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Ausgabe:

November/2009

Spalte:

1187–1190

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Passaro, Angelo, and Giuseppe Bellia [Eds.]

Titel/Untertitel:

The Wisdom of Ben Sira. Studies on Tradition, Redaction, and Theology.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2008. XIII, 411 S. gr.8° = Deuterocanonical and Cognate Literature Studies, 1. Lw. EUR 88,00. ISBN 978-3-11-019499-9.

Rezensent:

Frank Ueberschaer

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Xeravits, Géza G., and József Zsengellér [Eds.]: Studies in the Book of Ben Sira. Papers of the Third International Confer­ence on the Deuterocanonical Books, Shime’on Centre, Pápa, Hungary, 18–20 May, 2006. Leiden-Boston: Brill 2008. XIII, 274 S. gr.8° = Supplements to the Journal for the Study of Judaism, 127. Lw. EUR 99,00. ISBN 978-90-04-16906-7.


Der von Xeravits und Zsengellér herausgegebene Band dokumentiert die Beiträge einer Tagung von 2006, die zu Ehren der unga­rischen jüdischen Gelehrten organisiert wurde, die an der Erforschung des Buches Ben Sira beteiligt waren. Es geht um drei the­matische Schwerpunkte: um Einleitungsfragen, um Aspekte des Weisheitsverständnisses Ben Siras und um das »Lob der Väter« in Sir 44–49.

Im ersten Teil widmet sich Maurice Gilbert der Vetus Latina von Sir. Er zeigt auf, dass die Vetus Latina auf der erweiterten griechischen Übersetzung G II basiert, allerdings nicht auf der Version, die in LXX tradiert wurde, sondern bereits auf einer früheren. An manchen Stellen steht die Vetus Latina dem Hebräischen näher als der Septuaginta. Dies weist Gilbert an Textbeobachtungen nach, die er in der Zusammenschau des hebräischen, griechischen, syrischen und lateinischen Textes macht, und datiert dann die Übersetzung der Vetus Latina für Sir zwischen 80 vor und 80 nach Chr. Frank Feder gibt eine Einführung in die Bezeugung von Sir in koptischen Übersetzungen des Textes selbst sowie in koptischen liturgischen Büchern. Gabriele Boccaccini versucht eine Einordnung von Sir in der Kanongeschichte, vor allem aber in seiner Zeitgeschichte, und versteht das Buch als Weisheitstext aus dem 2. Jh. v. Chr., verfasst von einem Befürworter des zadokitischen Judentums, weitertradiert und auch vollendet von ebenso gesinnten Schreibern. Stefan Schorch geht Vorstellungen vom Idealtext im Judentum der Zeit des zweiten Tempels nach. Dabei zeigt er am Prolog von Sir und weiteren Zeugnissen der Zeit die Wertschätzung des Hebräischen auf Grund seiner Wahrnehmung als heilige Sprache sowie das Bewusstsein auf, dass im Hebräischen Form und Inhalt übereinstimmten, wogegen jede Übersetzung diese Einheit auseinanderreißt. Im 2. Jh. v. Chr. entsteht dann ein neues Verständnis: An die Stelle des »idealen Textes« tritt der »aktuelle Text«. Armin Lange greift die Frage auf, ob den summarischen Nennungen der heiligen Schriften in Sir und Prolog schon ein Kanon oder Kanonlisten zu Grunde liegen. Er verneint dies und versteht sie im Kontext analoger Zeugnisse als umfassende Zusammenfassung der gesamten Traditionsliteratur und nicht als Reflex auf einen bereits fest definierten Kanon. Eine Kanonisierung in letzterem Sinne sieht er erst nach 70 n. Chr.

Im zweiten Teil des Sammelbandes über einzelne Themen des Weisheitsverständnisses Ben Siras betrachtet Nuria Calduch-Benages Ben Siras Position zur Ehescheidung im Kontext frühjüdischer Zeugnisse: Ben Sira befürwortet Ehescheidung, sofern sie auf Initiative des Mannes geschieht, wogegen die Frau völlig passiv er­scheint. Friedrich V. Reiterer gibt eine Bestimmung von Weisheit und Tora. Dabei fällt auf, dass Ben Sira die Weisheit ausführlich bedenkt, die Tora jedoch kaum eigens reflektiert. Beide treffen sich auf der Ebene der praktischen Lebensführung, die sie beide strukturieren wollen, doch für eine Parallelsetzung reicht das nicht aus. József Zsengellér untersucht Ben Siras Sicht auf den Tempel in Jerusalem und stellt heraus, dass der Tempel für Ben Sira der primäre Ort der Begegnung mit der Weisheit ist (evtl. ist auch Ben Siras Lehrhaus [Sir 51,23] im Tempel gewesen). In der Auseinandersetzung mit dem Tempel auf dem Garizim und dem Tempel in Leontopolis wird die Übersetzung des Enkels zu einer Streitschrift für die Bedeutung des Jerusalemer Tempels.

Der dritte Teil des Sammelbandes ist dem Väterlob Sir 44–49 gewidmet. Jeremy Corley betrachtet die Einleitung zum Lob der Väter Sir 44,1–15 und arbeitet heraus, dass hier zum einen der großen Gestalten der Vergangenheit des eigenen Volkes gedacht wird, sie zum anderen aber auch als Vorbilder zum Nacheifern dargestellt werden. Benjamin G. Wright III untersucht die intertextuellen Bezüge zwischen der Darstellung im Lob der Väter und ihrer Grundlage in den biblischen Schriften. Dazu greift er exemplarisch Noah, Mose, Aaron und David heraus. Pancratius C. Beentjes widmet sich in seinem Beitrag den drei Patriarchen und untersucht Text und inhaltliche Darstellung. Dabei zeigt er sowohl die Verbindung Ben Siras mit dem biblischen Stoff als auch seine eigenständige Bearbeitung auf. Matthias Weigold konzentriert sich auf die Darstellung Noahs im Väterlob unter drei Aspekten: die Darstellung Noahs selbst, ihre Position im Kontext des Väterlobs und ihre Stellung im Kontext weiterer Darstellungen Noahs aus frühjüdischer Zeit.

Der zweite zu besprechende, von Passaro und Bellia herausgegebene Sammelband ist der erste Band in der neuen, von Reiterer, Ego und Nicklas herausgegebenen Reihe »Deuterocanonical and Cognate Literature Studies«.

Er wird eröffnet von einem Überblick von Maurice Gilbert über die verschiedenen Textversionen, mit denen man es bei der Arbeit mit Sir zu tun hat, dann über die Hände, durch die das Buch in seinem Entstehungsprozess gegangen ist (Ben Sira selbst, sein Enkel und weitere Bearbeiter einer »2. Auflage« der Übersetzung), und schließlich über die Frage der Kanonisierung des Buches. Jeremy Corley stellt die Frage nach Aufbau und Struktur des Buches und wagt eine Rekonstruktion der Redaktionsstufen. Giuseppe Bellia untersucht den historischen und soziologischen Hintergrund, den Sir zu erkennen gibt. So wird Sir zu einem Zeugen einer religionsgeschichtlichen Entwicklung, in der das Verhältnis von Gott und Mensch mehr und mehr von Schriften geprägt ist. Émile Puech zeigt auf, dass es zahlreiche Berührungspunkte zwischen Sir und weisheitlichen Handschriften in Qumran gibt, sowohl sprachlich und in der Ausdrucksweise als auch thematisch. Puech untersucht die Themenfelder Priesterschaft, Kalender, Gesetz, geheimes Wissen, Eschatologie, messianische Vorstellungen und macht eine ge­genseitige Beeinflussung im Laufe der Textgeschichte plausibel. Nuria Calduch-Benages untersucht Sir 42,15–43,33 im Zusammenhang mit der Henoch-Tradition und hellenistischer Kultur und Religion und arbeitet die Passage als polemischen Text gegen beide heraus, obwohl sie nicht explizit genannt werden. Pancratius C. Beentjes untersucht intensiv Sir 1,1–10 im Blick auf seine textliche Entwicklung (G I und G II), seine Position und Funktion im Buch insgesamt und seine Stellung innerhalb der Weisheitsliteratur des Alten Testaments (Spr 8; Hi 28). Angelo Passaro beschäftigt sich mit Sir 3,21–24. Nach einer Untersuchung des Textes und seiner Zeugen legt er die Struktur des Abschnitts dar und betrachtet ihn im Kontext ähnlicher biblischer Aussagen. Silvana Manfredi widmet sich dem Schlussgedicht Sir 51,13–30 in seiner griechischen Fassung. Diese macht aus dem Gedicht Ben Siras ein Fürbittengebet. Manfredi legt literarische Struktur, Semantik sowie einige inhaltliche Schwerpunkte dar und stellt literarische Beziehungen zu kanonischen Texten her (drittes Gottesknechtslied, Jer). Jan Liesen vergleicht Aussagen zur Tora in Sir 32,14–33,3 mit den Tora-Psalmen und Jes 8,11–21 und stellt Ben Siras Selbstverständnis dar, nämlich als in der Tradition der Prophetie stehend. Friedrich V. Reiterer stellt die Interpretation der Weisheitstradition im Blick auf die Tora in Sir dar. Er zeigt die Bedeutung auf, die Ben Sira der Tora für das Handeln Gottes in der Welt zumisst, insbesondere aber, wie sehr sich Ben Sira als in der Tradition stehend verstand und gegen Strömungen seiner Zeit seinen eigenen Entwurf stellte: Gott steht über allem, er hat die Welt nach einer inneren Ordnung geschaffen, in die der Mensch sich einfügen soll. Die Tora ist dabei Offenbarung, Handlungsanweisung und Lehre. Alexander A. Di Lella widmet sich den Aussagen Ben Siras über die menschliche Zunge (Sir 5,9–6,1; 23,7–15; 28,12–26) und interpretiert sie vor dem Hintergrund intertextueller Bezüge zu kanonischem Schrifttum. Sir bietet dennoch nicht nur eine Zusammenfassung weisheitlicher Lehrtradition (insbesondere aus Spr), sondern auch eine Interpretation in seine Zeit hinein. Antonio Minissale geht der Metapher des Fallens bzw. des Falls in Sir nach und beleuchtet sie in den verschiedenen Bezügen, in denen Ben Sira, aber später auch der Übersetzer, sie verwendet (Ben Sira selbst: die Zunge, Frauen, Feinde, arm und reich, Laster und Tugenden, Essen und Trinken, Geschäfte, Gott und die Gottesfurcht; der Enkel fügt dem durch seine Übersetzungsarbeit noch die Themenfelder Gewalt und Nacktheit hinzu). Giovanni Rizzi bearbeitet intensiv die syrische Übersetzung von Sir und stellt die Frage nach christlichen Bearbeitungen. Er verwirft Überlegungen zu einer jüdischen oder ebionitischen Herkunft der syrischen Übersetzung von Sir und lokalisiert sie in einem syrischen Christentum, das in engem Kontakt mit jüdischer Tradition stand. Rosario Pistone schlägt einen Bogen von Sir zu Mt. Der Evangelist erweist sich als treuer Bewahrer sirazidischen Gedankenguts. Dabei weist Pistone darauf hin, dass sich beide in einer ähnlichen Situation befanden, nämlich einerseits in der Tradition stehend und andererseits mit etwas völlig Neuem konfrontiert. Die beiden Herausgeber Angelo Passaro und Giuseppe Bellia geben in ihrem letzten Beitrag dem Sammelband einen Abschluss, indem sie eine Gesamtcharakteristik des Buches versuchen.

Beide Bände enthalten lesenswerte und weiterführende Beiträge. Insbesondere der Schwerpunkt auf der Textgeschichte, der in »Studies in the Book of Ben Sira« gelegt wird, ist sehr wertvoll, weist er doch immer wieder darauf hin, dass die Textgrundlage von Sir nach wie vor nur mangelhaft erforscht ist. Hier ist noch viel Arbeit zu leisten. Aber auch viele Beiträge, die sich thematischen Fragen der Lehre Ben Siras widmen, sind hilfreich, so dass sich eine Lektüre lohnt.