Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2009

Spalte:

1200–1204

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Seebass, Horst

Titel/Untertitel:

Numeri. 2. Teilbd.: Kapitel 10,11–22,1. 3. Teilbd.: Kapitel 22,2–36,13.

Verlag:

2. Teilbd.: Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2003. VIII, 374 S. m. 1 Kt. gr.8° = Biblischer Kommentar Altes Testament, IV/2. Lw. EUR 98,00. ISBN 978-3-7887-1475-8;

3. Teilbd.: Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2007. X, 466 S. gr.8° = Biblischer Kommentar Altes Testament, IV/3. Lw. EUR 109,00. ISBN 978-3-7887-2262-3.

Rezensent:

Reinhard Achenbach

Mit dem Abschluss der beiden vorliegenden Kommentarbände wird zugleich die Bilanz einer über 17 Jahre währenden Beschäftigung des Vf.s mit dem Numeribuch möglich. Das in mehreren Lieferungen seit 1993 erschienene materialreiche Kommentarwerk beleuchtet in stetem Dialog mit der vielstimmigen exegetischen Forschung nahezu sämtliche Einzelprobleme des literarhistorisch und traditionsgeschichtlich höchst komplexen Pentateuch-Textes und stellt neben dem monumentalen Œuvre von Jacob Milgrom hierzu die gründlichste und solideste Kommentierung des Numeribuches überhaupt bereit. Sie bietet eine Fülle von originären Beobachtungen und neuen, zum Teil überraschenden Perspektiven, die den Leser für die Mühe, die die Beschäftigung mit der Materie zweifellos bereitet, immer wieder belohnen.

Ausgangspunkt der Arbeit bildet zunächst ein Programm der Repristinierung der neueren Urkundenhypothese am Numeribuch in der durch M. Noth modifizierten Form. Sie setzt in Num 10,11 f. bei der traditionellen Zuweisung der Verse zur Grundschrift der Priesterschrift (Pg) ein und lässt die jüngeren Schichten des ersten Teils (Num 1–10) zunächst beiseite, um sich erst einmal der Ermittlung der älteren, dem »Jahwisten« (J) und »Elohisten« (E) zuzuschreibenden quellenhaften Überlieferungen zuzuwenden. Die Fragestellung hat sich allerdings unter dem Eindruck der Bestreitung der Urkundenhypothese durch R. Rendtorff, H. H. Schmid, E. Blum, T. Römer u. a. und der dadurch ausgelösten sog. »Krise« der Pentateuchforschung gewandelt, insofern die Motive redaktioneller Gestaltung und Komposition sogleich zu Beginn in den Blick genommen werden. So wird etwa im Rahmen der Ausgrenzung von 10,11–36 der Einsatz der Erzählung vom Aufbruch vom Sinai in 9,15–10,1 als »Zwischentext« bezeichnet, dessen »sich die Pentateuchkomposition zwischen den großen Einheiten oft bedient hat« (6). Wie man sich aber den oder die Schriftgelehrten vorzustellen hat, denen diese Komposition zu verdanken ist, bleibt in den ersten Lieferungen unklar. Stattdessen folgt die Exegese zunächst den traditionellen Vorgaben: Num 10,11–12 gehören zur Grundschrift der Priesterschrift (Pg), 10,14–28a gemeinsam mit 9,15–17 und Num 1–2 ursprünglich ebenfalls, Num 10,29–32 gehören zu J und das Ladelied ist vermutlich ein »versprengter Rest« aus der fragmentarisch erhaltenen Quelle des E. Num 10,13.28b wird dem Urheber der »Pentateuchkomposition« zugewiesen, der seine Quelle Pg zerschneidet und sie sodann neu zusammensetzt und mit J und E verbindet. Die Notiz über das Aufbegehren in Tabera Num 11,1–3 gehört zu J. Der Text ist allerdings nicht recht in das der Komposition zu Grunde liegende Itinerar eingepasst. Bei der Analyse der »Murrerzählung« in Num 11 und der Auseinandersetzung zwischen Mose, Miriam und Aaron (Num 12) wird deutlich, dass die angestrebte Rekonstruktion der ältesten Quelle J schon deshalb nur schwer gelingen kann, weil die erhebbaren Fragmente sekundären redaktionellen Bearbeitungen unterworfen worden sind, die die Texte in neue literarische Kohärenz-Systeme eingefügt haben, d. h. dass »in Num ein canonical process am Werk ist, welcher die älteren Traditionen stark veränderte« (41).

Im Einzelnen seien allerdings Zweifel an den Analysen des Vf.s erlaubt. Entgegen der gängigen Forschungsmeinung hält der Vf. die Ältestensage in Num 11,4α.ba.5.6aα.10a.bα.33bβ*.10bβ–11.14–17.24–25a.30.34 f. unter Einschluss einer Überlieferung vom Zelt Jahwes für den jahwistischen Kern des Textes, der durch eine Variante der Wachtelwundererzählung (V. 4bβ.6aβ–9.12abα.13.18aα.b. 19–20a.21–23.31f.) ergänzt wurde. Das Wunder erscheint nun als Strafe für das Murren der Israeliten, während der ursprüngliche literarische Ort der Geschichte ungeklärt bleiben muss. Einem späteren Redaktor »nach RJEP« (40) ist die Reflexion über die mosaisch-prophetische Geistbegabung in V. 25b–29 zu verdanken. Diese Re­konstruktion entbehrt jeglicher Logik, wenn man sich den durch den Vf. ermittelten Duktus der Ältestenerzählung vergegenwärtigt: Auf Grund des Hungers, den das Volk in der Wüste verspürt, sehnt es sich zurück nach dem Fisch, den es in Ägypten zu essen gab; daraufhin wird Jahwe zornig und straft das Volk. Auf Moses Fürbitte hin beschließt Jahwe, 70 Älteste mit dem Geist des Mose auszustatten, um Mose zu entlasten. Das eigentliche Problem, wie die Israeliten in der Wüste satt werden sollen, bleibt ungelöst. Die Israeliten sterben, und was bleibt, ist die Erinnerung an ihr Begehren. – Dieser »Jahwist« ist literarisch m. E. kaum noch zu retten. Die Konzeption der Übertragbarkeit eines mit der Person des Mose fest verbundenen Amtscharismas (rûaḥ), von dem weder das Deuteronomium noch die Priesterschrift etwas weiß, auf andere Personen ist in der Königszeit völlig singulär, während umgekehrt die Vorstellung der Geist-Begabung einer das Zionsvolk repräsentierenden nichtköniglichen Persönlichkeit erst in Jes 61,1 belegt ist. Das Motiv ist hingegen im Kontext einer interpretatio prophetica der Mosegestalt sinnvoll, die erst in den spätesten Schichten des Deuteronomiums vertreten wird (vgl. Dtn 18,15) und die insbesondere die Pentateuchredaktion bestimmt (vgl. Dtn 34,10–12), an welche die Ältestenerzählung in Num 11,25b–29 anknüpft. Da aber von diesem späten Text die ganze Konstruktion erst ihren Sinn erhält, gibt es m. E. auch keinen zwingenden Grund, Num 11,16–17.24–25a und 25b–29 auseinanderzureißen. Freilich wird man den Text dann nicht einer alten Quelle zuweisen können. Hinter der Analyse des Vf.s steht u. a. das Bemühen, die Überlieferung von einem Zeltschrein der Exodusgruppe als vorexilisch zu erweisen, obwohl selbst die Deuteronomisten noch wissen, dass es eigentlich erst David war, der der altisraelitischen Lade ein Zelt verschafft hat (2Sam 6,17). Erst die an die Priesterschrift anknüpfenden Schichten des Exodusbuches behaupten, Mose habe samt der Lade ein Zelt schon in der Wüste erstellt. Der Vf. hängt konsequent der durch zahlreiche Arbeiten gründlich überholten Analyse von M. Noth, ATD 5, 1959, zur Stelle an, nach welcher Ex 33,7–11 zu »alter, vorpriesterschriftlicher und vordeuteronomistischer Überlieferung« ge­hörte (dagegen: Zenger, Blum, Gunneweg, Weimar, Groß u. a.). Auch die Vorstellung, Jahwe sei mit Israel in einer Feuer- bzw. Wolkensäule gezogen, ist nicht einer alten Quelle zuzurechnen, sondern einer die Stoffe übergreifenden nach-priesterschriftlichen Redaktionsschicht (vgl. W. Groß, FS Lohfink, 1983, 142–165). Das hat auch Folgen für die Beurteilung von Num 12. Die Grundschicht erzählt nach der Rekonstruktion des Vf.s (12,1.4–5a.9–10.12–16a), Jahwe sei nach der Kritik der Miriam an der Mischehe des Mose persönlich in der Wolkensäule vor dem Zelt erschienen, zornig geworden und ohne weiteren Kommentar wieder verschwunden, worauf die Fürbitte des Mose an den entschwundenen Gott ergehen muss. Die Verlagerung der Erzählung von der Mischehenthematik auf die Frage der Autorität des Mose als Offenbarungsmittler gipfelt in den programmatischen Sätzen V. 6–8, die die besondere Qualität der Moseworte gegenüber den Propheten hervorheben, weil sie in einem unmittelbaren Gesprächskontakt ( וב רבדא הפ לא הפ) und einem unmittelbaren visionären Kontakt (טיבי הוהי תנמתו ... הארמו, V. 8) gründet. Der Vf. bestreitet, dass der Text in einem literarisch redaktionellen Verweissystem mit Ex 33,7–11 und Dtn 34,10 im Kontext einer Pentateuchredaktion steht, muss dann aber ohne Anhalt in der Textüberlieferung in Num 12,8 konjizieren (הארמו -> הרמאו) und selbst die in seiner eigenen Übersetzung eindeutige Aussage »Jahwes Gestalt erblickt er« im Kommentar einschränken (»Mose solle [!] Jahwes Gestalt sehen«, 65). Der Streit um die Mischehe des Mose gehört nach dem Vf. in einen Text der Königszeit, in dem es um die Autorität der als Prophetie interpretierten Moseüberlieferung geht. Der Endtext stamme vom JE-Redaktor. Das leuchtet kaum ein. Vielmehr werden in Num 12 Probleme angesprochen, die sich erst aus der nachexilischen Debatte um die Mischehen und die Autorität der Mosetora gegenüber der schriftgelehrten prophetischen Überlieferung ergeben haben.

Auch bei der Analyse der Erzählung von der gescheiterten Landnahme Num 13 f. versucht der Vf., das Steuer der seit 1970 den vermeintlich sicheren Gewässern der Urkundenhypothese entglittenen Forschung wieder zurück auf den durch M. Noth (Überlieferungsgeschichte des Pentateuch, 1948) gewiesenen Kurs zu lenken. Eine jahwistische Erzählung sei durch JE (Num 14,14*.17 f.19b) redigiert worden und in nachexilischer Zeit in den Text der aus frühpersischer Zeit stammenden P-Version eingefügt worden. Num 14,11–16*.19a.20.22–23 sei ein jüngerer Zusatz, dessen Einordnung dem Vf. nicht möglich erscheint, den L. Schmidt, ATD 7,2, 2004, aber der »Pentateuchredaktion« zuweist.
Einen Durchbruch zu neuen Perspektiven erbringt die Analyse von Num 15, das Anweisungen für Opfer, die Bestrafung von Sabbatschändern und für rituelle Bekleidung enthält. Der Vf. erkennt, dass der Text, selbst wenn man mit älteren Traditionen im Kapitel rechnet, literarisch nicht einer Priestergrundschrift zugerechnet werden darf und dass er auch nicht im weiteren Sinne zu der als »Heiligkeitsgesetz« bezeichneten Sammlung Lev 17–26 gerechnet werden kann (gegen I. Knohl). Dies führt ihn zu der wichtigen Einsicht: »Im Buch Num ist nicht mehr Pg die Grundlage der Komposition, sondern eine spätere Redaktion, deren Motive und Tendenzen auf breiter Basis erhoben werden müssen.« (137) Verholfen hat ihm zu dieser Einsicht Mary Douglas (In the Wilderness, JSOT.S 158, 1993). Nach Douglas enthält das Numeribuch den Neuentwurf für eine ideale Struktur des Volkes Israel als in einer Enklave lebenden Religionsgemeinschaft, die entgegen der rigoristischen Ausgrenzung fremder Volksangehöriger durch Esra Einheimische und Fremde zu integrieren bestrebt ist (Num 15,13–16). In Verbindung mit den rituellen Geboten bilden Num 1–10; 15; (16 f.); 18 f.; (26 f.); 28–36 die Grundlage der Komposition des Textes. Dies führt in der weiteren Durchführung des Kommentars zu einem Neuansatz, der nun systematisch neben der klassischen Annahme einer (JEP + D verbindenden) Pentateuchredaktion mit einer darüber hinausreichenden Numerikomposition nach Nehemia und Esra rechnet (151). Bei der Analyse von Num 16 f. geht es nicht mehr nur darum, den J-Faden (Datan-Abiram-Erzählung) und den Pg-Faden (Aaronstab­legende, 17,16–26) zu finden. Der Vf. entdeckt in der Erzählung von dem Konflikt zwischen den 250 Führern der Gemeinde und den Aaroniden das Werk eines Erzählers, der die Quellentexte aus J und P benutzt und durch eine eigene Version erweitert. So kommt diesem zugleich die Wirkung eines Autors und eines Redaktors zu. Die Zuspitzung der Thematik auf einen Konflikt zwischen Leviten, die das Priestertum anstreben, und dem Hohenpriester Aaron führt der Vf. auf eine Bearbeitung zurück, die »der Buchkomposition« angehört. Konvergiert die Zurückweisung eines Anspruchs der Leviten auf Priesterrechte mit den diesbezüglich ähnlich harschen Einstellungen der Verfasser von Ez 44,6–31*, so zieht Num 18 aus der Begründung einer inneren Hierarchie des Priestertums in Num 16 f. die Konsequenzen und entwickelt eine der neuen hiero­kratischen Vorstellung entsprechende Ämterordnung. Die Be­stimmungen über das Reinigungswasser (Num 19), die nur eine »schwache Einbindung in das priesterliche System« aufweisen, sind nach dem Vf. ebenfalls erst im Zuge der »Numerikomposition« in das Buch aufgenommen worden (253).

In der Besprechung von Num 20–25 wirkt die Urkundenhypothese noch so kräftig nach, dass neuere Ansätze lediglich die Folie abgeben, gegenüber der sie verteidigt wird. In Num 20,14–21*; 21,(1–3 J?).4–9.10–20.21–31* begegnen wir dem JE, in Num 20,1–13* wird ein Kern aus Pg konstatiert, der durch eine unvollständige Variante zu Ex 17,1–7 erweitert worden ist (so schon J. Wellhausen, Composition, 107), in 20,22–23aα.25–29bα; 22,1 Pg, in 20,23 f.* eine »Ergänzung«, welche die Pentateuchredaktion voraussetzt. Die Bileamerzählung wird auf einen E und einen J-Faden zurückgeführt, der bis Num 25,1–5* reicht. Die Pinhaserzählung (Num 26,6ff.) setzt Pg und Ps voraus und stammt aus spätpersischer Zeit.
In der Kommentierung der Kapitel Num 26–36 führt der Vf. das von Kapitel 15 her entwickelte Modell einer Synthese aus Urkundenhypothese und redaktionsgeschichtlicher Rekonstruktion der Spätschichten durch. In der Erzählung von der Besiedlung des Ostjordanlandes Kapitel 32 findet er den Kern der Überlieferung, den er J zuweist, die redaktionelle Bearbeitung in V. 2bβ–4aα.17b–19a. 20b–22a.23.26–33*.36b aber der nach-pentateuch-redaktionellen Numerikomposition. Daneben sieht der Vf. in der Erzählung von der Einsetzung des Josua vor Eleasar Num 27,12–23 einen Grundbestand aus Pg. Die zum Teil auf ältere Materialien zurückgreifenden Texte in Num 26 seien von »Rp« verarbeitet und später erweitert worden. Das Problem, wie man sich die Existenz von J neben JE, JEP und Pg bis zur Integration von J und P in Num 26–36 vorstellen soll, muss ungelöst bleiben, denn alle anderen Texte werden irgendwie in die Phase der »Numerikomposition« verwiesen: Num 27,1–11 ist »insgesamt sehr spät« anzusetzen. Der Kultkalender in Num 28–30* gehöre zwar »zum P-Schrifttum«, stamme aber andererseits aus einer Periode »nach Esra« (252). Num 30 gehöre »zur Nachwirkung von P«. Die Midianiterschlachtlegende Num 31 sei ein später Zuwachs zum Pentateuch (297). Zur Numerikomposition gehöre schließlich die Aufnahme der aus älteren Itinerarsammlungen und Angaben aus JEP zusammengesetzten und dementsprechend jungen Stationenliste Num 33,1–49, die Disposition der Landnahmeerzählung Num 33,50–56 (Zusatz sei die Anweisung für das Losverfahren, V. 54), die Beschreibung des westjordanischen Verheißungslandes in Num 34,1–15 (vgl. Ez 37,13–20) und die Legende über die Landverteilungskommission unter der Führung Eleasars und Josuas (Num 34,16–29) und schließlich der Buchschluss in Num 36,13. Auch die Kapitel 35–36 werden durch diese Komposition integriert, wobei immer wieder mit der Verarbeitung älterer Traditionen gerechnet wird. Mit dem Erklärungsmodell der »Numerikomposition« ist die Disposition auch für die Erklärung der Kapitel 1–10 gegeben. Mit ihr käme nach Jahrzehnten mühevoller Arbeit eines der konzeptionell höchst anspruchsvollen Projekte des Biblischen Kommentars zur Vollendung.