta in Eisleben entwichenen Florentina von Oberweimar publiziert, 1528 schließlich die »Ursach des verlassenen Klosters zu Freiberg« der Herzogin Ursula von Münsterberg.

R. wählt die Schriften von Kern, Blarer, Kruse und der Floren­tina für eine eingehendere Betrachtung aus, weil sie »starke autobiographisch-retrospektive Anteile« enthalten. »Des weiteren entstammen die ausgewählten volkssprachlichen Schriften dem gleichen Entstehungszeitraum (1522–1524), sie repräsentieren ein ver­gleichs­weise breites geographisch-politisches Spektrum … und sind bis auf eine Ausnahme von Vertretern der alten Orden verfasst, deren Verhältnis zur Reformation bisher wenig erforscht ist.« (57) Die Reduktion eines mit acht Publikationen nicht ganz unübersichtlichen Quellenkomplexes auf vier überzeugt nicht wirklich, erweist sich aber angesichts der von R. dann praktizierten Behandlung der Texte als arbeitspragmatisch unumgänglich. R. untersucht die von ihr ausgewählten Quellen eingehend im Blick auf die Voraussetzungen in der Person der Autors oder der Autorin und hinsichtlich der historischen Hintergründe; sie erhellt jeweils die eigentliche Austrittsgeschichte, betrachtet die Flugschriften nach Form und Inhalt und erhebt abschließend die Haltung gegenüber dem Klosterleben. Diese vier Analysen bilden das Hauptstück des Buches; dabei verbindet R. ausgedehnte und minutiöse historische Recherchen durchweg mit einer ausführlichen Nachzeichnung des Inhalts der Schriften.

So entsteht ein präzises und farbiges Bild individueller Entscheidungssituationen in der frühen Reformationszeit, dessen Einzelzüge nicht rezensierend referiert werden können, sondern gelesen werden wollen – und sich mit großem Gewinn lesen lassen. Bisweilen lenkt die Fülle kleinteiliger historischer Recherchen freilich von der Konzentration auf die reformatorische Konstellation ab; die Frage nach den religiösen Triebkräften und theologischen Motiven und nach ihrer Bedeutung für die Entscheidung zum Klos­teraustritt und für die öffentliche Kommunikation über diesen biographischen Bruch bleibt eigentümlich blass in Relation zur Menge biographischer und kloster- und territorialgeschichtlicher Informationen und zu manchen Redundanzen in der Wie­dergabe des Inhalts der Publikationen.

Die vier Fallstudien bündelt R. knapp in Vergleich und Ausblick (317–329), indem sie der »individuellen Komponente« »strukturelle Gemeinsamkeiten« an die Seite stellt (317). Sie betont dabei einerseits die für alle Autoren und Autorinnen nachweisbare »befreiende und erkenntnisfördernde Wirkung« von Luthers De votis monas­ticis iudicium (324), andererseits findet sie diese Gemeinsamkeiten in den Konfliktkonstellationen, in denen es zu einer die Gewissen belastenden Konkurrenz der monastischen Gehorsamsverpflichtung mit der »absoluten Autorität des Wortes Gottes bzw. der göttlichen Gebote« kommt (325). Auch wenn die dem Gehorsamsproblem »korrespondierende Freiheitsthematik ausdrücklich nur in zwei Texten« (326) auftaucht (Blarer, Lambert von Avignon), würde es sich anbieten, die Klosterfluchtpublikationen anhand des Freiheitsgedankens auch theologisch deutlicher zu analysieren. Die von R. geleistete Vorstellung individueller biographischer und publizistischer Konstellationen ließe sich dann womöglich noch deutlicher in den raschen Wandel theologischer Orientierung und religiöser Praxis in der frühen Reformationszeit einzeichnen. Das lockere Band, mit dem der Schlusssatz des Buches die Einzelstudien miteinander verbinden möchte, ließe sich dann wohl etwas fester zurren: »Der freiwillige … Klosteraustritt stellt sich auch als ein Akt der Emanzipation und Selbstabgrenzung der Betroffenen dar, in dem nicht zuletzt das Bedürfnis nach religiöser Individualität zum Ausdruck kommen dürfte, das seit der Reformation einen essentiellen Bestandteil evangelischer Identität darstellt.«