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Ausgabe:

November/2009

Spalte:

1196–1199

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Köhlmoos, Melanie

Titel/Untertitel:

Bet-El – Erinnerungen an eine Stadt. Perspektiven der alttestamentlichen Bet-El-Überlieferung.

Verlag:

Tü­bingen: Mohr Siebeck 2006. X, 344 S. gr.8° = Forschungen zum Alten Testament, 49. Lw. EUR 84,00. ISBN 978-3-16-148774-3.

Rezensent:

Joachim Conrad

Betel ist nach biblischem Zeugnis hauptsächlich der Ort eines alten Heiligtums, das in vorexilischer Zeit eine wichtige Rolle spielte und vor allem im Nordreich Israel als Reichsheiligtum von zentraler Bedeutung war. Während die Stadt Betel mit großer Wahrscheinlichkeit mit dem heutigen Bētīn identifiziert werden kann, ist das Heiligtum selbst archäologisch nicht nachweisbar. Angesichts dessen und angesichts der in der gegenwärtigen Forschung verbreiteten Spätdatierung der einschlägigen Texte stellt sich die Frage, ob und wieweit die Letzteren ein zuverlässiges Bild der historischen Rolle dieses Heiligtums bieten oder Zeugnisse späterer Gestaltung sind, in denen die frühere Geschichte mit ihren Ka­tastrophen theologisch reflektiert wird. Der Vfn. dieser Untersuchung, die von der Theologischen Fakultät in Göttingen als Habilitationsschrift angenommen wurde, geht es nun um den Nachweis, dass nur ganz wenige, aber historisch verlässliche Zeugnisse aus vorexilischer Zeit, und zwar aus dem 8. Jh., vorliegen, alle anderen Texte jedoch das Ergebnis späterer Gestaltung sind und daher nicht als Quellen für die frühere Geschichte des Heiligtums dienen können, dass das Heiligtum in ihnen vielmehr als ein Sinnbild fungiert, dessen Geschichte vor allem im Kontrast zum Jerusalemer Tempel konstruiert worden ist.

Nach einer Einleitung, in der die Vfn. Aufgabe und Ziel ihrer Arbeit bestimmt, einen Überblick über die bisherige Forschung bietet und methodische Vorfragen zur historischen Analyse der Texte reflektiert (1–18), geht sie im ersten Kapitel detailliert auf die landeskundlichen Gegebenheiten und die Ergebnisse der archäologischen Erforschung der Stadt ein (19–83) und hebt hier vor allem hervor, dass diese, zwar in wasserreicher Umgebung und innerhalb des Gebirges verkehrsmäßig günstig gelegen, nach einer größeren Blüte in der späteren Mittelbronzezeit und nach dörflicher Besiedlung in der Eisen-I-Zeit nur die Rolle einer Provinzstadt im Grenzgebiet zwischen dem Nord- und dem Südreich spielte und ihrer geographischen Lage nach eher nach Süden als nach Norden orientiert war. Zu ihr gehörte sicher von Anfang an ein Heiligtum, auch wenn es bisher nicht nachweisbar ist. Hier sei nur vermerkt, dass dem Leser bei den Ausführungen zur archäologischen Erforschung die Beigabe eines Plans der Ausgrabungen die Orientierung erleichtert hätte.

In den weiteren Kapiteln geht die Vfn. auf alle Betel als Heiligtum betreffenden Texte ein und behandelt zunächst im zweiten Kapitel die Texte im Amos- und Hoseabuch (84–152). Hier findet sie die ältesten Zeugnisse, die sie auf die beiden Propheten selbst zurückführt.

So schreibt sie Amos grundsätzlich die Verse Am 4,4 f.; 5,21–24 sowie 5,5b zu, denen zufolge der Prophet radikale Kritik an dem in Betel und Gilgal betriebenen Kult übt, der für ihn nur in einer Ka­tastrophe enden kann. Die Sprüche sind noch vor der Zerstörung des Nordreichs um 740 entstanden. Sie bezeugen zugleich, dass in Betel und Gilgal größere Heiligtümer bestanden, die von regionaler Bedeutung waren, wobei Betel offenbar keinen Vorrang vor Gilgal hatte. Nach der Zerstörung des Nordreichs begann dann der Prozess der Verarbeitung der Botschaft des Amos. Noch in die Zeit vor der Zerstörung des Südreichs datiert die Vfn. die Erzählung in Am 7,10–17, in der nun Betel als Staatsheiligtum erscheint und der Prophet als Prediger gegen Staat und Kult auftritt, wobei mit diesem Text zugleich eine Verbindung zur Hoseatradition hergestellt wird. Das Ende des Verarbeitungsprozesses markiert die von der Vfn. im 4. Jh. angesetzte Vision in Am 9,1–4, wo der Prophet zum Vollstrecker des Gerichts Jahwes wird und hierfür Einflüsse von Jes 6 und Ez 8–11 vorauszusetzen sind.

Im Hoseabuch sind Hos 5,8.10–14 und 10,1–8* als die ältesten Zeugnisse zu betrachten, die beide aus der letzten Zeit vor der Zerstörung des Nordreichs stammen. In Hos 10,1–8* geht es einerseits um die verderbliche Politik des Königs und andererseits um das falsche Vertrauen auf den in Betel betriebenen Kult mit einem Stierbild, beides nun unter dem Druck der assyrischen Westexpansion fest miteinander verbunden. Damit aber ist Betel ein Staatsheiligtum geworden, und im Vollzuge dessen dürfte auch das Stierbild aufgestellt worden sein, frühestens unter Jerobeam II. oder noch später. Für dieses Vorgehen war sicher auch maßgeblich, dass Betel verkehrsmäßig günstig lag und es im Interesse des Nordreichs war, sich diese Stadt zu sichern. Wenn sie der Prophet als Bet-Awen bezeichnet, dann macht er damit deutlich, dass das Zusammenspiel von König und Kult gänzlich verdorben ist und nur zu einem bösen Ende führen kann. Dies ist auch der Hintergrund von Hos 5,8.10–14, wo Betel zwar nur als Schauplatz kriegerischer Auseinandersetzung zwischen Nord- und Südreich erscheint, gleichwohl aber als Bet-Awen benannt und somit zugleich als Ort verderbten Kultes gekennzeichnet wird. Zeugnis der späteren Bearbeitung des Hoseabuches ist vor allem Hos 12,3–5.7.13 f. Es handelt sich um eine kritische Auseinandersetzung mit den Genesisüberlieferungen aus nachexilischer Zeit, bei der in Verbindung mit der Exodusüberlieferung zwar ein heilvoller Ausblick gegeben, aber Jakobs Schuld besonders betont und mit ihm als Stammvater ganz Israel und zugleich Betel als Schauplatz des Gotteskampfes abgewertet wird.

Im dritten Kapitel behandelt die Vfn. die Zeugnisse in den Königsbüchern (153–229). Zur deren Grundschrift gehört 1Kön 12,25–27a.28a.bα.29.30a. Hiernach besteht die »Sünde Jerobeams« darin, dass er durch die Trennung des Nordreichs vom Südreich die Einheit der davidisch-salomonischen Herrschaft mit Jerusalem und seinem Tempel als Mittelpunkt zerstört und so den Untergang der beiden Reiche einleitet, wobei hinzukommt, dass er mit seinen zwei Residenzen und den zwei Heiligtümern, die er einrichtet, auch kein in sich einheitliches Reich im Norden schafft und damit dessen Untergang unmittelbar verschuldet. Es handelt sich hier um eine Konstruktion des 6. Jh.s, die dazu dient, den Untergang der beiden Reiche zu erklären, und in der Betel anachronistisch als Reichsheiligtum mit Stierbild, wie es erst im 8. Jh. bezeugt ist, vorgestellt wird. Als Teil einer deuteronomistischen Komposition (KD nach E. Blum) ist das Stierbild in Ex 32,1–6 dann von Betel gelöst und nun als eindeutiges Zeichen des Abfalls in die Vorgeschichte Israels rückprojiziert worden, um deutlich zu machen, dass Israel seinem Gott von vornherein nicht treu geblieben ist. Bei der weiteren deuteronomistischen bis spätdeuteronomistischen Bearbeitung erscheint der Altar als der Ort des kultischen Geschehens in Betel, und zwar als Ort eines von vornherein illegitimen Kultes, der von Jerobeam I. eingeführt (1Kön 12,28b β.32) und später von Joschija beseitigt wird (2Kön 23,15).

Dabei ist vorauszusetzen, dass in Betel auch weiterhin ein Heiligtum bestand, wie aus 2Kön 17,24–28 und auch aus Sach 7,2, beides Zeugnisse aus persischer Zeit, zu schließen ist, und dass demgegenüber der Jerusalemer Tempel den keineswegs unbestrittenen Anspruch auf alleinige Legitimität erhob, wobei zweifellos auch politische Spannungen zwischen den persischen Provinzen Juda und Samaria eine Rolle spielten. Den nachdeuteronomistischen Texten 1Kön 13,1–10 und 2Kön 23,16–20 zufolge wird der Altar schon unter Jerobeam I. unrein gemacht und zerstört und damit kultisch unbrauchbar und unter Joschija zudem auf das Schlimms­te entweiht. Der erstere, bei dem eine ältere Prophetenlegende verarbeitet ist und außerdem an Am 7–9 angeknüpft wird, ist ein schriftgelehrtes Elaborat aus dem 3. Jh., mit dem vielleicht die Wiederaufnahme eines Kultbetriebs in Betel abgewehrt werden soll. Im letzteren Text schließlich, der schon apokalyptische Züge trägt, wird die Entweihung des Altars von Betel zu einem Gegenbild zu der unter Antiochus IV. im 2. Jh. erfolgten Entweihung des Tempels in Jerusalem. Das Heiligtum von Betel ist hier ganz eindeutig zu einem abschreckenden Sinnbild für Abfall und Synkretismus geworden, das als solches die besonderen Bedrohungen, wie sie in der hellenistischen Zeit erfahren wurden, widerspiegelt.

Die beiden letzten Kapitel sind den Zeugnissen in der Genesis (230–272) sowie Texten aus hellenistischer Zeit (273–303) gewidmet, in denen Betel generell positiv bewertet wird. Besonders hervorzuheben ist hier der aus frühexilischer Zeit stammende Text Gen 28,10–22*, in dem im Gegensatz zu dem negativen Urteil über Betel im Sinne eines »Nie wieder« und in Auseinandersetzung mit diesem ein »Trotzdem« göttlichen Heils für die Zukunft zum Ausdruck gebracht wird. Der Text nimmt damit die Intention einer älteren Jakobgeschichte auf, die in ihren Anfängen bis in die Zeit bald nach der Zerstörung des Nordreichs zurückgeht und zunächst für das Letztere neues Heil in Aussicht stellt. Dieses Urteil über Betel hat vor allem in Texten aus hellenistischer Zeit nachgewirkt. So verkörpert es in Ri 20 die Einheit des Gottesvolkes. Für die Vfn. handelt es sich hier um den Niederschlag von gesamtisraelitischen Ansprüchen und Hoffnungen proseleukidischer Kreise unter Antiochus III., wobei Benjamin als Chiffre für die Abtrünnigen vom wahren Israel fungiert. Positiv ist schließlich auch die Rolle Betels in außerkanonischen Texten, nämlich als der Ort der visionär erfolgenden Investitur des Priestertums im Testament Levi (7,4 –9,4) und als Ort, an dem zwar kein Heiligtum gebaut, die Offenbarung aber niedergeschrieben und damit die Tora begründet wird, im Jubiläenbuch (Jub 31 f.). Es folgen noch ein zusammenfassender Schluss­teil (304–317) sowie ein Literaturverzeichnis (318–337) und ein Stellenregister (338–344).

Dieser keineswegs vollständige Überblick über den Inhalt des Buches dürfte deutlich machen, dass die Vfn. ein sehr detailliertes, umfassendes und kritisches Gesamtbild der Zeugnisse über Betel und sein Heiligtum erstellt hat. Es wäre nun freilich zu fragen, wie sie ihre literarkritischen Entscheidungen und die Datierung der Texte im Einzelnen begründet und damit ihre Ergebnisse abgesichert hat. Hier gibt es denn auch eine Reihe von Problemen. Zu fragen ist insbesondere, ob die von ihr als früheste Zeugnisse betrachteten Texte aus den Büchern Amos und Hosea mit ihrer radikalen Kultkritik wirklich den beiden Propheten aus dem 8. Jh. zuzuweisen sind. In der gegenwärtigen Prophetenforschung zeichnet sich jedenfalls die Tendenz ab, solche radikalen Aussagen erst später zu datieren. Zuzustimmen ist ihr aber grundsätzlich, wenn sie die anderen von ihr behandelten Texte später datiert, und dabei ist hervorzuheben, dass sie mit deren Spätdatierung insofern ernst macht, als sie sie als Zeugnisse von Verhältnissen und Reflexionen ihrer Entstehungszeit deutet und von Rückschlüssen auf frühere Zeiten absieht. Dieser Standpunkt ist auf alle Fälle beachtenswert und diskutabel, auch wenn man über die Datierung und die Re­daktion der Texte im Einzelnen verschiedener Meinung sein kann. Und auch wenn man der Frühdatierung der Texte aus den Büchern Amos und Hosea nicht folgen und sie nicht zum Ausgangspunkt und zur Grundlage für alle weiteren Erörterungen machen kann, wie es in K.s Arbeit geschieht, sind dadurch ihre Ergebnisse, wie etwa die Schlussfolgerung, dass Betel erst in spätköniglicher Zeit zu einem Staatsheiligtum mit Stierbild wurde, doch nicht generell in Frage gestellt. Gewiss wird die künftige Forschung noch zeigen müssen, wie sicher die Ergebnisse sind und ob nicht doch mehr Rückschlüsse auf frühere Zeiten gezogen werden können. Unbeschadet dessen hat sie jedoch ein Gesamtbild erstellt, das in seiner Vielschichtigkeit und Geschlossenheit beeindruckend und als solches für alle weitere Forschung zu diesem Thema verpflichtend ist.