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Ausgabe:

November/2009

Spalte:

1207–1209

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Lampe, Peter

Titel/Untertitel:

Die Wirklichkeit als Bild. Das Neue Testament als ein Grunddokument abendländischer Kultur im Lichte konstruktivistischer Epistemologie und Wissenssoziologie.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2006. 245 S. 8°. Kart. EUR 24,90. ISBN 978-3-7887-1624-0.

Rezensent:

Christian Strecker

Peter Lampe hat in mehreren Aufsätzen der letzten Jahre wiederholt Theorien des epistemologischen Konstruktivismus und der konstruktivistischen Wissenssoziologie für die neutestamentliche Exegese erschlossen. Hier baut er seine Überlegungen aus. Umfassend nimmt er dabei Themen und Fragestellungen von allgemein wissenschaftlicher und theologischer Relevanz mit in den Blick.

Nach einer knappen Einleitung in Kapitel I geht L. in Kapitel II zunächst zentralen geistesgeschichtlichen Stationen auf dem Weg zum Konstruktivismus nach. Er bespricht epistemologische Entwürfe der abendländischen Geschichte, erörtert Wahrheitstheorien des 20. Jh.s. und gelangt zu dem Ergebnis, dass Wirklichkeit weder nur in einem direkt erkennbaren Außen noch rein geistig/ ideell im Inneren verankert sei. Nach dem Verlust der thomis­tischen Gewissheit einer Korrespondenz zwischen Realität und Erkenntnis und nach der Wende zum Subjekt im 20. Jh. laufe alles auf die konstruktivistische Grundthese hinaus, wonach das Subjekt sich in der Interaktion mit der externen Welt seine Wirklichkeit selbst herstelle und Wahrheit subjektimmanent fundiert sei. In Kapitel III vertieft L. den konstruktivistischen Ansatz mit neurowissenschaftlichen Argumenten aus der Hirnforschung (vor allem G. Roth). Es sei das ontisch reale Gehirn, das die als Wirklichkeit bezeichnete subjektive Erlebniswelt samt Ich-Bewusstsein ebenso konstruiere wie das naturwissenschaftliche Bild vom Gehirn selbst. Von der konstruierten Wirklichkeit sei mithin die ontische Realität zu unterscheiden, die indes unzugänglich bleibe und nur als Schranke erfahrbar werde, insofern sie dem Handeln Widerstände entgegensetze. Kapitel IV bringt wissenssoziologische As­pekte des Konstruktivismus ein.

Auf der Basis der bisherigen Ausführungen und unter Rekurs auf Studien der Soziologen H. Stenger und H. Geißlinger entwirft L. in Kapitel V ein komplexes konstruktivistisch-wissenssoziologisches Modell der Prozesse und Regeln der Wirklichkeitskonstruktion: Danach vollzieht sich die für die Konstruktion von Wirklichkeit konstitutive Produktion größerer Sinnzusammenhänge (= »Kontexte«) auf der subjektiven (= mentaler Kontext) und sozialen Ebene (= sozialer Kontext) in Form wechselseitiger Prägungen (So­zialisierung auf der einen, Intersubjektivierung auf der anderen Seite). Die besagten Kontexte gründen in axiomatischen Grundlegungen, deren Akzeptanz und Entfaltung auf der Erzeugung von Evidenz beruht. L. nennt vier Evidenzquellen: 1. kognitive Konstruktion (d. i. die Verknüpfung in sich widerspruchsfreier [Konsis­ tenz], bruchlos in ein Aussagesystem integrierbarer [Kohärenz] Wissenselemente unter Beachtung aller relevanten, auch empirisch gewonnenen Aussagen [comprehensiveness] bei Bevorzugung einfacher Hypothesen, sofern diese Gleiches leisten wie komplexe [Ästhetik]), 2. sinnliche Wahrnehmung/Erfahrung, die, gefiltert durch bestehende Wahrnehmungskategorien, zumal bei gegebener Wiederholbarkeit, Intersubjektivität und institutioneller Rahmung Evidenz produziert, 3. soziale Bestätigung durch Konsens, Experten etc. und 4. emotionales Erleben (z. B. positive Gefühle auf Grund gegebener Nützlichkeit im Lebensvollzug).

Vor diesem Hintergrund formuliert L. in Kapitel VI Konsequenzen für theologisches Reden. Er betont, theologische Wirklichkeitsentwürfe stünden anderen, auch naturwissenschaftlichen, aus konstruktivistischer Perspektive in nichts nach. In Kapitel VII wendet er sein Modell auf das Urchristentum an. Als axiomatische Grundlegung des urchristlichen Wirklichkeitsentwurfes gilt der Satz »(Gott), der Jesus von den Toten auferweckte« (Röm 4,24; 8,11; Gal 1,1). Dieses Axiom gründe in der Verknüpfung (= kognitive Konstruktion) von vier Wissenselementen (Dissonanzerfahrung des Todes Jesu, Jesu Verkündigung der Zuwendung Gottes zu den Verlorenen, Umsetzung dieser Zuwendung im Wirken Jesu, jüdische Auferstehungshoffnung). Die Verknüpfung sei durch wiederholte sinnliche Wahrnehmungen (Ostervisionen) angestoßen und in diversen Hoheitsaussagen (Röm 1,3 f.; Phil 2,9–11) entfaltet worden. Über die ontische Realität »hinter« den Visionen zu spekulieren, sei angesichts deren genereller Unzugänglichkeit fruchtlos. L. widmet sich sodann dem urchristlichen Umgang mit weltlichen Unterschieden. Die Gleichheitsdevise (Gal 3,28) stelle im paulinischen Christentum in weltlichen Lebensvollzügen lediglich einen »mentalen Kontext« dar, im innerchristlichen Umgang indes auch einen »sozialen«. In der Johannesoffenbarung begegne ein trotziger Ausbruch aus dieser Doppelwelt, während sonst in nachpaulinischer Zeit ein irenisches Angleichen des egalitär ausgerichteten christlichen sozialen Kontextes an den hierarchisch geprägten der hellenistisch römischen Welt präferiert worden sei. Detailliert und überzeugend wendet L. sein Modell der vier Evidenzquellen auf das Motiv der »Neuschöpfung des Menschen« (2Kor 5,17; Gal 6,15) an, um zu zeigen, dass diese als Wirklichkeit erfahren wurde. Mit Blick auf die Sinnbestimmung der Eucharistie geht L. in einer komplexen Argumentation diversen kognitiven Verknüpfungen nach, die einer besonderen Eucharistie-Wirklichkeit Vorschub leisteten. L. zeigt weiter auf, dass der neue christliche Wirklichkeitsentwurf mit einer Neuorientierung des Handelns einherging, wobei differente Entfaltungen etwa des baptismalen Sinnzusammenhangs differente Handlungsorientierungen provozierten, was L. an der Kreuzestheologie des Paulus und dem Enthusiasmus der Korinther aufzeigt. Schließlich erörtert L. in einem »Schwenk zurück« die wirklichkeitskonstituierende Dynamis der Basileiabotschaft Jesu, indem er auch hier das Modell der vier Evidenzquellen anwendet. Profund legt L. den Anstoß zur kognitiven Konstruktion in den Gleichnissen offen. In Kapitel VIII erörtert L. Kriterien im Wettbewerb um die Wahrheit von Wirklichkeitsentwürfen, in Kapitel IX wendet er den Konstruktivismus auf die Theorie der Geschichtsschreibung an, und in Kapitel X bespricht er jüdische Vorgaben des christlichen Auferstehungsglaubens.

L. hat eine innovative, in ihrer interdisziplinären Ausrichtung mutige Studie verfasst. Sie wirft neues Licht auf das Neue Testament als »Grunddokument christlichen Wirklichkeitsverständnisses« (13), eröffnet Einblicke in die Erfahrungswelten früher Chris­ten und setzt sich für die allgemeine Anschlussfähigkeit theologischer Aussagen ein. Sicher lässt sich die von L. mit großer Be­lesenheit entwi­ckelte Theorie des Konstruktivismus – wie jede andere Theorie auc h– problematisieren. Gleiches gilt für exegetische Entscheidungen. L. selbst ist offen dafür, plädiert er doch für einen transparenten, respektvollen und am bonum orientierten Wettstreit um die angemessene Konstruktion von Geschichte und Wirklichkeit. Unabhängig von der Frage, ob der schwierige Brückenbau zwischen den »zwei Kulturen« (C. P. Snow) der Natur- und Geisteswissenschaften in der hier vorgetragenen Weise allgemein erfolgversprechend ist, verdient der Entwurf im exegetischen Diskurs Beachtung.