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Ausgabe:

November/2009

Spalte:

1177–1179

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Moog-Grünewald, Maria [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart.

Verlag:

Stuttgart-Weimar: Metzler 2008. IX, 749 S. m. Abb. gr.8° = Der Neue Pauly. Supplemente, 5. Lw. EUR 179,95. ISBN 978-3-476-02032-1.

Rezensent:

Jörg Frey

Dieses Werk ist ein Ereignis. Ein Kompendium der antiken Mythologie unter Einschluss und Betonung der rezeptionsgeschichtlichen Perspektive, das Wirkung und Rezeption der wichtigsten Figuren der griechisch-römischen Mythologie bis in die Gegenwart in umfangreicheren Einzelartikeln präsentiert, füllt eine große Lücke. Denn der Ergänzungsband zum Neuen Pauly bietet nicht nur den Zugang zu den wichtigsten klassischen Zeugnissen der griechisch-römischen Mythologie (der vielen Zeitgenossen heute schwerer fällt als früheren Generationen), sondern anhand der ausgewählten Gestalten auch einen Durchgang durch die Wirkungs- bzw. Rezeptionsgeschichte von der Antike über Spätantike, Mittelalter, Frühe Neuzeit bis in die Gegenwart, wobei neben der Literatur, Bildenden Kunst und Musik nach Möglichkeit auch Philosophie, Literaturtheorie, Psychologie (z. B. Oidipos), Tanztheater und Film einbezogen werden.

Die Einschränkung ist vorab benannt: Der Band berücksichtigt keine historischen Figuren und keine reinen Personifikationen, keine mythischen Orte und keine geschichtlichen Ereignisse. Alexander den Großen und Kroisos findet man hier ebenso wenig wie Atlantis und Troja oder Gestalten außerhalb der griechisch-römischen Welt wie Anubis und Zoroaster. Doch wird zu den behandelten Gestalten eine außerordentliche Breite und Vielfalt von Rezeptionsformen geboten, die ihrerseits jeweils in ihren kulturhisto­rischen und ›mediengeschichtlichen‹ Kontext gestellt werden.

Die Breite kann nur exemplarisch vorgeführt werden. Ich wähle dazu den Artikel »Hermes« von Bernhard Huss, der mit acht zweispaltigen Seiten (344–351) einer der kürzeren Artikel des Bandes ist. Zur Antike werden zunächst (A1) Grundzüge des Mythos in Kult und Literatur vorgeführt, wobei nach den religionsgeschichtlichen Ursprüngen (»Gott der Herme, eines halbanthropomorphen Steinpfeilers«) die kultisch bedingten Rollen (Schutz der Tür, Schutzherr der Reisenden, Patron von Rednern, Athleten, Kaufleuten und Dieben), die vielfältigen Funktionen (Götterbote, Seelenbegleiter, Gott des Schlafs und Traums) und Attribute (Herolds- und Zauberstab, Reisehut oder Kappe, Flügelschuhe) und die Verbindung mit anderen mythischen Figuren zur Darstellung kommen, bevor dann einzelne Textblöcke (der letzte Gesang der Ilias, der homerische Hermes-Hymnus, der Merkur-Prolog in Plautus’ Amphitruo etc.) skizziert werden. Teil A2 bietet die vielfältigen Darstellungen in der antiken Kunst (Skulptur und Vasenmalerei) an ausgewählten Exempeln (Marmorplastik des Praxiteles, Hermes des Phidias und des Polyklet, der Sandalenbinder aus der Münchener Glyptothek).

Teil B bietet die Rezeption erst (B1) in Spätantike und Mittelalter, dann (B2) in der Neuzeit und (B3) in der Moderne. Hermes erscheint in der Antike als Mystagoge, gleichgesetzt mit dem ägyptischen Thoth als Hermes Trismegistos, was durch die Personifi­kation des Logos in der Gestalt des Hermes begünstigt wurde. Es folgen Hinweise auf das Corpus Hermeticum und Hermes als »Gralshüter einer mystizistischen, teils auch alchimistisch-magischen paganen Okkultkultur«, zur kritischen Bewertung bei Augustinus und der wesentlich weniger kritischen Rezeption des Hermes als heidnischen Zeugen für die christliche Wahrheit bei Laktanz und anderen, zur Rezeption in der mittelalterlichen Literatur als Götterbote, Gott der Muslime oder gar Hypostase des Teufels oder als Allegorie der Eloquenz im positiven wie auch im negativen Sinne z. B. in der Ovidemoralisé.

Die Darstellung der neuzeitlichen Rezeption beginnt mit der Renaissance, in der unterschiedliche antike Überlieferungselemente durch ›Vervielfältigung‹ der Merkur-Gestalt vermittelt (Boc­caccio) oder in Verbindung mit der Rezeption und Verbreitung des Corpus Hermeticum für eine platonische Philosophie vereinnahmt wurden (Ficino). Aus der großen Fülle der künstlerischen Rezeptionen werden u. a. das Fresco Raffaels und der sog. Medici-Merkur (mit Abb.) vorgeführt, dann die Dynamisierung des Reisemotivs im Augsburger Merkurbrunnen und Rubens’ Werk ›Merkur verläßt Antwerpen‹ etc., aus der späteren musikalischen Rezeption der (verlorene) Torneo ›Mercurio e Marte‹ von Monteverdi und ›La pace di Mercurio‹ von Traetta. Vergleichsweise knapp skizziert wird die Rezeption in der Romantik, in der Trismegistos zur »Berufungsinstanz für den ›authentischen‹ Ausdruck profunder seelischer und kosmologischer Wahrheiten« wird. Ausführlicher be­schrieben wird die Rezeption der Gestalt bei Thomas Mann (Tod in Venedig, Zauberberg, Joseph und seine Brüder) und I. Calvino so­wie die Rezeption in der Bildenden Kunst (bei A. Rodin und G. de Chirico) bis hin zur Rezeption einer Lithographie von O. Kokoschka zur Eröffnung eines Kaufhauses im Jahr 1969. Die Bestandsaufnahme der eher spärlichen neuzeitlichen Rezeption in Musik und Film reicht immerhin von Gustav Holsts ›The Planets‹ über E. Staies Ballett ›Mercure‹ bis hin zu Helmut Dietls Film ›Vom Suchen und Finden der Liebe‹ von 2004/05. Umfangreiche Hinweise auf die Literatur und Belege runden den Artikel ab.

Was hier exemplarisch gezeigt wurde, findet sich – der Sache entsprechend ausgestaltet – zu allen anderen Gestalten: Die breite musikalische Rezeption des Orpheus lässt sich so ebenso nachverfolgen wie die Bedeutung des Oidipos, nicht nur in der Psychoanalyse und Literaturtheorie, sondern auch in Musik und Film bis hin zu Loriots ›Ödipussi‹ (1988) und Wishnows ›Oedipus‹ (2004).

Erschlossen ist das Werk durch zwei umfangreiche Register: Das Verzeichnis der mythischen Figuren führt auch zu den Gestalten, die nicht durch eigene Artikel vertreten sind (wie z. B. Oura-­nos, Tantalos, Hades etc.); das Register der Personen verzeichnet die antiken und späteren Autoren von Aischylos bis Zenon und von Giorgio Agamben bis Huldrych Zwingli, so dass sich von hier aus ein (zumindest eklektischer) Zugang zur Rezeption antiker Mythen bei einzelnen Rezipienten wie Claudio Monteverdi oder Heiner Müller ergibt. Für alle, die an den Wurzeln und Metamor­phosen der abendländischen Kultur interessiert sind, ist dieses Werk eine fast unerschöpfliche Quelle von Information. Man würde sich wünschen, dass Ähnliches – gleichermaßen knapp präsentiert – auch für die kulturgeschichtliche Rezeption der historischen Gestalten und geschichtlichen Ereignisse vorläge – und analog für die Gestalten und Kern-Erzählungen der biblischen Tradition. Der Herausgeberin und den Autoren ist für diesen brillanten Band sehr zu danken. Dieser sollte zur Standardausstattung jeder kulturgeschichtlichen Bibliothek und Handbibliothek gehören.