Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2009

Spalte:

1182–1185

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Wilkinson, Robert J.

Titel/Untertitel:

Orientalism, Aramaic and Kabbalah in the Catholic Reformation. The First Printing of the Syriac New Testament.

Verlag:

Leiden-Boston: Brill 2007. XVI, 224 S. m. Abb. gr.8° = Studies in the History of Christian Traditions, 137. Geb. EUR 99,00. ISBN 978-90-04-16250-1.

Rezensent:

Andreas Juckel

Das Buch ist aus der Dissertation des Vf.s erwachsen, die 2003 an der University of the West of England unter Trevor Johnson entstanden ist (Zweitgutachter war S. P. Brock, University of Oxford). Es behandelt die Geschichte des ersten syrischen Bibeldrucks, den J. A. Widmanstetter besorgt hat und der 1555 in Wien erschienen ist. Der Titel signalisiert, dass es sich nicht um eine bibliographische Studie im engeren Sinne handelt, sondern um eine zeit- und wissenschaftsgeschichtliche Studie in bibliographischer Verdichtung. Die Charakteristika der editio princeps des syrischen Neuen Testaments zu beschreiben und vor dem Hintergrund der beginnenden orientalischen Studien zu interpretieren, ist die Aufgabe des Bu­ches.

Der Aufweis, dass dieser Hintergrund ein (aus heutiger Sicht) exotisches Amalgam aus orientalischen, sprachwissenschaftlichen, kabbalistischen und auch missionarischen Interessen ist, kann als gelungen angesehen werden. Es ist ein nicht geringes Verdienst dieser Studie, die Triebkräfte der beginnenden Rezeption der orientalischen (jüdischen, syrischen und arabischen) Literatur im katholischen Europa des 15./16. Jh.s exemplarisch vor Augen zu führen. Methodisch geschickt wird der zeit- und wissenschaftsgeschichtliche Hintergrund auf die wichtigsten Akteure reduziert, die der editio princeps den Weg gebahnt haben. Diese biographische Reduktion erlaubt die Hinführung auf die editio princeps selbst und die Darstellung größerer (geistes)geschichtlicher Zu­sam­men­hänge en miniature.

Die sieben Abschnitte des Buches reflektieren eine Dreiteilung. Abschnitt I (First Beginnings: Teseo Ambrogio and the Maronite Delegation to the Fifth Lateran Council) und II (First Beginnings: Egidio da Viterbo and the Kabbalistic Context of Syriac Studies at the Time of the Fifth Lateran Council) behandeln die Anfänge des Ost-West-Kontaktes und des Interesses am Orient. Die Abschnitte III–V konzentrieren sich auf »the Scholars of the editio princeps« (Moses of Mardin und Andreas Masius; Guillaume Postel; Johann Albrecht Widmanstetter). Abschnitt VI thematisiert die editio princeps selbst, Abschnitt VII gibt eine Zusammenfassung. Am Beginn des Buches vermitteln elf Tafeln (in Schwarz-Weiß) einige Anschauung von denjenigen frühen Werken, die in der Studie eine Rolle spielen, darunter fünf Tafeln mit Beispielen aus der editio princeps. Die Bibliographie umfasst 23 Seiten, der Index (Namen und Sachen) erhöht die Brauchbarkeit des Buches sehr.

Auch die im Titel genannten Schlüsselbegriffe werden von den Überzeugungen und literarischen Aktivitäten der Akteure her gewonnen; sie kennzeichnen die ihnen gemeinsame geistig-religiöse Grundhaltung und Interessenlage. Mit Ausnahme des syrisch-orthodoxen Christen Moses waren sie sämtlich Katholiken und humanistisch geprägt. Sie kannten sich (fast) alle persönlich, standen brieflich untereinander in Kontakt, lernten voneinander und betrieben orientalische und kabbalistische Studien. Als »Oriental­ism« bezeichnet der Vf. die Motivierung der orientalischen Studien im 16. Jh. durch die (auf literarischer Fälschung beruhende) Ge­heimtradition von Noahs Ankunft in Europa (Italien) und die Besiedlung der Weltgegenden durch seine Söhne. Vor diesem »ge­schichtlichen« Hintergrund konnte eine prinzipielle Harmonie zwischen der christlichen Wahrheit und der alten Weisheit des orientalischen Altertums konstruiert werden. In kabbalistischer Perspektive verweisen die orientalischen Alphabete (insbesondere Syrisch-Aramäisch-Hebräisch) – z. B. durch Buchstabenmystik und Zahlenkombinatorik – auf die christliche Wahrheit. »Kabbalah« bezeichnet somit »die Interpretation kabbalistischer Thesen im Sinne des (katholischen) Christentums« (G. Scholem) und die Übernahme kabbalistischer Methodik. Die Übertragung der jüdischen Geheimtradition über die in den Buchstaben verborgene Bedeutungsebene von Torah und Talmud auf das Neue Testament muss­te, sofern es in einer orientalischen Sprache verfasst war, die ultimative Koinzidenz von verborgener Tradition und offenbarter Wahrheit erweisen.

Detailliert arbeitet der Vf. aus den biographischen Daten und Schriften der Akteure die sie (quasi zu einem Netzwerk) verbindenden Traditionen, Motive und Qualifikationen heraus. Die christliche Kabbalah ist hierbei das zentrale Element ihrer Weltanschauung und das eigentliche Motiv ihrer Bemühungen um den syrischen Bibeldruck. Egidio da Viterbo (1469–1532, Schüler des Ficino, General der Augustiner-Eremiten, Kardinal) gilt dem Vf. als der Begründer des »Orientalism«. In einflussreicher Position verfügte er über die Mittel zur Förderung kabbalistischer Studien und über Beziehungen zu christlichen Kabbalisten (Reuchlin). Seine eigenen Schriften sind grundlegend für die Etablierung der christlichen Kabbalah. In seiner Historia viginti saeculorum verbindet er eine Geschichtsdeutung mit den zehn Sephirot (den zehn göttlichen Emanationen der Kabbalisten), die er in Beziehung zu den jeweils zehn Zeitaltern setzt, welche der Inkarnation Christi vorangehen bzw. nachfolgen.

Teseo Ambrogio (1469–1540, Ordenskanonikus von St. Johannes zum Lateran) war der erste Europäer, der die Kenntnis des Syrischen erwarb. Gelegenheit dazu bot die maronitische Delegation, die zum 5. Laterankonzil (1513–1515) nach Rom entsandt worden war. Seine Introductio ad chaldaicam linguam (1538) schließt eine mystisch-kabbalistische Deutung des syrischen Alphabets ein. Die Drucklegung seines syrischen Psalters schlug fehl. Bei der einzigen Begegnung (1529) mit dem jungen Widmanstetter überreichte Teseo diesem ein syrisches Evangelienbuch, was dieser als eine Verpflichtung zum Bibeldruck auffasste. – Moses von Mardin wurde 1549 vom syrisch-orthodoxen Patriarchen Ignatius III. Abdallah mit syrischen Manuskripten nach Rom entsandt, um den Druck syrischer Bibeln zu erreichen. Da diese Drucke für den Gebrauch in der orientalischen Heimat bestimmt waren, fehlt eine lateinische Übersetzung. Die editio princeps gleicht im Wesentlichen einem syrischen Bibelmanuskript in Sertoschrift mit liturgischer Rubrizierung und Kolophon.

Guillaume Postel (1510–1581; zeitweise Professor in Paris, für zwei Jahre Jesuit, Orientreisender, Sprachengenie): Seine Schriften über die orientalischen Alphabete und Sprachen (Linguarum duodecim characteribus differentium Alphabetum und De originibus seu de Hebraica Lingua, beide 1538) postulieren die Verwandtschaft und das hohe Alter besonders des Syrisch-Aramäisch-Hebräischen, was gerade sie für die Überlieferung kabbalistischer Mysterien qualifiziert. Schon seit 1537 arbeitete er an dem Druck eines syrischen Neuen Testaments. Seine praktischen Begabungen zeigten sich in der Herstellung von syrischen Drucktypen (auch für die editio princeps) und in seinen missionarischen Absichten.

J. A. Widmanstetter (1506–1557; Jurist, Diplomat in wechselnden Diensten, als Kanzler der österreichischen Länder schließlich im Dienst Ferdinands I., Superintendent der Universität Wien): Durch viele Reisen kam er mit den Gelehrten seiner Zeit in Berührung. Seine umfangreiche Handschriftensammlung (jetzt in der Bayerischen Staatsbibliothek) weist ihn gleichermaßen als klassischen Philologen, Hebraisten und christlichen Kabbalisten aus. Seine Beurteilung der kabbalistischen Methodik ist merklich nüchterner als die von Egidio da Viterbo oder G. Postel, kann aber nicht als Miss­trauen charakterisiert werden (der Vf. korrigiert auf den Seiten 162–169 eine auf G. Scholem zurückgehende Fehlinterpretation).

Andreas Masius (1514–1573; Jurist, Orientalist): Er ist nicht an der Entstehung der editio princeps beteiligt. Der Vf. behandelt ihn jedoch wegen seiner Kontakte zu Moses von Mardin und seiner Bedeutung für die damaligen orientalischen Studien.

Die Koinzidenz von verborgener Tradition und offenbarter christlicher Wahrheit tritt explizit in der editio princeps am Beginn des Johannesevangeliums in Erscheinung. Dort befindet sich eine ganzseitige Abbildung (laut Vf. von Postel konzipiert), die den se­phirotischen Baum der Kabbalah dem gekreuzigten Christus ge­genüberstellt (Abb. 10). Zwischen beiden ist der Evangelist Johannes beim Empfang der göttlichen Offenbarung abgebildet. Die zehn Sephirot sind durch Linien dem Corpus Christi zugeordnet (drei dem Kopf, sechs den fünf Wunden Christi, eine Sephira den Lenden). Zudem sind sie mit Symbolen versehen, welche die Göttlichkeit Christi, seine Passion und seine Funktion als Retter der Welt darstellen. Die fünf Wunden Christi beinhalten den sakramentalen Aspekt, die Verbindung zum Evangelisten Johannes scheint durch Joh 19,34–35 gegeben. Die Existenz und Bedeutung dieser Abbildung zu erklären, ist die eigentliche Absicht der vorliegenden Studie. Bedenkt man die praktische Bestimmung dieses Bibeldruckes, so blieben den christlichen Kabbalisten kaum Möglichkeiten, ihre Überzeugungen in das Buch einzuzeichnen. Die bildlich-symbolische Darstellung der Koinzidenz von verborgener Tradition und offenbarter christlicher Wahrheit verdichtet diese Überzeugungen auf engstem Raum. Es ist daher nicht zu beanstanden, dass der Vf. fünf vorangehende Abschnitte benötigt, um diese Überzeugungen herauszuarbeiten und auf die implizit in der Abbildung enthaltene Bedeutung hinzuführen.

Die Verbindung von Biographie, Bibliographie, Kabbalistik, katholischer Wissenschaft mit den beginnenden Rom-Kontakten der orientalischen Nationalkirchen zeigt dem Leser Zusammenhänge auf, die ihm einen wirklichen Erkenntnisgewinn bringen und zu weiterer Beschäftigung mit den katholischen Bibeldrucken des 15. bis 17. Jh.s anregen (s. dazu das Buch von demselben Vf., The Kabbalistic Scholars of the Antwerp Polyglot Bible, Leiden: Brill 2007). Nicht zuletzt verdient die klare und kompakte Darstellung des Vf.s Bewunderung; die große Fülle an Informationen und Belegen wird auf nicht einmal 200 Seiten dargeboten! Abschließend sei bemerkt, dass kürzlich ein Nachdruck der editio princeps (allerdings nur der Evangelien, zusammen mit Widmanstetters Syriacae linguae … prima elementa) erschienen ist: The Widmanstadt-Moses of Mardin editio princeps of the Syriac Gospels of 1555. A Facsimile Limited Edition with an Introduction by George A. Kiraz. Piscataway: Gorgias Press-NJ 2006.