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Ausgabe:

November/2009

Spalte:

1209–1212

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Tóth, Franz

Titel/Untertitel:

Der himmlische Kult. Wirklichkeitskonstruktion und Sinnbildung in der Johannesoffenbarung.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2006. XII, 613 S. m. Abb. u. Tab. gr.8° = Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte 22. Geb. EUR 58,00. ISBN 978-3-374-02427-8.

Rezensent:

Hansgünter Reichelt

Paul Watzlawicks Frage aus dem gleichnamigen Buch »Wie wirklich ist die Wirklichkeit?« stellt Franz Tóth an den Beginn seiner Untersuchung, da diese Formulierung in kürzester Form eine äußerst komplexe und gegenwärtig vielfach diskutierte Fragestellung verschiedenster Wissenschaftsdisziplinen zusammenfasst. Ausgehend von der Einsicht, dass Erkennen von Wirklichkeit im­mer einen interpretativen oder konstruktiven Charakter besitzt, ergibt sich für T. die Aufgabe, über Grundlagen, Voraussetzungen und Konstituenten der Wirklichkeitskonstruktion näherhin nachzudenken. Dafür bietet sich ihm der Kult als eine grundlegende Form der Daseinserhaltung und zugleich als eine Wirklichkeit schaffende Begegnung mit dem Göttlichen an. So stellt sich T. die Aufgabe, anhand kultrelevanter Texte in der Johannesoffenbarung die sich darin offenbarende Wirklichkeitskonstruktion nachzuzeichnen.

Diesem Ziel dienen die sieben Hauptkapitel seiner Arbeit, wobei der Schwerpunkt in der motiv- und religionsgeschichtlichen Analyse der betreffenden Texte in der Offb liegt (Kapitel 5). Zuvor folgen auf ein erstes einleitendes Kapitel (»Hermeneutisch-methodische Grundlagen«) eine Darstellung des Problemhorizonts (Kapitel 2), eine ausführliche zeitgeschichtliche Situationsanalyse (Kapitel 3) sowie Überlegungen zur Gesamtstruktur der Offb (Kapitel 4). Im Anschluss an die Textinterpretationen und Analysen der jeweiligen kultischen Motive innerhalb der Johannesoffenbarung (Kapitel 5) fasst T. in einer systematischen Analyse seine Beobachtungen zusammen (Kapitel 6) und beschließt sein Werk mit einem 7. Kapitel »Der himmlische Kult als Wirklichkeitskonstruktion«. Die vorliegende Monographie stellt die überarbeitete Fassung einer von Udo Schnelle betreuten und im Wintersemester 2005 von der Theologischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg angenommenen Dissertation dar.

Zu Beginn seiner Untersuchung geht T. dem Kultbegriff und seinen unterschiedlichen Implikationen nach. Dabei gelangt er zusammenfassend zu folgender eigenen Kultdefinition: »Kult ist ein aktionales und kognitiv-emotionales Erfahrungs-, Deutungs- und Orientierungsfeld, in dem durch Konzipierung und transpersonale Verfestigung tradierter Symbole, Handlungsanweisungen (Riten) und Raum- und Zeitstrukturen die individuellen und gesamtgesellschaftlichen Kontingenzen wie auch die (unverfüg­bare) Gottespräsenz in der Konstruktion der (heiligen/sozialen/ transzendenten) Wirklichkeit in personaler Verarbeitung und in­terpersonaler Vermittlung sinn- und handlungsrelevant bewältigt werden.« (19) Zur Erschließung des Kultkonzepts in der Offb wählt T. als methodische Vorgehensweise eine vierfache Analyse, die aus folgenden Schritten besteht: l. Strukturelle Analyse, 2. Begriffs- und motivgeschichtliche Analyse, 3. Konzeptionelle und religionsgeschichtliche Analyse sowie 4. Textpragmatische und theologische Analyse. Bevor er sich jedoch den betreffenden kultrelevanten Einzeltexten in der Offb zuwendet (Kapitel 5), stehen zunächst in Kapitel 1-A grundsätzliche Fragestellungen zur Johannesoffenbarung im Mittelpunkt. Im Ergebnis seines kurzen forschungsgeschichtlichen Abrisses zu den Kultmotiven in der Offb (Kapitel 2) sieht T. Defizite u. a. darin, dass viele bisherige Arbeiten den be­wusst ambivalenten bzw. polyvalenten Charakter der Bilder und Symbole nicht ausreichend würdigten. In enger Verbindung damit steht eine bisher nicht genügend berücksichtigte Darstellung der strukturspezifischen Zusammenhänge und Konstruktionen zwischen den einzelnen Texten der Offenbarung.

In Kapitel 3 zeichnet T. ausführlich die kultideologischen Veränderungen im Imperium Romanum nach. Dabei gilt sein besonderes Augenmerk der Entwicklung in Kleinasien sowie der wachsenden Bedeutung des imperialen Kaiserkults. Als höchst bedeutsam für das religionspolitische Reformprogramm des Augustus erwies sich dabei die Zusammenführung politischer und priesterlicher Funktionen in einer Person. In der Darstellung des jüdischen Kulthorizonts als Hintergrund für zahlreiche kultische Motive in der Offb hingegen steht das priesterschriftliche Kultsystem im Mittelpunkt. Das Ritual des Großen Versöhnungstages stellt T. dabei als die kulttheologische Mitte des gesamten Pentateuchs dar. Als Fazit seiner Strukturanalyse bezüglich der Makrostruktur der Johannesoffenbarung (Kapitel 4) ergibt sich für T. mit Ausnahme von Offb 1–3 ein mehrfach wiederkehrender Vierer-Rhythmus, der aus folgenden Teilelementen besteht: l. Präludium/Postludium, 2. Visionsreihe (Siebenerreihe), 3. Interludium, 4. Präludium/Postludium. Daraus resultieren insgesamt acht Post- bzw. Präludien, die somit eine Brückenfunktion zwischen den großen Visionsblöcken darstellen.

Diese Post- bzw. Präludien bilden den kulttheologischen Schwerpunkt der folgenden Untersuchung und werden von T. als »Himmlische Heiligtumsszenen« bezeichnet. Es handelt sich dabei um die Textabschnitte Offb 1,1–20; Offb 4–5; Offb 8,1–6; Offb 11,15–19; Offb 14,14–15,8; Offb 16,17–21; Offb 19,1–10 und Offb 21,1–8. Im folgenden Kapitel 5 werden die ersten fünf dieser »Himmlischen Heiligtumsszenen« motiv- und religionsgeschichtlich in Bezug auf ihre Kultsymbolik analysiert. Dabei wäre die Analyse aller in­folge der Strukturanalyse als kultrelevant erkannten Texte sicherlich sinnvoller gewesen – gerade auch auf Grund der immer wieder anzutreffenden strukturellen Verweise und Querverbindungen in der gesamten Johannesoffenbarung. Als Anre gung für weiterführende Gedanken zum Thema »Kult in der Johannesoffenbarung« könnte es sich übrigens als durchaus reizvoll erweisen, sozusagen in Fortführung der letzten von T. genannten Heiligtumsszene (Offb 21,1–8) auch noch das Fehlen jeglichen Tempels (Offb 21,22) zu bedenken. Anzufragen bleibt bei der Auswahl der als »Himm­lische Heiligtumsszenen« benannten Texte, inwiefern nicht auch die Thronszene in Offb 7,9–17 hier einzubeziehen wäre.

Die ausführliche Analyse der ersten fünf Heiligtumsszenen in Kapitel 5 geschieht jeweils unter zwei Gesichtspunkten. Zum einen wird der entsprechende Text hinsichtlich seiner kultischen Be­grifflichkeit untersucht, d. h. die betreffende Szene wird als ein Kultgeschehen dargestellt und erläutert; zum anderen wird dieselbe Szene als ein gerichtliches Geschehen betrachtet. Dabei zeigt T. anhand zahlreicher Beispiele überzeugend auf, dass derselbe Text sowohl im jüdischen Traditionshintergrund (insbesondere durch das tägliche Tempelopfer – Tamiddienst, den Kult am Großen Versöhnungstag und durch das Tempeleinweihungsritual) als auch im paganen Bereich (vor allem durch den Kaiserkult) zahlreiche Anknüpfungspunkte besaß. Eine zentrale Stellung im himmlischen Kultgeschehen nimmt dabei Offb 4–5 ein. Eine gewisse Sonderstellung innerhalb der fünf behandelten Texte besitzt hingegen Offb 1,10–20. Dabei erweist sich die primäre Ableitung des Menschensohnähnlichen von hohenpriesterlichen Insignien her doch als eine recht einlinige Interpretation. Hier dürften vielmehr in erster Linie Vorlagen im angelophanen bzw. theophanen Bereich zu suchen sein (vgl. z. B. Apk Zeph 9,2–4 oder Apk Abr 11, 2 f. als viel näherliegende Parallelen).

Als Ergebnis der Einzelanalysen zeigt sich eine auffällige Ambivalenz der Texte. So enthalten die »Himmlischen Heiligtumsszenen« eine Doppelstruktur, indem sie einerseits als ein himmlisches Kultgeschehen den bedrängten Christen bereits jetzt die Gewissheit der Heilsteilhabe vor Augen führen und andererseits als Ge­richtsgeschehen die Durchsetzung von Gottes Macht darstellen. Diese anhand der beiden Themen Kult und Gericht aufgezeigte Doppelstruktur der »Himmlischen Heiligtumsszenen«, das Strukturprinzip eines permanenten Wechsels zwischen himmlischer und irdischer Ebene, die ambivalenten Assoziationen einzelner Kultmotive sowohl bezüglich jüdischer als auch hinsichtlich paganer Traditionshintergründe wie auch die zahlreichen strukturellen Verbindungen zwischen einzelnen Texten der Offb zeigen somit etwas von der ganz eigenen theologischen wie sprachlichen Darstellungsweise des Autors der Johannesoffenbarung. Dies an­hand der analysierten Texte aufgezeigt zu haben, ist ganz gewiss ein Verdienst der Untersuchung von T. Besonders hilfreich sind dabei auch die zahlreichen Schemata, die einzelne strukturelle Zusammenhänge verschiedener Texte anschaulich verdeutli­chen.

Auf Grund der besonderen Darstellungsart des kultischen Geschehens in der Offb geschieht so eine Wirklichkeitskonstruktion, die den Glaubenden in Kleinasien eine neue heilsvergewissernde Sicht auf ihre gegenwärtige Situation erlaubt, denn »der Kult bietet dabei gleichsam den Deutungshorizont, besser Deutungsraum, für die apokalyptische Heils- bzw. Unheilserwartung ... Es wird ein die irdischen Nöte transzendierendes Kultgeschehen konstruiert, aus dessen Perspektive heraus das Weltgeschehen verstehbar und die Lebenspraxis koordinierbar wird« (509).

Auf dem Hintergrund sowohl alttestamentlich-jüdischer als auch paganer kultischer Motive hat T. mit seiner Untersuchung einen wichtigen Teilaspekt der Johannesoffenbarung, die zahlreich vorhandenen kultischen Bilder und Symbole, einer detaillierten Prüfung unterzogen. Zugleich zeigt diese Untersuchung nicht nur vielfache motiv- und zeitgeschichtliche Hintergründe der Kultmotivik im letzten Buch des Kanons auf, sondern führt auf eindrückliche Weise die große Dynamik der Gedankenführung, die äußerst vielfältige strukturelle Verwobenheit vieler Texte und die theologische Sprachkraft des Autors der Johannesoffenbarung vor Augen.